David und Goliath
Was ist besser: ein kleines, flexibles Unternehmen oder eines, das auf Größe setzt? Im Idealfall profitiert ein großes Unternehmen von seiner Bekanntheit, seiner Marktmacht und dem ausgebauten Vertriebsapparat. Oft stehen sich solche Organisationen jedoch selbst im Weg, weil die Komplexität mit der Größe zunimmt und Kosteneinsparungen sowie Skaleneffekte nicht realisiert werden. Die Unternehmen müssen ihre Flexibilität gegenüber den Kundenwünschen zurückfahren und eine klare Organisationsstruktur mit verbindlichen Regeln schaffen.
„Jedes erfolgreiche Kleinunternehmen überschreitet früher oder später die kritische Betriebsgröße. Management auf Zuruf reicht dann nicht mehr aus, um die durch Flexibilität erzeugte Komplexität zu meistern.“
Das Erfolgsgeheimnis der Kleinen ist ihre Flexibilität: Sie bieten maßgeschneiderte Lösungen an, reagieren rasch auf Änderungswünsche und können eine Fülle von Nebenleistungen erbringen. Der Gründer bzw. Inhaber dominiert das Geschehen und entscheidet ohne lange Dienstwege. Das Geschäft funktioniert mittels „Management auf Zuruf“: Wegen der kurzen Kommunikationswege entsteht kein erheblicher Koordinationsaufwand. Damit alles reibungslos abläuft, sind leistungsorientierte, belastbare und teamorientierte Mitarbeiter gefragt. Wichtig sind auch ein Wir-Gefühl, eine gemeinsame Sprache (Betriebsjargon) und Mitarbeiter, die sich gut kennen. Am besten sitzen die Angestellten räumlich nahe beieinander. Studien haben nämlich gezeigt, dass bei einer Arbeitsplatzdistanz von nur zehn Metern die Kommunikation um 90 % abnimmt.
Gefährliches Wachstum
Ab einer gewissen Mitarbeiterzahl funktioniert das Management auf Zuruf nicht mehr. Wo liegt die kritische Größe? Im Baugewerbe sind es etwa 20–40 Mitarbeiter, im Einzelhandel können es bis zu 100 sein. Ausschlaggebend ist die Anzahl derjenigen, die beim Management auf Zuruf direkt beteiligt sind: das operative Kernteam. Erreicht ein Kleinunternehmen die kritische Größe, hat es ein Problem: Die Flexibilität ist dahin, doch die Vorteile eines Großunternehmens fehlen noch.
„Die Unternehmen haben zu entscheiden, ob sie flexibel und klein bleiben oder strukturiert und groß sein wollen.“
Wachsen wollen alle. Größe wird mit mehr Gewinn gleichgesetzt. Allerdings konnte eine Untersuchung der Otto Beisheim School of Management im Zeitraum 1990–2002 keinen positiven Zusammenhang zwischen Wachstum und Erfolg feststellen. Die Untersuchung von 600 Industriebetrieben zeigte: Will ein wachsendes Kleinunternehmen seine Flexibilität behalten, bedeutet das organisatorischen Mehraufwand, größere betriebliche Hektik, steigende Fehleranfälligkeit und zunehmende Reibungsverluste.
Typen von Komplexität
Komplexität können Sie jeden Tag im Verkehrsstau beobachten: Es wird gedrängelt, die Spur gewechselt und damit alles blockiert. Im Unternehmen zeigt sich unbewältigte Komplexität darin, dass der Überblick verloren geht, Zuständigkeiten ungeklärt bleiben und Maßnahmen zur Effizienzsteigerung ergebnislos verpuffen. Komplexität entsteht durch Vielfalt, d. h. dann, wenn Altes nicht durch Neues ersetzt wird, sondern Neues neben Altem existiert. Vier Arten der Komplexität machen dem Unternehmen in diesem Fall zu schaffen:
- Marktkomplexität ergibt sich aus einer Vielzahl an Kundensegmenten und Absatzkanälen sowie aus der Zyklizität und Saisonalität der Märkte. Der Marketing- und Vertriebsaufwand steigt.
- Produktkomplexität tritt auf, wenn sich die Produkte von Markt zu Markt unterscheiden. Dies führt zu höheren Ausgaben für Marketing, Vertrieb, Fertigung und Angebotslegung. Die Produktkomplexität lässt sich durch Modularisierung der Produkte eindämmen.
- Prozesskomplexität bedeutet, dass Methoden und Prozesse ständig punktuell angepasst und erweitert werden. Minimieren Sie die Schnittstellen und bündeln Sie die Zuständigkeiten bei möglichst wenigen Personen.
- Organisationskomplexität entwächst der Markt-, Produkt- und Prozesskomplexität. Sie zeigt sich an Mehrspurigkeiten und Überlastungen in allen Bereichen.
Heterogene Kunden und Produkte
Es ist ein Teufelskreis: Komplexität erzeugt sich selbst. Ist etwa die Kundenbasis wenig homogen, braucht es mehr Produktvarianten. Komplexitätstreiber Nummer eins ist daher eine heterogene Kundenbasis. Kunden sind heutzutage nicht mehr mit einem Standardprodukt zufrieden, sondern wollen auf sie zugeschnittene Lösungen. Kommt das Unternehmen jedem Kundenwunsch nach, anstatt seine Ziele zu fokussieren, verschwendet es Energie und die Marktkomplexität nimmt zu.
„Das Geheimnis der Komplexitätsreduktion liegt in der Entflechtung und Entkopplung.“
Eine heterogene Kundenbasis bringt Unternehmen in die Bredouille: Sie müssen eigene Varianten kreieren, auf kulturelle Gepflogenheiten Rücksicht nehmen, viele Sprachen sprechen und alternative Preis- und Liefermodelle anbieten. Die daraus entstehende breite Produktpalette ist der Komplexitätstreiber Nummer zwei. Sie denken vielleicht, die Kundenzufriedenheit sei wichtiger als alles andere, doch übersehen Sie die Mehrkosten der vielen Produktvarianten in der Entwicklung, der Produktion, der Logistik und der Verwaltung nicht. Wie rasch ein paar Zugeständnisse an die Kunden überhandnehmen können, zeigt das Beispiel des Automobilherstellers VW: In den 1970er Jahren hatte der Kunde die Wahl zwischen vier Modellen, und er konnte seine Wünsche in Bezug auf die Motorleistung, die Innenausstattung und die Lackierung äußern. 2008 waren es bereits 14 Modelle, und Sonderwünsche wurden zudem bei der Karosserie, den Technikkomponenten, der Lackierung, den Felgen und sogar der Fenstertönung berücksichtigt. Am Ende gleicht kein Auto dem anderen – und die Komplexität ist nicht mehr zu handhaben.
Prozessvielfalt und Verzettelung
Die wachsende Prozessvielfalt ist der Komplexitätstreiber Nummer drei. Lässt man den Mitarbeitern die Freiheit zu wählen, auf welche Art und Weise sie ihre Aufgaben erfüllen, wird sich keine Effizienz einstellen – Effizienz braucht Wiederholung! Es entstehen vielmehr „Spaghetti-Prozesse“ mit unzähligen Schnittstellen, bei denen der Überblick verloren geht. Vielleicht meinen Sie es gut, wenn Sie die Mitarbeiter an der Prozessfindung teilhaben lassen. Doch damit erreichen Sie nur, dass jede Abteilung ihre eigenen Abläufe optimiert und das Unternehmen als Ganzes vernachlässigt wird.
„Je größer die Komplexität wird, desto geringer sind die Handlungsspielräume des Unternehmens.“
Vierter und letzter Komplexitätstreiber schließlich ist die Verzettelung. Die funktionale Organisation, die sich an den Fachkompetenzen ausrichtet, birgt die Gefahr unnötiger Schnittstellen. Die personenbezogene Organisation ist nicht viel besser. In diesem Fall richtet sich das Unternehmen nach verdienten Einzelpersonen. Zuständigkeitskonflikte und Mehrspurigkeiten sind vorprogrammiert.
Weg mit Ladenhütern und Extrawürsten
Krempeln Sie die Ärmel hoch, entflechten und entkoppeln Sie! Setzen Sie bei der Marktkomplexität an, indem Sie sich auf eine bestimmte Kundengruppe konzentrieren. Schneiden Sie Ihre Produkte auf die Bedürfnisse dieser konkreten Einheit zu. Standardisieren Sie Ihr Angebot zur Senkung der Produktkomplexität, und bieten Sie dann Module von voneinander unabhängigen Leistungen an. Nehmen Sie sich ein Beispiel an der Systemgastronomie: Dort gibt es nur wenige Hauptspeisen, doch der Kunde kann unter einem reichhaltigen Angebot an Beilagen und Getränken wählen. Also weg mit den Ladenhütern und den Extrawürsten!
„Die Vorteile von Wachstum und Arbeitsteilung können nicht Schritt halten, d. h. die Volumeneffekte werden durch die rascher steigenden Koordinationskosten kompensiert.“
Was Sie brauchen, sind durchgängige, verbindliche Prozesse mit so wenigen Schnittstellen wie möglich, denn bei jeder Schnittstelle geht ein Teil der Informationen verloren. Die Organisationsstruktur und die Prozesse müssen aufeinander abgestimmt sein. Wählen Sie eine kundenorientierte Einlinienorganisation, in der jeder Mitarbeiter nur einer Stelle berichtspflichtig ist. Es darf hinsichtlich der Aufgaben keine Überschneidungen geben. Im besten Fall ist ein Prozess in nur einer Organisationseinheit zusammengefasst, die einen von anderen Einheiten unabhängigen Aufgabenbereich betreut.
Auf die Schnittstellen kommt es an
All diese Lösungsansätze lassen sich auf einen gemeinsamen Nenner bringen: das Schnittstellenmanagement. Damit die Schnittstellen effizient sind, darf es an ihnen keine Rollenmissverständnisse unter den Beteiligten geben. Es muss klar sein, welche Aufgaben der Kunde, welche der Lieferant und welche das Unternehmen übernimmt. Damit haben Sie das Außenverhältnis geklärt und brauchen sich um die Prozesse beim Kunden nicht mehr zu kümmern. Zur Festlegung der Rollen im Innenverhältnis bestimmen Sie einen Ansprechpartner für die Kunden. Klären Sie, wer etwa für Angebotsinhalt und Preisfindung, für die Erreichung des Gewinnziels und für die Lieferantenauswahl zuständig ist.
„Ein Unternehmen, welches seine Geschäftsprozesse durchgängig und mit der Auftraggeber-Auftragnehmer-Beziehung festgelegt hat, gewinnt strategische Manövrierbarkeit.“
Führen Sie auch im Innenverhältnis Auftraggeber-Auftragnehmer-Beziehungen ein. Hat eine Abteilung eine Schnittstelle zu einer anderen, gelten dieselben Regeln wie bei Unternehmensfremden: Aufträge sind verbindlich und sollten nicht mehr verändert werden. Prüfen Sie deshalb im Voraus, ob der Auftrag verständlich, vollständig, richtig und machbar ist. Problematisch wird es, wenn eine Aufgabe bzw. ein Auftrag von mehreren Abteilungen bearbeitet wird. Wer ist dann der Auftraggeber? Wer der Auftragnehmer? Und vor allem: Wer übernimmt die Verantwortung, wenn etwas schiefläuft?
„Nicht alle Unternehmen schaffen den Sprung aus freier Einsicht. An einigen Orten braucht es vorgängig eine Unternehmenskrise.“
Soll das Unternehmen eine Wertschöpfungsmaschine werden, denken Sie es sich als Blackbox, die nach Geschäftsprozessen in mehrere kleinere Blackboxes unterteilt ist. Diese sind miteinander durch Auftraggeber-Auftragnehmer-Beziehungen verbunden.
Groß werden oder klein bleiben?
Management auf Zuruf mit größter Flexibilität kann in Kleinunternehmen wunderbar funktionieren. Bei Großunternehmen allerdings führt es ins Chaos. Ist ein kleines Unternehmen erfolgreich, stellt sich unweigerlich die Frage, ob es lieber klein und flexibel bleiben oder groß und strukturiert werden möchte – einen Mittelweg gibt es nicht. Die Umstellung von Management auf Zuruf zum strukturierten Management verändert die Rollen diverser Mitarbeiter auf allen Ebenen des Unternehmens empfindlich. Deshalb stellt das Management die Frage selten von sich aus, sondern erst, wenn eine Unternehmenskrise die Entscheidung notwendig macht.
„An der Unternehmensspitze muss sich ein Team formieren, welches sich der Thematik annimmt, den umfassenden Handlungsbedarf akzeptiert und in der Lage ist, ein großes Unternehmensentwicklungsprojekt voranzutreiben.“
Wenn Sie sich für die Option „groß und strukturiert“ entschließen, machen Sie sich auf einige Veränderungen gefasst. Ab sofort sind Vereinbarungen verbindlich und können nicht mehr spontan verworfen werden. Sie müssen prägnant sein, damit Missverständnisse ausgeschlossen werden. Das Unternehmen muss strategisch entscheiden, welche Märkte es wie bearbeiten möchte. Daraus entwickelt sich dann das Produktportfolio mit standardisiertem Leistungskatalog. Das Management einigt sich weiterhin auf verbindliche Prozesse und darüber, wer in welchen Abteilungen welche Aufgaben hat. Bauen Sie darauf Ihre Organisationsstruktur mit einfachen Schnittstellen auf.
„Zusammen mit vielen Wissensträgern, den Kollegen aus der Basis, werden Lösungen so detailliert, dass sie breit abgestützt sind.“
Siedeln Sie das Projekt an der Unternehmensspitze an und binden Sie die betroffenen Mitarbeiter – bzw. die Schlüsselleute – so früh wie möglich ein. Das Steuerungsteam für die Grobkonzeption wird aus acht bis zwölf Personen aus dem Management bestehen. Weitere 20–30 Personen aus der Basis arbeiten dann an den Details und den Teilprojekten. Erfahrungsgemäß benötigt der Wandel zum strukturierten Management etwa zwei Jahre.