Erfolgreiche Aufholjagd
Unternehmen durchlaufen Zyklen: Entweder sie geraten durch unvorteilhafte äußere Umstände in eine lebensbedrohliche Krise − oder durch eigenes Verschulden. Gerade im Automobilsektor ist der Wettbewerb hart. Das Beispiel eines rheinland-pfälzischen Zulieferers, der statt auf Restrukturierungsmaßnahmen auf altbewährte Tugenden gesetzt hat, macht deutlich: Die Metamorphose zum einem Top-Unternehmen ist jederzeit möglich – auch aus der Krise heraus.
„Firmensanierung basiert zu 90 % nicht auf Einsparung, sondern auf technischen Kennzahlen.“
Am Ende einer zweijährigen Turnaround-Phase stand der Gewinn mehrerer in der Automobilzuliefererbranche angesehener Auszeichnungen, darunter der „Sonderpreis Best Practice Lean Start-up“. Das Unternehmen avancierte innerhalb eines Jahres vom C-Lieferanten – die unterste Kategorie bei Zulieferern – zum A-Lieferanten, wodurch es auf einen Schlag in das Portfolio zweier global tätiger Automobilhersteller aufrückte. Der Turnaround war geschafft.
Organisieren der Organisation
Wie war das innerhalb so kurzer Zeit möglich? Der Weg von der Theorie zur Praxis sah konkrete Maßnahmen vor. Punkt eins: Organisieren. Ein Unternehmen besteht aus Menschen, und das große Ganze ist die Organisation. Um diese möglichst schlank („lean“) zu halten, muss jeder Einzelne seine Verantwortlichkeiten und Aufgaben genau kennen. Er muss wissen, wer sein Kunde ist und welche Abteilungsziele (oder auch individuellen Ziele) als Messlatte veranschlagt sind. Die so genannte Teamratio, das Verhältnis zwischen Teamführer und Teammitgliedern, sollte in einem vernünftigen Rahmen liegen, etwa eins zu 15.
Train the Trainer
Die Belegschaft muss auf die anstehende Turnaround-Situation vorbereitet werden. Damit befasst sich Punkt zwei: Trainieren. Zunächst bedarf es eines „Trainers“. In der Regel ist das ein externer Fachmann, der die Mitarbeiter in einem mehrtägigen Seminar auf die anstehenden Veränderungen vorbereitet.
„Heute besser als gestern – und morgen besser als heute.“
Darüber hinaus müssen Sie eine neue Funktion schaffen: den „Lean-Agenten“. Er sollte einer der Besten aus Ihrer Führungsmannschaft sein. Auf ihn überträgt sich das Train-the-Trainer-Prinzip, dem zufolge kaskadenförmig jede neu gelernte Maßnahme von oben nach unten weitergegeben wird.
Jede neue Maßnahme kann im Rahmen von Pilotprojekten zunächst einmal geübt werden. Erst im Anschluss, mit den zuvor gewonnenen Erfahrungen, sollten neue Methoden oder Techniken auf die gesamte Fabrik übertragen werden. Vergessen Sie nicht, sämtliche Trainings innerhalb eines vernünftigen Rahmens wiederholen zu lassen. Ein wichtiger Tipp: Übertragen Sie die Funktion des Lean-Agenten auf keinen Fall jemandem, der sonst womöglich beschäftigungslos wäre. Der Lean-Agent muss einer Ihrer besten Köpfe sein, ein Spezialist, der sich fortan voll und ganz auf diese Schlüsselrolle konzentrieren kann.
Mitmachen und mitgestalten
Verbesserungen liest man an Standards ab, Standards wiederum an Scorecards. Darum geht es in Punkt drei: Standardisieren. Als Firmenlenker müssen Sie für einen kontinuierlichen Tagesablauf sorgen. Nur so lässt sich eine Vergleichsbasis erstellen. Der Lean-Agent hat dann die Umsetzung der Verbesserungen im Tagesgeschäft zu verantworten. Er muss seine Aufgabe mit Herzblut erledigen und sich voll mit ihr identifizieren.
„Ohne Standards gibt es keine Verbesserung.“
Das Herzstück des Turnaround-Prozesses ist der Implementierungsvorgang, bei dem Sie die graue Theorie in den Alltag umsetzen. Der Lean-Agent erstellt dazu einen Aktionsplan, der auflistet, wer welche Aufgabe bis wann zu erledigen hat. Noch davor sollten Sie als Vorstand, Geschäftsführer oder Werkleiter daran denken, eine Eröffnungsansprache zu halten. Ermuntern Sie Ihre Mitarbeiter, Vorschläge und Kritik jederzeit äußern zu können. Implementation lebt vom Mitmachen.
Der 5S-Prozess
Beim 5S-Prozess (Sortieren, Stabilisieren, Sauberkeit, Standardisieren, Selbstdisziplin) stehen Sauberkeit und Ordnung im Vordergrund. Beides sind keine Alibi-Beschäftigungsmaßnahmen, sondern die Grundlage zur Vermeidung von Übel aller Art, speziell in einem Zuliefererbetrieb.
„Der Mensch ist mittlerweile die einzige natürliche Ressource, über die wir in Deutschland verfügen.“
Wichtig ist, dass Sie rigoros alles aussortieren, was Sie nicht mehr gebrauchen können. Setzen Sie sich eine zeitliche Frist, kennzeichnen Sie die fraglichen Dinge und entsorgen oder verschrotten Sie sie dann. Vergessen Sie nicht die Pausenecken, die Kantine, die Umkleideräume etc. Ihre Mitarbeiter sollten sehen und spüren, dass Sie Sauberkeit und Ordnung wirklich ernst nehmen. Dokumentieren Sie das! Machen Sie Fotos vom Vorher- und Nachher-Zustand.
„Informieren Sie zunächst den Betriebsrat und dann die gesamte Belegschaft über Ihr Vorhaben. Ab dann haben Sie sich selbst unter Zugzwang gestellt. Es gibt kein Zurück mehr!“
Bekämpfen Sie auf jeden Fall eines der weiteren Grundübel einer Fabrik: Verschwendung. Machen Sie regelmäßige Rundgänge mit Ihrem Abteilungsleiter, um Sünden in diesem Bereich aufzudecken. Die unangenehmen Folgen von Verschwendung dürften Ihnen bekannt sein: Überproduktion, lange Warte- und Rüstzeiten, fehlerhafte Teile, vermeidbare Reparaturen oder auch Übertechnisierung. Schlecht organisierte Firmen ohne schlanke Fertigung kommen auf ein Verhältnis zwischen Verschwendung und Wertsteigerung von 10 000 zu eins – japanische Unternehmen dagegen durchschnittlich auf eines von 400 zu eins. Überlegen Sie auch, auf welche überflüssigen Maschinen Sie künftig verzichten können.
Zeigen Sie, was Sie geschafft haben
Ihre Vorher-Nachher-Fotos mögen den Veränderungsprozess dokumentieren. Nach außen sichtbar wird er allerdings erst, wenn Sie einen konkreten Anlass, beispielsweise ein Betriebsfest, nutzen, um die Veränderung zu kommunizieren. Laden Sie – sofern vorhanden – Ihre Konzernspitze, Ihre Geschäftspartner, Ihre Kunden und Ihre Zulieferer ein. Sie alle sollten sehen, wie aus einem hässlichen Entlein ein schöner Schwan werden kann. Aber bleiben Sie ehrlich und betrügen Sie sich trotz allen Fortschritts am Ende nicht selbst. Der Erfolg wird für Ihre Gäste sicher erkennbar sein.
Qualitätszentrum
Schaffen Sie einen Raum, in dem Sie (oder Ihr Lean-Agent) sich regelmäßig mit wichtigen Mitarbeitern versammeln, um mögliche Qualitätsprobleme zu besprechen. Hinterfragen Sie, weshalb ein Problem mit Teil X besteht. Vergessen Sie nicht die Frage nach der Lösung. Was schlagen Ihre Mitarbeiter vor? Sie sind es schließlich, die sich am besten mit der Maschine oder dem Prozess auskennen. Im Team besprechen Sie dann, wie man fortfahren soll.
Zielvorgaben
Nutzen Sie ein Datenerfassungssystem für die wichtigsten Kennzahlen zur Arbeitssicherheit, zur Qualität, zum Wertstrom, zu den Kosten sowie zu moralischen und ökologischen Aspekten. Dazu gehört als Ausgangsbasis eine Scorecard mit den Daten und einem Schätzwert, der ein gemeinsames Ziel für beispielsweise die nächsten zwölf Monate sein soll. Die Abteilungs-, Team- und individuellen Ziele müssen fortan laufend überprüft werden. Schreiten Sie ein, sobald sich Abweichungen ergeben. Sie können die Zielerreichung an ein Prämiensystem knüpfen. Wenn nötig, sollten Sie interne oder externe Schulungen in Erwägung ziehen.
Kein Platz für Zufall
Nicht akzeptabel ist, wenn es nach einem Arbeits- oder Beinaheunfall heißt, menschliches Versagen oder Unachtsamkeit seien dafür verantwortlich gewesen. Suchen Sie technische Lösungen, die eine Wiederholung so unwahrscheinlich wie möglich erscheinen lassen. Ratsam ist es zudem, eine Fachkraft eigens für Arbeitssicherheit, Ergonomie und Umwelt von ihrer sonstigen Arbeit freizustellen. Lassen Sie beispielsweise Ihre Teams die potenziell größten Arbeitssicherheitsrisiken benennen – und vermindern Sie diese dann durch vorbeugende Maßnahmen.
„Vergessen Sie nicht, Fotos vom Zustand Ihres Unternehmens vor dem Aussortieren und Aufräumen und von der Ordnung danach zu machen.“
Nehmen Sie eine lange Zeitspanne ohne Unfälle auch mal zum Anlass, ein Frühstück für die unfallfreie Abteilung zu spendieren oder entsprechende Kennzahlen ebenfalls an das Entgeltsystem zu binden. Damit zeigen Sie Ihren Beschäftigten, wie ernst Sie es meinen. Gleiches gilt für die Qualität Ihrer Produkte oder die Wertschöpfung (Umwandlung von Rohmaterial in Fertigprodukte). Neue Abteilungsrekorde sollten Sie ausgiebig würdigen und publik machen.
Das Informationszentrum
Richten Sie als Herzstück Ihres Veränderungsprozesses ein Informationszentrum ein. Vorteilhaft ist es, wenn sich dieses mitten in den Produktionsräumen befindet – schließlich treten dort auch die Probleme auf; dort werden Werte geschaffen oder vernichtet.
„Es ist besser, Entscheidungen zu treffen, auch auf das Risiko hin, dass Fehlentscheidungen dabei sein mögen, als gar keine Entscheidungen zu treffen.“
Lassen Sie es im Informationszentrum aber nicht zu bequem zugehen: Besprechungen sollten effektiv, zielgerichtet und kurz abgehalten werden. An den Wänden können Sie Tafeln aufhängen, auf denen die aktuellen Kennzahlen stehen. Vermitteln Sie Ihren Mitarbeitern, dass sie von Ihnen Unterstützung bekommen, wenn sie diese benötigen. Als Grundregel sollte der Werkleiter zu mindestens 60 % im Betrieb anzutreffen sein, der Meister aber zu 100 %.
„Im Informationszentrum steht lediglich ein ovaler Stehtisch zur Verfügung, damit Besprechungen so kurz wie möglich erfolgen.“
Eine ähnliche Symbolkraft kann eine „Zukunftswerkstatt“ ausstrahlen. Richten Sie diese in der Nähe Ihres Informationszentrums ein. Täglich zu einem festen Zeitpunkt treffen sich dort einige Spezialisten, z. B. die besten Elektriker oder Mechaniker, um Ideen auszutauschen und Aktivitäten zu besprechen. Im Anschluss können sie bei einem Rundgang den Mitarbeitern vor Ort ihre Ideen weitergeben. Die hellsten Köpfe sollten es auch sein, die Sie monatlich zu Innovationsmeetings laden. Dort präsentieren sie mögliche Neuerungen und ergründen Wege, wie diese in die tägliche Praxis umgesetzt werden könnten.
Definieren Sie Teams
Zeitgleich zu den ersten Trainingsmaßnahmen sollten Sie Teamstrukturen einführen, wobei Sie das Train-the-Trainer-Prinzip als Grundlage nehmen. Beziehen Sie ruhig – falls vorhanden – den Betriebsrat mit ein. Auch er muss schließlich den Veränderungsprozess mittragen.
„Der Standort des Informationszentrums inmitten der Produktion hat hohe Symbolkraft.“
Das darf aber nicht so weit führen, dass Teambesetzungen sozialen Kriterien unterworfen werden. Ihre Team-Leader sollten auch wirklich Ihre Besten sein. Lassen Sie das Pilot-Team vom engagierten externen Fachspezialisten Ihres Vertrauens am Wochenende trainieren. Dieses Team gibt in der Folge sein neu erworbenes Wissen und seine Fertigkeiten der gesamten direkten und indirekten Belegschaft weiter, die ebenfalls in Teams eingeteilt ist.
Durchhalten!
Auf Widerstand werden Sie im Veränderungsprozess unweigerlich stoßen. Manche Mitarbeiter werden geschockt reagieren, wenn Sie diese oder jene Veränderung konkret einfordern. Genauso gut kann eine Veränderung aber in Spaß am Mitmachen umschlagen, wenn der Prozess erst einmal angelaufen ist.
„Das Unternehmen sicherte sein Überleben allein dadurch, dass Kunden von seinen Produkten abhängig waren und nicht ohne Weiteres einen anderen Hersteller suchen konnten.“
Ein mentaler Tiefpunkt wird erfahrungsgemäß erreicht, wenn der Veränderungsprozess mit seinen Folgen der Belegschaft richtig bewusst wird. Dann gilt es eisern durchzuhalten, und dabei hilft nur eines: Sie müssen als Werkleiter, Fabrik- oder Konzernchef mit bestem Beispiel vorangehen.