Das Gilgamesch-Epos

Buch Das Gilgamesch-Epos

Mesopotamien, Drittes Jahrtausend v. Chr.
Diese Ausgabe: Reclam,


Worum es geht

Ein ar­che­typ­is­cher Held

Ein gut aussehender und priv­i­legierter junger Mann glaubt, sich alles erlauben zu können. Er holzt einen geschützten Wald ab und stößt auch noch eine glühende Verehrerin vor den Kopf. Diese rächt sich und treibt den Freund des Geliebten in den Tod. Jetzt wird ihm seine eigene Sterblichkeit bewusst – und er macht sich auf die Suche nach dem ewigen Leben. Das Gil­gamesch-Epos ist fast 5000 Jahre alt und damit die älteste bekannte Dichtung überhaupt. Das Epos über den rastlosen König stammt aus der Zeit, als die Sumerer im Zweistrom­land die ersten Städte der Menschheit gründeten und die Schrift erfanden. Gilgameschs Geschichte überdauerte den Aufstieg und Untergang unzähliger Kulturen, Sprachen und Schrift­for­men. Unter geändertem Namen strandete er mit seiner Arche im Alten Testament. Und heute feiert ihn die Avantgarde gar als ersten schwulen Helden der Geschichte. Was ihm im Epos selbst verwehrt bleibt – Un­sterblichkeit – erlangt er in der kollektiven Erinnerung. Seine jahrtausende­lange Reise hat er auch ohne künstliche Verjüngungskuren erstaunlich gut überstanden.

Take-aways

  • Das Gil­gamesch-Epos ist der älteste bekannte lit­er­arische Text der Menschheit.
  • Inhalt: Die Götter stellen König Gilgamesch den Halbwilden Enkidu zur Seite. Gemeinsam töten die beiden ein Wal­dunge­heuer und den Him­melsstier. Enkidu muss zur Strafe sterben. Verzweifelt reist Gilgamesch bis ans Ende der Welt, um unsterblich zu werden – ohne Erfolg. Geläutert kehrt er schließlich in seine Heimat Uruk zurück.
  • Das Epos behandelt die Urthemen der Dichtung: Liebe, Macht, Tod und die Frage nach dem Sinn des Lebens.
  • Gilgamesch lernt, dass der Mensch nur durch seine Taten unsterblich wird.
  • Erste Geschichten über Gilgamesch kursierten im dritten Jahrtausend v. Chr. in Südme­sopotamien.
  • Der Gelehrte Sin-leqe-un­nini soll das Epos um 1100 v. Chr. auf zwölf Tontafeln zusam­menge­fasst haben.
  • 1872 tauchte unter dem Schutt der antiken Bibliothek von Ninive der Sint­flut­bericht aus dem Epos auf. Er stimmt mit der biblischen Version in vielen Details überein.
  • Gilgamesch ist heute für viele Fantasy- und Comicfans eine Ikone der Popkultur.
  • Autoren wie Thomas Mann, Hans Henny Jahnn und Philip Roth verwendeten Motive des Epos in ihren Werken.
  • Zitat: „Komm, mein Freund, gemeinsam wollen wir vo­ran­schre­iten! Rüste dich zum Kampfe, vergiss den Tod, suche das Leben!“
 

Zusammenfassung

Gilgamesch und Enkidu

Der König der Stadt Uruk, Gilgamesch, ist zu zwei Dritteln göttlich und zu einem Drittel menschlich. Er ist der größte und schönste Mann weit und breit. Sein Bart glänzt wie Lapislazuli und sein Haar wächst so dicht wie Getreide. Doch Gilgamesch tyran­nisiert seine Untertanen und zwingt junge Leute zur Fronarbeit. Söhne sehen ihre Väter nicht mehr, Töchter werden von ihren Müttern getrennt und Jungfrauen von ihren Geliebten. Die Menschen flehen die Götter an, einen ebenbürtigen Rivalen für Gilgamesch zu erschaffen.

„Gilgamesch, der die Tiefe auslotete, die Gründung des Landes, der Entlegenes wusste, alles verstand (...)“ (S. 35)

Die Schöpfergöttin Aruru wirft daraufhin Lehm in die Steppe und erschafft Enkidu, einen riesengroßen, am ganzen Körper behaarten Mann. Er frisst Gras und trinkt die Milch wilder Tiere. An der Tränke erblickt ihn ein Jäger. Dieser erstarrt zunächst vor Furcht, wird jedoch nach ein paar Tagen wütend, da Enkidu seine Fallen zerstört und das Wild entkommen lässt. Man rät ihm, die üppige Dirne Schamchat aus Uruk zu holen: Sie soll den ver­wilderten Enkidu verführen und ihn so in die Gemein­schaft der zivil­isierten Menschen eingliedern. Kaum sieht Schamchat Enkidu an der Tränke, öffnet sie furchtlos ihr Gewand und zeigt ihm ihre Brüste. Der Wilde kann nicht lange widerstehen. Die beiden schlafen sechs Tage und sieben Nächte lang miteinander. Als Enkidu danach zu den wilden Tieren zurückkehrt, laufen sie vor ihm davon. Schamchat überredet ihn, mit ihr nach Uruk zu kommen, wo Gilgamesch wie ein wildes Tier herrsche. Enkidu gefällt der Gedanke, denn er sehnt sich nach einem Freund. Er plant, Gilgamesch her­auszu­fordern, damit dieser ein besserer König werde.

Der erste Kampf

Unterdessen berichtet Gilgamesch seiner weisen Mutter Ninsun von zwei Träumen: Erst sei ein Meteor vom Himmel gefallen und das ganze Land habe sich darum versammelt. Dann habe auf der Straße von Uruk eine Axt gelegen, und wieder seien viele Leute her­beig­er­annt. Er habe beides hochgehoben, liebkost und seiner Mutter den Meteor und die Axt vor die Füße gelegt. Ninsun prophezeit ihrem Sohn, dass er einen starken Freund bekommen werde, dessen Wirkungen gewaltig seien. Sie werde ihn wie ihren eigenen Sohn behandeln.

„Sechs Tage und sieben Nächte war Enkidu auf und beschlief die Schamchat, bis er satt war davon, sie zu genießen.“ (S. 42)

In einem Hirtenlager nahe der Stadt werden Enkidu Brot und Bier angeboten. Nach anfänglichem Misstrauen trinkt er sieben Krüge. Er fühlt sich befreit und beginnt laut zu singen. Am nächsten Tag erzählt ihm ein Mann auf dem Weg zu einer Hochzeit, dass Gilgamesch sein Recht, als Erster mit der Braut zu schlafen, wahrnehmen wolle. Enkidu wird wütend, geht in die Stadt und stellt sich Gilgamesch vor dem Hochzeit­shaus in den Weg. Die beiden kämpfen, dass die Stadtmauern erzittern. Sie hören erst auf, als Ninsun schlichtend zwischen sie tritt. Nun fassen sich die Männer an den Händen. Gilgamesch schlägt vor, gemeinsam zum Zedernwald zu gehen und den Wächter des Waldes, Chumbaba, zu töten. Enkidu hat Bedenken. Er hat von dem dunklen Wald und dessen schreck­lichem Gott gehört und glaubt, auf einen Schlag zu erlahmen, wenn er sich dorthin vorwage. Aber Gilgamesch winkt ab: Der Mensch sei vergänglich, und deshalb müsse er sich zu Lebzeiten mit seinen Heldentaten einen Namen machen.

Der Marsch zum Zedernwald

Bei den Waf­fen­schmieden geben die beiden furchtbare Kampfgeräte in Auftrag: Ihre Äxte und Schwerter sollen jeweils sieben Talente wiegen und ihre Gürtel ein Talent. Der Ältestenrat meldet Zweifel am Sinn der Expedition an, doch am Ende geben seine Vertreter dem Drängen ihres Königs nach und segnen die Reisenden. Ninsun befragt vor der Abreise das Orakel. Sie vollzieht die rituellen Waschungen, legt ihren wertvoll­sten Schmuck an, schreitet auf das Dach des Tempels und betet zum Sonnengott Schamasch, dass er ihren Sohn tagsüber behüte und ihn nachts unter den Schutz der Sterne stelle.

„Chumbaba – sein Brüllen ist die Sintflut, sein Rachen ist Feuer, sein Atem ist der Tod.“ (Enkidu, S. 49)

Die Gefährten nähern sich dem Libanon mit Riesen­schrit­ten. In nur drei Tagen legen sie eine Strecke zurück, für die man nor­maler­weise anderthalb Monate benötigt. Während der Wanderung steigt Gilgamesch mehrmals auf einen Berg, bringt ein Mehlopfer dar und setzt sich zum Schlafen in das von Enkidu errichtete Traumhaus. Beim ersten Mal träumt er, dass der Berg auf ihn stürzt und ein strahlend heller König ihn wieder darunter hervorzieht. Enkidu ist zu­ver­sichtlich: Der Berg repräsentiere Chumbaba und der König Gilgameschs Retter Schamasch. Doch Gilgamesch hat noch vier weitere, schreck­liche Träume, die sie beide verzagen lassen. Schamasch wird ungeduldig. Vom Himmel ruft er, Chumbaba habe sechs seiner sieben schützenden Gewänder abgelegt, und fordert die beiden zum sofortigen Angriff auf.

Der Tod Chumbabas

Staunend stehen Gilgamesch und Enkidu vor den un­vorstell­bar hohen Zedern und dem Zedernberg, der Wohnung der Götter. Chumbaba erscheint und beleidigt Enkidu als „Ausgeburt einer Wasser- und Sumpf­schildkröte, die keine Muttermilch trank“. Dabei tritt er so heftig auf den Boden, dass sich die Erde spaltet und zu Gebirgen auftürmt. Felsblöcke regnen auf die beiden Freunde nieder, bis Schamasch ein gewaltiges Unwetter mit 13 Winden schickt. Nun ist Chumbaba Gilgameschs Waffen hilflos aus­geliefert. Er fleht erst Gilgamesch und dann Enkidu an, sein Leben zu schonen. Vergeblich. Da richtet sich Chumbaba noch einmal auf und verflucht sie: „Nicht sollen die beiden alt werden!“, brüllt er, bevor Gilgamesch ihm mit dem Schwert den Nacken spaltet und Enkidu ihm die Lungen herausreißt. Anschließend fällt Gilgamesch die Bäume. Aus einer besonders hohen Zeder zimmern die beiden ein gewaltiges Tor für den Tempel von Nippur. Sie bauen ein Floß, legen das Tor darauf und trans­portieren es auf dem Fluss Euphrat in die Stadt.

Verschmähte Liebe

Gilgamesch wäscht sein verfilztes Haar, zieht sich saubere Kleider an und setzt sich seine Krone auf. Da wird die Göttin Ischtar auf seine Schönheit aufmerksam. Sie verspricht ihm Streitwagen aus Gold, alle nur denkbaren Reichtümer sowie Mehrlings­ge­burten seiner Ziegen und Schafe, wenn er sie heirate. Aber Gilgamesch lehnt ab und beschimpft sie voller Hohn. Ischtar schäumt vor Wut und fordert ihren Vater Anu auf, den Him­melsstier auf Gilgamesch loszulassen. Anu gibt ihr das Leitseil und sie führt den Stier zur Erde. Sofort trocknet der Forst aus, der Fluss­wasser­spiegel sinkt bedrohlich, und durch das Schnauben des gewaltigen Tieres entstehen so tiefe Gruben, dass 200 junge Männer aus Uruk hine­in­fallen. Enkidu aber versinkt nur bis zu seinen Hüften. Er springt heraus und fasst den Him­melsstier an den Hörnern, der wiederum Geifer speit und mit seinem Schwanz Mist nach Enkidu schleudert. Dieser fasst ihn am Schwanz und stellt seinen Fuß auf das Hinterteil des Tieres, während Gilgamesch es tötet. Sie schneiden das Herz des Stiers heraus und opfern es Schamasch.

Enkidus Abschied

In der Nacht erwacht Enkidu aus einem schreck­lichen Traum: Die Götter­ver­samm­lung hat ihn und Gilgamesch wegen der Tötung Chumbabas und des Him­melsstiers zum Tod verurteilt. Der Götterkönig Enlil aber bestimmt, dass nur Enkidu sterben soll. Dieser verflucht daraufhin das Tor, das er ebenjenen Göttern gespendet hat, die nun seinen Untergang betreiben. Gilgamesch versucht, ihn zu beschwichti­gen. Er verspricht, zu den Göttern zu beten und ihnen eine Goldstatue von Enkidu zu opfern, damit sie ihn verschonen. Aber sein Freund hat sich bereits aufgegeben: Es nütze nichts, gegen das Schicksal anzukämpfen. Nun verflucht er den Jäger und Schamchat, die ihn aus der Gemein­schaft der Tiere gerissen haben. Schamasch bringt den Rasenden zur Besinnung: Hat die Dirne ihm nicht ein Bier gegeben und ihn vornehm gekleidet? Und wird Gilgamesch ihn nicht auf ein Ehrenlager betten? Nach zwölf Tagen ruft Enkidu Gilgamesch zu sich, beklagt sein ruhmloses Ende und stirbt.

Der Weg ans Ende der Welt

Gilgamesch ist untröstlich. Er lässt seinem Freund eine prächtige Ruhestätte bauen, die er mit kostbaren Opfergaben versieht. Um sie vor Grabräubern zu schützen, wird der Euphrat vorübergehend umgeleitet und das Grab ins Flussbett gelegt. Gilgamesch trägt sein Haar zum Zeichen der Trauer verfilzt. Mit einem Löwenfell bekleidet durch­streift er die Steppe, bis er vor dem Zwill­ings­ge­birge steht, der Grenze zum Ende der Welt. Zwei Sko­r­pi­ons­men­schen bewachen den Zugang. Sie fragen ihn, weshalb er den beschw­er­lichen Weg auf sich genommen habe. Gilgamesch antwortet, er suche seinen Vorfahren Uta-napis­chti. Von ihm, dem die Götter Un­sterblichkeit schenkten, wolle er lernen, den Tod zu überwinden. Die Sko­r­pi­ons­men­schen wundern sich. Niemand hat vor Gilgamesch den Weg durch das Gebirge gewagt, denn über eine Strecke von zwölf Meilen herrscht dort völlige Finsternis. Schließlich wird Gilgamesch durchge­lassen. In der Dunkelheit ist er dem Aufgeben nahe. Doch nach zwölf Meilen wird es plötzlich hell. Er erblickt einen Wald, an dessen Bäumen Edelsteine hängen.

Das Gewässer des Todes

Am Meeresufer sieht die Schankwirtin Siduri den ver­wilderten Gilgamesch umher­streifen. Voller Angst verriegelt sie ihre Tür und steigt aufs Dach. Damit sie sich nicht fürchtet, erzählt Gilgamesch ihr von seinen und Enkidus Heldentaten. Siduri aber traut ihm nicht. Da schildert ihr Gilgamesch den Tod seines Freundes, erzählt, wie er ihn geliebt und beweint hat und wie er plötzlich ungeheure Angst vor dem eigenen Lebensende bekam. Er fragt Siduri, auf welchem Weg er zu Uta-napis­chti gelangen kann. Die Schankwirtin rät ihm von der Reise ab. Niemand außer Schamasch habe jemals das Meer überquert. Die Götter hätten den Menschen den Tod beschieden und es sei sinnlos, davonzu­laufen. Dann aber verweist sie ihn an den Schiffer Ur-schanabi, der gerade mit den Steinernen im Wald Bäume fällt. Gilgamesch überwältigt den Fährmann, zer­schmettert seine Gehilfen und wirft sie in den Fluss. Ein Fehler, wie sich bald her­ausstellt, denn die Steinernen sind als Einzige in der Lage, das Gewässer des Todes zu überqueren. Nun muss Gilgamesch 300 Bäume schlagen, um daraus 30 Meter lange Stangen zu zimmern. Er darf jede Stange nur einmal zum Abstoßen benutzen. Als er die letzte gebraucht hat, benutzt er seine Kleider als Segel. So erreicht er das andere Ufer.

Die Geschichte der Sintflut

Uta-napis­chti hört Gilgamesch an, weigert sich aber, ihm zur Un­sterblichkeit zu verhelfen. Gilgameschs Aufgabe sei es, ein guter König auf Erden zu sein. Der Tag seines Todes liege in den Händen der Götter. Doch Gilgamesch lässt nicht locker. Er möchte wissen, weshalb Uta-napis­chti unsterblich ist. Da erzählt dieser von der großen Flut, die die Götter seinerzeit über das Land schickten. Der Gott Ea, Fürst der Weisheit, habe ihn damals beauftragt, ein riesiges Schiff zu bauen. Mit dem Versprechen einer re­ich­halti­gen Ernte gewann Uta-napis­chti Zimmermänner, Rohrflechter, Schiffbauer, Junge und Alte für die Bauarbeiten. Das gigantische Schiff hatte sieben Geschosse zu je neun Räumen. Uta-napis­chti lud so viel wie möglich hinein: Gold und Silber, Lebenssamen, seine ganze Familie, Handwerker, Künstler und Schreiber, Vieh und wilde Tiere. Dann verriegelte er die Tür. Das kurz darauf here­in­brechende Unwetter war gnadenlos. Sturm, Wolkenbruch und Sintflut begruben alles Lebende unter sich. Am siebten Tag erst war es still. Die Menschheit war zu Lehm geworden. Uta-napis­chti schaute sich nach einem Ufer um, sah aber nur zwölf Inseln aus dem Meer aufragen. Er legte am Berg Nimusch an und ließ eine Schwalbe und eine Taube fliegen. Beide kehrten wieder zurück. Ein Rabe schließlich kam nicht wieder. Da brachte Uta-napis­chti ein Opfer dar, das die Götter anlockte. Enlil, der die Sintflut geschickt hatte, wurde wütend, als er die überlebenden Menschen sah. Aber Ea schalt ihn: Anstatt alle zu vernichten, hätte er Hunger oder Krankheiten schicken sollen. Nun aber solle er den Überlebenden helfen. Da segnete Enlil Uta-napis­chti und dessen Frau und machte sie zu Göttern.

Der weise König von Uruk

Uta-napis­chti möchte her­aus­finden, was Gilgameschs Aufnahme in die Gemein­schaft der Götter recht­fer­ti­gen könnte. Indem er den Helden anweist, sieben Nächte zu wachen, will er ihn auf die Probe stellen. Doch Gilgamesch schläft wie ein Stein, sechs Tage und sieben Nächte lang. Um dies zu beweisen, bäckt Uta-napis­chtis Frau jeden Tag ein Brot und stapelt die Laibe vor dem Schlafenden auf. Als Gilgamesch erwacht, ist das erste bereits völlig vertrocknet. Er hat die Probe nicht bestanden und muss zu den Sterblichen zurückkehren. Zum Abschied verrät Uta-napis­chti seinem Gast das Geheimnis einer Stachelpflanze, die ewiges Leben spendet. Gilgamesch bindet sich daraufhin Steine an die Füße, lässt sich zum Apsu, einem un­terirdis­chen Süßwasserozean, herabziehen und pflückt die besagte Pflanze. Er will sie in Uruk an einem Greis erproben. Auf dem Rückweg badet Gilgamesch im kalten Wasser eines Brunnens, als eine Schlange herangeschlichen kommt. Sie riecht den Duft der Pflanze, nimmt sie mit und häutet sich. Gilgamesch bricht in Tränen aus. Alles war umsonst. Der Zugang zu den Un­sterblichen ist ihm ein für alle Mal versperrt. Er kehrt mit Ur-schanabi nach Uruk zurück und zeigt ihm die Stadtmauer. Gilgamesch ist stolz auf das solide Fundament und die Back­steinziegel, stolz auf die Stadt, deren König auf Erden er ist.

Zum Text

Aufbau und Stil

Das Gil­gamesch-Epos in der neubaby­lonis­chen Version besteht aus zwölf Tafeln, wobei die letzte erst nachträglich angehängt wurde. Die Tafeln eins bis elf formen einen erzählerischen Ring mit den Helden- und Missetaten des Königs Gilgamesch und seines Freundes Enkidu. Auf eine kurze Einleitung folgt die Beschrei­bung der Stadt Uruk und ihrer Mauer. Die elfte Tafel endet mit den gleichen Worten und weist so auf den Anfang zurück. Die jahrhun­derte­lange mündliche Überliefer­ung schlägt sich im Text nieder: Einige Abschnitte und Motive wiederholen sich wie der Refrain in einem Lied. Was dem heutigen Leser monoton vorkommt, half den damaligen Sängern und Zuhörern, sich an wichtige Eckpunkte zu erinnern. Durch Träume und Traumdeu­tun­gen nehmen Menschen und Götter die Handlung vorweg und heben sie auf eine neue Be­deu­tungsebene. Übertrei­bun­gen, Analogien, Vergleiche und Bilder prägen den Stil. Einige davon sind so mitreißend, dass man sich als Leser unmittelbar betroffen fühlt. Andere wirken dagegen so fremd, dass selbst Experten sie nicht zu entziffern vermögen.

In­ter­pre­ta­tion­sansätze

  • Das Gil­gamesch-Epos behandelt die großen Themen der Dichtung: den Kampf mit den Naturge­wal­ten und das Ringen um gesellschaftliche Macht, Liebe und Sexualität, die Suche nach dem Sinn des Lebens und das vergebliche Streben nach Un­sterblichkeit.
  • Gilgamesch und Enkidu ziehen mit der Tötung Chumbabas und des Him­melsstiers den Zorn der Götter auf sich. Enkidu muss sterben und Gilgamesch überlebt. Warum das so ist, bleibt offen; das menschliche Schicksal ist unergründbar.
  • Die Menschen in Mesopotamien hatten Angst vor dem Tod, sie glaubten, dass ihre Seelen in die Unterwelt hin­ab­steigen und dort ein freudloses Dasein fristen würden. Der einzige Weg aus dieser verzweifel­ten Lage bestand darin, sich durch seine Taten auf Erden einen Namen zu machen. Gilgamesch geht aus seinen Reisen und Abenteuern geläutert hervor: Aus einem tyran­nis­chen König wird ein gütiger.
  • Enkidu repräsentiert den „guten Wilden“: Er lebt im Einklang mit der Natur und den wilden Tieren, bis eine Dirne ihn verführt. Die zivil­isierte Welt hat zwar vieles zu bieten, z. B. Bier und Sex in rauen Mengen, gle­ichzeitig raubt sie ihm aber seine Unschuld.
  • Einige Interpreten werten die Beziehung zwischen Gilgamesch und Enkidu als erstes Zeugnis einer ho­mo­sex­uellen Liebe in der Lit­er­aturgeschichte. Zahlreiche Ro­ma­nau­toren und The­ater­regis­seure haben diesen Aspekt her­aus­gear­beitet, weil er ihrer Meinung nach von der klassischen Rezeption zu wenig beachtet wurde.
  • Der Zedernwald im Libanon wird aus der Perspektive der mesopotamis­chen Tiefebene geschildert: Er erscheint im wahrsten Sinne des Wortes unge­heuer­lich. Dass er im Epos einen Wächter benötigt, kann als Zeichen dafür gedeutet werden, dass die Menschen sich ihrer zerstörerischen Auswirkun­gen auf die Umwelt bewusst waren.
  • Auch das im Epos beschriebene Ende der Welt sagt viel über die damaligen Vorstel­lun­gen aus: Die Menschen glaubten, dass die Erde ein Teller ist, der vom Gebirge und vom Meer umschlossen wird. Auf den Bergen, im Himmel und jenseits des Meeres wohnen die Götter.

His­torischer Hintergrund

Die sumerische Hochkultur

Die Heldenfigur des Epos geht auf eine historische Gestalt zurück: König Gilgamesch – oder Bilgames, wie er auf Sumerisch hieß – regierte vermutlich um 2650 v. Chr. im sumerischen Stadtstaat Uruk und soll ein harter, tyran­nis­cher Herrscher gewesen sein. Ihm wird der Bau einer gewaltigen, ungefähr zehn Kilometer langen und zehn Meter breiten Be­fes­ti­gungs­mauer mit Hunderten von Türmen zugeschrieben. Die Überreste davon wurden 1912 in der heutigen Stadt Warka im Südirak gefunden. Uruk war in ihrer Blütezeit die mächtigste Stadt in Mesopotamien. Sie gilt als Zentrum für die Entstehung der sumerischen Kultur. Nach Ansicht des As­syri­olo­gen Adolf Leo Oppenheim erreichte sie hier sogar ihren „kreativen Höhepunkt“, bevor die Stadt Ur ihr den Rang ablief.

Die Sumerer siedelten ab ca. 3500 v. Chr. im Süden des Zweistrom­lan­des. Sie en­twick­el­ten mit der Keilschrift die älteste bekannte Schrift und die Vorläuferin der heute in Europa ver­bre­it­eten Schrift­for­men. Außerdem führten sie eine ausgefeilte Bewässerung­stech­nik in dem Schwemmland zwischen Euphrat und Tigris ein. Diese Methode ermöglichte deutlich höhere Erträge, führte langfristig aber zu einer Versalzung der Böden, deren katas­trophale Folgen im heutigen Irak zu bezeugen sind. Um 3000 v. Chr. kam es vermutlich durch einen Dammbruch im Bewässerungssys­tem zu ver­heeren­den Überflu­tun­gen – ein Ereignis, das einige Historiker als Vorbild für die Sint­flut­geschichte im Gil­gamesch-Epos und im Alten Testament deuten. Den Mittelpunkt der sumerischen Stadt­staaten bildeten die Göttertempel. Das umliegende Land gehörte den Göttern, und die große Mehrheit der Bevölkerung leistete Fronarbeit als Sklaven und Leibeigene oder arbeitete als Tem­pel­diener. In der frühdy­nas­tis­chen Zeit (2800–2500 v. Chr.) wich die Einheit von Staat und Tempel langsam einer Trennung zwischen politischer und religiöser Macht. Zwischen 2350 und 2300 v. Chr. eroberte der aus Nordme­sopotamien stammende akkadische König Sargon I. die un­tere­inan­der zer­strit­te­nen Fürstentümer und leitete damit das Ende der sumerischen Hochkultur ein.

Entstehung

Das Gil­gamesch-Epos ist das älteste bekannte lit­er­arische Werk. Erste Hinweise auf mündliche Erzählungen stammen aus der Zeit um 2100 v. Chr., als die sumerische Vorherrschaft in Südbabylonien zu Ende ging. Wenig später wurden sechs dieser Kleinepen auf Tontafeln übertragen. Die Erzählung „Bilgames, Enkidu und die Unterwelt“ wurde später als zwölfte Tafel angehängt. Die Heldengeschichten en­twick­el­ten sich bald zu einem „Bestseller“: In ganz Mesopotamien ritzten Schüler die Pflichtlektüre über den König von Uruk in feuchten Ton. Männer trugen Ringwettkämpfe nach dem Beispiel Gilgameschs und Enkidus aus. Und Gilgamesch selbst wurde als Un­ter­welts­gott verehrt, der Kranke heilen und Tote beschützen konnte. Um 1100 v. Chr. soll der Gelehrte Sin-leqe-un­nini die Einzelgeschichten zu einem Gesamtepos zusam­menge­fasst haben. In dieser Form sangen die ori­en­tal­is­chen Barden es auf Festen großen Men­schen­men­gen vor und machten Gilgamesch bis weit über die Grenzen Mesopotamiens berühmt. In den Königshäusern Kleinasiens, Syriens und Palästinas lauschten die Menschen gespannt den Abenteuern des fast 2000 Jahre alten Helden. Erst im dritten Jahrhundert n. Chr. geriet er in Vergessen­heit.

Über 1500 Jahre blieb das Epos verschollen. Dann entdeckte der britische Assyriologe George Smith 1872 unter Tausenden von Keilschrifttafeln die Tontafel mit dem Sint­flut­bericht. Sie gehörte zur Bibliothek des letzten großen Assyrerkönigs As­sur­ba­n­i­pal in Ninive, die Archäologen zwei Jahrzehnte zuvor ausgegraben und ins Britische Museum nach London geschafft hatten. Fieberhaft suchten Smith und seine Kollegen nach weiteren Fragmenten der vermuteten „heidnischen Bibel“. Doch zum Vorschein kam das Epos über den König von Uruk. Trotz unermüdlicher Puz­zlear­beiten und immer neuer Funde ist Gilgameschs Geheimnis nicht vollständig entschlüsselt. Ein Drittel des ursprünglichen Textes fehlt bis heute.

Wirkungs­geschichte

Die Parallelen zwischen dem Gil­gamesch-Epos und dem Alten Testament sind of­fen­sichtlich: Die biblische Sint­flut­geschichte stimmt selbst in einigen Details wie dem Aussenden der Vögel nach dem Stranden der Arche mit der baby­lonis­chen Version überein. Beide Werke schöpften im Alten Orient aus einem gemeinsamen Weisheits- und Werteschatz. Auch der oder die Dichter der homerischen Epen Ilias und Odyssee ließen sich von den Gilgamesch-Erzählungen inspirieren. „Gilgamesch, Enkidu und die Unterwelt“ ähnelt z. B. der Episode, in der Odysseus die Toten im Hades besucht.

Seit seiner Wieder­ent­deck­ung im 19. Jahrhundert haben unzählige Maler und Bildhauer den „helden­haften jungen Mann“, wie er auf Akkadisch heißt, verewigt. Opern und Oratorien wurden ihm gewidmet. Thomas Mann verwendete in seinem Roman Joseph und seine Brüder Elemente des Gilgamesch-Mythos. Hans Henny Jahnns Romanzyklus Fluss ohne Ufer basiert wesentlich auf dem Gil­gamesch-Epos. In jüngster Zeit ist der König sogar zur Ikone der Popkultur aufgestiegen: Gilgamesch kämpft tapfer in Fan­ta­sy­ro­ma­nen, Comicbüchern, Ze­ichen­trick­fil­men und Videospie­len, er inspirierte eine Folge von Star-Trek: The Next Generation und lieh einer japanischen Rockband seinen Namen. In Philip Roths Roman The Great American Novel erhält er als ruhmsüchtiger Base­ball­spieler Gil Gamesh eine Gastrolle. Beispiele lit­er­arischer Neuin­ter­pre­ta­tio­nen sind Stephan Grundys Roman Gilgamesch und Raoul Schrotts Drama Gilgamesch.

Über den Autor

Das Gil­gamesch-Epos hat viele anonym gebliebene Verfasser, deren Sprachen längst aus­gestor­ben sind. Es entsteht im dritten Jahrtausend v. Chr. in Südme­sopotamien und wird anfangs vermutlich nur mündlich überliefert. Um 2000 v. Chr. tauchen erste in Keilschrift auf Tontafeln übertragene Geschichten des späteren Gesamtepos auf. Um 1100 v. Chr. soll der aus Uruk stammende Gelehrte Sin-leqe-un­nini (übersetzt „Sin, nimm mein Flehen an“) die Einzelerzählungen in eine ein­heitliche Form gegossen haben. Er stellte dem Epos einen Hymnus voran, in dem er angab, dass Gilgamesch selbst seine Taten auf einer Steintafel nieder­schreiben lassen habe und er, der Dichter, diese nur wiedererzähle. Dass überhaupt ein Verfasser für das Epos genannt wurde, belegt im Rückblick dessen Bedeutung – die meisten lit­er­arischen Werke wurden im Alten Orient nämlich anonym überliefert. Als endgültige Fassung gilt das Zwölf-Tafel-Epos, das Schreiber im siebten Jahrhundert v. Chr. für die Bibliothek des assyrischen Königs As­sur­ba­n­i­pal anfertigten. Die meisten zeitgenössischen Überset­zun­gen und Bear­beitun­gen basieren auf dieser Version.