Das Internet im psychologischen Kontext
Das Internet ist ein neues Umfeld, das starke Einflüsse auf das Verhalten haben kann. Weil es relativ neu ist, ist man erst dabei, das psychologische und technische Vokabular festzulegen. Daher finden Sie hier ein kurzes Glossar für den Anfang:
- Asynchrones Diskussionsforum - ein Kommunikationsfeld, in dem Teilnehmer Meinungen zu einem angegebenen Thema lesen und angeben.
- E-Mail - das Kommunikationsfeld des Internets.
- Internet Relay-Chat oder IRC - eine spezialisierte Version von synchronem, direktem Chat (Gespräch) zwischen zwei Beteiligten.
- Metaworlds (Metawelten) - ein nicht sehr genauer Ausdruck für die Umwandlung von MUD-Kommunikationsgebieten in multimediale Kommunikationsgebiete.
- Multi User Dungeons oder MUD - dieses Akronym, welches für das Dungeons-and-Dragons-Spiel konzipiert wurde, wird jetzt auch für Online-Spiele und virtuelle Umgebungen benutzt. Ein interaktives, auf dem Internet basierendes Video-und-Sprech-System, das live passiert, ist ein psychologisch einflussreiches, aber junges Kommunikationsfeld. Mit der Zeit könnte es aufgrund der Hinzufügung von Video und Sound den Charakter der Internet-Psychologie ändern.
- Newsgroups (News-Gruppen) - eine ältere Form der asynchronen Diskussion, die durch ein Anschlagtafelsystem namens Usenet (Nutzungsnetz) hergestellt wird.
- Synchrone Chats (Chat-Rooms) - virtuelle Plätze, wo Gespräche in Echtzeit vor sich gehen.
- World Wide Web - Die Informationsmassen, die als Bibliothek, Zeitschriftenstand oder privat veröffentlichte Dokumente im Internet gespeichert sind.
„Das Internet ist ein Identitätslabor, das mit Requisiten, Publikum und Spielern für unsere persönlichen Experimente übersät ist.“
Gewisse Charakteristiken regeln die psychologischen Effekte einiger Internet-Umgebungen: der Grad der Anonymität, die Anwesenheit von Moderatoren, Selbstbestimmung und die Freiheiten oder Beschränkungen einer bestimmten Umgebung. Gewisse Umgebungen erlauben den Gebrauch von Spitznamen. Diese geschützte Anonymität erlaubt Benutzern, ihre sozialen Fesseln zu lockern - mit anderen Worten: Niemand weiss, wer sie sind, daher fühlen sie sich sicher genug, schlechtes Benehmen an den Tag zu legen. Im Kontrast dazu legt E-Mail die Identität des Senders offen, um Antworten zu ermöglichen, und daher halten sich die Leute zurück. Ein Moderator hat den gleichen voraussehbaren Effekt auf einen Chat-Room wie die Anwesenheit eines Sheriffs in einer neuen Stadt des Wilden Westens. Benutzer legen sich manchmal selbst Bestimmungen auf, abhängig davon, welche Gründe sie haben, eine bestimmte Umgebung zu besuchen. Auf diese Art spiegelt das Internet die Persönlichkeit bestimmter Umgebungen wider. Entgegen leichtfertig erzeugter Gerüchte ist das Internet kein globales Dorf. Jede Umgebung toleriert unterschiedliche Verhaltensniveaus.
Online-Persönlichkeiten, Masken und Maskeraden
Online-Persönlichkeiten werden durch Aussagen, die Menschen hinsichtlich Geschlecht, Alter und Interessen machen, geformt. Der erste Kontakt, den Leute mit der Online-Persönlichkeit einer anderen Person haben, erfolgt via E-Mail oder im Chat-Room, wofür sie einen Spitznamen verwenden. Wenn das Geschlecht oder Alter einer Person nicht sofort durch den Spitznamen erkenntlich ist, fragen Leute sofort: "Wie alt bist du?" und "Bist du männlich oder weiblich?" Das sind die zwei meistgestellten Chat-Room-Fragen, da die Leute "kognitive Geizkragen" sind, d. h. sie haben ein psychologisches Bedürfnis, Energie zu sparen und ihre kognitive Last zu erleichtern. Je schneller Menschen Ihr Geschlecht und Alter bestimmen können, desto weniger müssen sie lernen und raten und desto schneller können sie zu anderen Themen überwechseln.
„Wir betreten eine virtuelle Welt, beladen mit einem Leben voll psychologischem Gepäck, und wir geben unsere Koffer sicherlich nicht in der Empfangshalle ab.“
Online-Masken und Maskeraden verstärken die gegenteilige menschliche Tendenz: nicht erkannt zu werden, sondern unerkannt zu bleiben. Sie erlauben Benutzern, eine Realität durch Rollenspiele, Heuchelei, Lügen und Übertreibung zu formen. Menschen experimentieren oft mit ihrer Identität im Internet. Dieser Betrug ist schon nicht leicht von Angesicht zu Angesicht zu erkennen und viel schwieriger im Internet festzustellen, da es keine hörbaren oder sichtbaren Hinweise und keine Kontrolle gibt. Um Identitätsbetrug im Internet zu erkennen, sollten Sie darüber nachdenken, wie Menschen sich typisch verhalten sollten. Wenn Leute ausserhalb bekannter, normaler Verhaltensweisen fallen, sollten Sie argwöhnisch werden.
Gruppendynamik
Skeptiker bezweifeln, dass geschlossene Gruppen im Internet gebildet werden können. Die grosse Zahl der Foren beweist, dass dies möglich ist, aber es bleibt unklar, warum die eine Gruppe eine starke Bindung hat und die andere nicht. Langzeit-Gruppenforschung bestätigt, dass "die Anwesenheit anderer Leute unser Verhalten beeinflusst, sogar wenn sie Fremde sind und wir sie nie wieder sehen werden". Der Druck in Richtung Konformität existiert online und stellt eine Parallele zu ihrer Bedeutung in anderen sozialen Bereichen dar. Spezifische Internet-Bräuche und -Sitten haben sich entwickelt und bilden die Basis für eng verbundene Gruppen.
Ein Forum für Konflikte
Sozialer Status schafft ebenfalls Konflikte zwischen Gruppen im Internet, obwohl Status eine unwichtigere Rolle spielt als in der normalen Gesellschaft, weil Hinweise auf jemandes sozialen Status schwer zu bekommen sind. In Abwesenheit dieser Hinweise (d. h. Kleidung, Akzent, Verhalten) tendieren Leute dazu anzunehmen, dass sie ungefähr auf demselben Statusniveau agieren, dem sie selbst angehören. Auf diese Weise kommt es dazu, dass junge Studenten tiefsinnige Diskussionen mit Häftlingen führen.
„Wir können der Gruppenpolarisierung leichter online als offline erliegen, weil es so leicht ist, Leute zu finden, die hinsichtlich fast aller Themen schon in dieselbe Richtung tendieren wie wir, unabhängig davon, wie spezifisch das Thema sein mag.“
In den meisten Chat-Rooms wird jede Art des Benehmens, die von den akzeptierten Gruppenregeln abweicht - wie etwa Reklame -, durch ein Statement beantwortet, das die Akzeptanz der Normen verlangt. Die relative Anonymität des Internets macht es den Leuten leichter zu streiten, als im "Offline-Leben". "Anonymität im Internet ... ist eine bewegliche Zielscheibe." Die Einführung kostenloser E-Mail-Adressen wie etwa durch Yahoo und Hotmail ermöglichte es Menschen in zunehmendem Masse, im Internet Nachrichten zu senden, ohne aufgespürt werden zu können. Erste Forschungsergebnisse bestätigen, dass das Nichtvorhandensein von physischer Präsenz in computervermittelten Kommunikationen Streitigkeiten zunehmen lässt. Diese Forschungsergebnisse sagen nichts darüber aus, inwieweit Online-Aggressionen oder -Argumente kathartisch sind.
Freundschaft, Liebe und Pornographie
Freundschaft im Internet ist nichts Neues. Über zwei Drittel der untersuchten Personen sagen aus, dass sie eine persönliche Beziehung mit jemandem, den sie in einer Usergroup getroffen haben, aufgebaut haben. Andere Untersuchungen ergeben, dass diese Beziehungen häufiger vorkommen und intensiver sind, als je zuvor erwartet wurde. Allerdings ist die Liebe eine andere Sache. Wenn Sie jemanden in "der realen Welt" kennen lernen, spielt seine oder ihre Attraktivität eine grosse Rolle. Es könnte die stärkste Variable dafür sein, wie Sie auf jemanden reagieren. Das Internet reisst diese anfängliche Barriere nieder. Die Bedeutung von Schönheit ist zumindest im Anfangsstadium reduziert, und Personen müssen andere Wege finden, um ihre Attraktivität unter Beweis zu stellen.
„In einer Situation von Angesicht zu Angesicht muss jemand, der die Meinung einer Minderheit vertritt, einen Tadel riskieren, wenn er seine Ansichten äussert, und das alleine könnte die anderen dazu bewegen, ihm/ihr genauer zuzuhören. Online ist der Schmerz für den Abweichler um vieles geringer, besonders wenn die Beiträge anonym sind, daher könnte der Nutzen ebenfalls geringer sein.“
Wenn man eine Beziehung aufbaut, ist der nächste Faktor - nach der Attraktivität - die Annäherung, die Nähe und Gelegenheit, mit der anderen Person vertraut zu werden. Im Internet werden Annäherung und Vertrautheit als "Kreuzungshäufigkeiten" bezeichnet. Das bezieht sich darauf, "wie oft sie einer anderen Person im Internet begegnen". Wenn Sie die Frequenz Ihrer Zeit im Net erhöhen, erhöhen Sie Ihre Chancen, mit jemandem, den Sie kennen, zusammenzutreffen.
„Soweit ich weiss, gibt es keine Forschung, die herauszufinden versucht, ob Aggression im Internet eine kathartische Rolle spielt, aber ich glaube, es ist sehr unwahrscheinlich. Bei denen, die sich auf Wutausbrüche oder andere Formen der Aggressivität einlassen, hat die Forschung herausgefunden, dass die Reduzierung der Aggressionsschwellen wahrscheinlicher ist und vielleicht nicht nur gegenüber anderen Personen im Internet.“
Sie können Ihre Kreuzungsfrequenz auch dadurch erhöhen, indem Sie Sites besuchen, wo Sie die Interessen anderer Besucher teilen. Dies wird als Gesetz der Attraktivität bezeichnet, welches das Prinzip zusammenfasst, dass sich Menschen gern mit anderen Menschen verbinden, die ähnliche Haltungen und Vorstellungen hegen. Das Internet erleichtert es, Leute mit den gleichen Interessen zu finden, weil diese ihre Interessen dadurch zeigen, indem sie Mitglieder bestimmter Websites werden. Daher erhöht das Gesetz der Attraktivität Ihre Kreuzungshäufigkeit. Mit anderen Worten, um einen Mann zu finden, der Motorräder mag, begeben Sie sich auf die Harley-Website und beginnen Sie zu chatten. Das Internet bietet bessere Romanzen als die reale Welt, weil es die Kommunikation zwischen Liebenden ohne Extrakosten erhöhen kann. Liebespaare können die Kommunikation ohne zusätzliche Kosten durch E-Mail, Briefe, Grusskarten und Online-Telefongeräte aufrechterhalten und erhöhen.
„Ein entscheidender Unterschied zwischen dem, was sich im Internet befindet, und dem, was in der kommerziellen Welt der Pornographie passiert, besteht in der Beteiligung der Leute, die nicht bezahlt werden und deren Motivation für die Teilnahme an sexuell expliziten Aktivitäten eher persönlich als professionell ist.“
Virtuelle Leidenschaft ist auch erhältlich - für diejenigen, die sexuell explizite Erlebnisse haben und Gespräche aus der Ferne führen wollen. Das fällt zum Teil in den Bereich der Pornographie, die im Internet so verbreitet ist. Medienberichte, die das sensationalisieren, färben das Bild der Wahrnehmungen der Leute hinsichtlich des Umfangs und des Anteils der Pornographie im Internet. Der psychologische Begriff, der dieser Färbung entspricht, ist "Angebots-Heuristik", was bedeutet, dass wir dazu tendieren, "über jene allgemeinen Themen und Haltungen zu richten", über die wir Informationen haben. Das formt die unüberlegten, spontanen Meinungen, dass das Internet voll von Pornographie sei. In Wirklichkeit hat das Internet viele gebührenpflichtige Pornosites sowie viele private Amateur-Websites mit pornographischen Bildern.
„Paradoxerweise scheinen die psychologischen Räume des Internets ein hohes altruistisches Niveau zu unterstützen und zu fördern, wenn sie auch zur gleichen Zeit einen hohen Grad von Aggressivität erzeugen.“
Das psychologische Problem mit Pornographie besteht darin, dass keine Forschung eindeutig zeigt, ob gewaltlose, kommerzielle oder nicht kommerzielle Sites irgendwelche positiven oder negativen Effekte haben. Mit anderen Worten, wir wissen nicht, was dieser ganze passive Müll jemandem antun kann. Allerdings können vier allgemeine Schlüsse über Internet-Pornographie gezogen werden. Erstens werden Leute sie genauso oft benutzen wie sie Pornographie individuell durch andere Quellen benutzen. Zweitens wird die Internet-Pornographie eine weitere Ausweitung erfahren und mehr Menschen aufgrund der Natur des Mediums zugänglich sein. Drittens wird die Benutzung des Internets eine freizügige Haltung in Menschen bewirken. Und zum Schluss wird das Ausmass der erhältlichen Materialien eventuell den Effekt erzielen, dass Menschen akzeptieren, dass es sie (die Pornographie) dort draussen gibt, dann die Achseln zucken und sagen: "Na und?"
Zeitabläufe
Das Internet ist ein Zeitfresser. Für Menschen mit zur Abhängigkeit neigenden Persönlichkeitsstrukturen kann das Internet eine riesige Höhle sein, in der man sich verstecken kann. Dieses Problem könnte sich in Zukunft vergrössern, wenn mehr und mehr Aktivitäten ins Internet überwechseln. Die individuelle Gefahr, in das Zeitloch des Internets zu fallen, hat mit der Person und ihrer eigenen Kontrolle zu tun. Menschen, die eine gute Kontrolle haben, sehen technologische Innovationen und wie diese Innovationen ihr Leben beeinflussen als positiv. Beispielsweise sind die Fernbedienung (für den Fernseher) und der Videorekorder Technologien, die es dem Menschen erlauben, interne Kontrolle über äussere Quellen zu bewahren. Diese Fortschritte haben den Menschen Macht über das Medium gegeben. Das Internet funktioniert auf eine ähnliche, aber stärkere Weise. Es gibt den Leuten die Macht, alle Aspekte ihrer Online-Aktivitäten intern zu kontrollieren.