Schlaraffenland für Schnäppchenjäger
Im Web gibt es alles – und fast alles umsonst. Sie müssen nicht mal lange suchen, sondern einfach in einer der (Gratis-)Suchmaschinen den passenden Begriff eintippen, z. B. „Gratismusik“, „Gratis-SMS“ oder „Freeware“. Oder Sie besuchen gleich eine (Gratis-)Serviceseite wie kostenlos.de. Die Gratisanbieter gehen strategisch vor: Sie holen mit ihren kostenlosen Angeboten möglichst viele Nutzer auf ihre Seite – und können dank eindrücklicher Klickraten ihren Werbeplatz teuer verkaufen. Manche spionieren auch ihre Nutzer aus und erzielen Profit mit dem Verkauf der gesammelten Daten.
„Die fragile Webökonomie ist eine No (go) Economy. Sie zielt an den Nutzerbedürfnissen vorbei.“
Möglich sind Gratisangebote zudem, weil die Unternehmen im Web 2.0 gewaltig Kosten sparen. So übernehmen die Nutzer beispielsweise den Service und die Beratung gleich selbst. Dasselbe gilt für die Verbreitungskosten: Sobald Musik-, Bild- oder Filmdateien erst mal im Netz stehen, können die Kunden sich bedienen, egal ob zwei oder zwei Millionen Mal.
„Die Gratisjunkies übersehen, dass Nullpreise weder den Nachschub an innovativen, digitalen Qualitätsgütern noch deren gerechte Umverteilung sicherstellen. Mit ihrem Gratiskonsum stärken sie nicht ihre eigene Position im Web, sondern die der Monopolanbieter.“
Einen Haken hat die Sache allerdings: Es gibt immer mehr Webfirmen, die Werbeeinnahmen verteilen sich auf viele Töpfe, und für manche Anbieter wird es eng. Sie bitten den Nutzer also doch plötzlich um eine kleine Spende – worauf dieser einfach abwandert.
Gratis und trotzdem gewinnträchtig
Die Geschenke im Netz werden querfinanziert von Werbekunden, aber auch vom Staat, von Stiftungen und Finanzkapitalgebern. So können sich die öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten, die sich über Gebühren und Werbeeinnahmen finanzieren, reichhaltige Online-Hintergrundberichte zu ihren Sendungen leisten. Die nicht kommerzielle Wikimedia Foundation wiederum sammelt in 50 Ländern Spendengelder, damit Sie auf Wikipedia kostenlos Artikel schreiben, lesen und ergänzen können. Venture-Kapitalisten drängen ihre Schützlinge in vielen Fällen zum schnellen Erfolg, und diesen realisiert das Start-up am einfachsten über Werbefinanzierung.
„Werbung im Web stützt sich als Parasitenmodell auf einen florierenden Markt in der Realwelt und auf die Überzeugung, dass die Klickraten von Nutzern, die manipulierbar sind, investierte Marketingausgaben rechtfertigen.“
Wirklichen Erfolg haben mit der Gratisstrategie aber bis jetzt nur die Großen wie Google oder Amazon. Sie befolgen ihre strategischen Erfolgsgesetze konsequent:
- First-Mover-Advantage: Die Ersten sind die Erfolgreichsten, Nachahmer haben es schwer. Flickr oder eBay haben diesen Vorteil geschickt fürs Marketing genutzt.
- Netzwerkeffekte: Bestes Beispiel hierfür sind MySpace oder eBay – jeder neue Händler steigert den Nutzen für die ganze Gemeinde.
- Gesetz der großen Zahl: Im Web geht es nur um Masse. Hohe Nutzerzahlen lassen das Onlineunternehmen strahlen und das lockt Werbe- und Geschäftskunden.
- Lock-in-Effekt: Onlinedienstleister machen tolle Angebote, nur damit die Nutzer der Webseite treu bleiben. Wer z. B. einmal ein Facebook-Profil erstellt hat, bleibt dabei.
- Markenbildung: Branding ist der Schlüssel zur Kundenbindung. Knackige Markennamen wie Hotel.com oder YouTube brennen sich ins Bewusstsein der Surfer.
Legale und illegale Angebote
Es gibt Freaks, die Stunden mit der Suche nach Gratisangeboten verplempern und nicht registrieren, dass dabei Zeit- und Transaktionskosten anfallen. Sie ertragen jede Menge Werbung und haben keine Bedenken, über ihr Surfverhalten ausspioniert zu werden.
„Der Gratiswahn führt sukzessive dazu, dass aus dem derzeitigen Dienste-, Content- und Möglichkeitenparadies namens World Wide Web eine Datenhölle wird, in der Massenwerbung und redundante Inhalte den Zugang zu gesuchten Daten behindern, weil sie den Prozess des Aussortierens und des Findens erschweren und verlangsamen.“
Texte, Musik, Bilder oder Filme möchten die Pfennigfüchse selbstverständlich gratis haben, egal woher. Wenn Sie aber nicht bereit sind, für hochwertige Bildungs- und Informationsangebote zu bezahlen, werden entsprechende Portale irgendwann eingehen. Möglicherweise reißen sich dann Webgiganten solche Leistungen unter den Nagel und kontrollieren bald Inhalte, Preise und Nutzungsbedingungen.
„Ebenso, wie sie sich willig haben beibringen lassen, dass Geiz geil sei, folgen die User nun frömmelnd der Doktrin, gratis sei noch geiler.“
Viele Gratisinhalte im Web sind geklaut – möglicherweise ohne dass Sie es wissen. Das hat gravierende Folgen für die Anbieter, z. B. für Musikverlage: In den USA entgingen ihnen 2007 durch illegale Downloads rund 3,7 Milliarden Dollar. Die deutsche Filmindustrie kostet die Klauerei etwa 200 Millionen Euro pro Jahr. Jedes vierte Computerprogramm wurde 2007/08 in Deutschland aus dem Netz gestohlen.
„Die technische Infrastruktur, geeignete Produkte und der Spaß am Handeln bilden die Grundlage zur Entstehung von Mikromärkten.“
Allerdings gibt es auch Zeitgenossen, die bewusst Gratisinhalte ins Netz stellen, damit andere sich daran erfreuen. Softwareentwickler wie Linus Thorvalds beispielsweise, der Erfinder des freien Betriebssystems Linux. Oder die Blogger, die Gratistexte, Bilder und Filmchen anbieten. Dabei dürfen Sie nicht vergessen, dass die besten Blogger (Boing Boing, ProBlogger und TechCrunch sind die aktuellen Top drei) sechsstellige Dollarbeträge verdienen: der rechte Rand ihrer Seiten ist voll mit Google-Werbung.
„Zur Stärkung unbekannter Webanbieter und kreativer Pronliner, die ihre eigenen digitalen Werke online stellen, können Nutzer ihr Gratisfieber senken und kühlen Kopfes für die Inanspruchnahme von deren Leistungen bezahlen.“
Wenn es einem Webunternehmen dennoch gelingt, für seine Produkte Geld zu verlangen, dann entweder über Kopierschutzmaßnahmen (Beispiel: iTunes) oder weil die Angebote qualitativ herausragend, werbefrei, besonders sicher oder schlicht einzigartig sind.
Ökonomische Erklärungsversuche
Eine Ökonomie, die die Profiteure belohnt und die Anbieter bestraft, hat keine Zukunft, sie verdient die Bezeichnung No Economy. Welches der folgenden Modelle kann erklären, warum sich das Internet dennoch als Füllhorn für Gratisangebote etabliert hat?
- Die Geschenkökonomie? Hier werden keine finanziellen Gegenleistungen erwartet, sehr wohl aber Dankbarkeit und Loyalität. Im Familien- und Freundeskreis funktioniert dieses Modell recht gut, in der Gesellschaft würde es bedeuten, dass einer sich altruistisch um den anderen kümmert. Das klappt auf ein paar Inseln im Pazifik, anderswo sollten Sie sich lieber nicht drauf verlassen, schon gar nicht im Web. Da steckt hinter jedem Angebot eine eigennützige Absicht, die im besten Fall der Wunsch nach Anerkennung ist. Die globale Gratismanie basiert eben nicht auf liebevoller Selbstlosigkeit. So was liegt ohnehin nicht in der Natur des Menschen.
- Die Aufmerksamkeitsökonomie? Auf den ersten Blick erscheint es seltsam, dass im Netz Angebote auch ohne Nachfrage bereitgestellt werden und die Uploader kein Geld dafür wollen. Eine Erklärung könnte die Maslow’sche Bedürfnispyramide (nach dem amerikanischen Kinderpsychologen Abraham H. Maslow) liefern. Deren Basis sind die Grundbedürfnisse (Nahrung, Sicherheit), die in unserer Gesellschaft längst gedeckt sind. Weiter oben in der Pyramide findet sich die Sehnsucht nach Selbstentfaltung und Wertschätzung – und deren Befriedigung kann durchaus eine Währung sein, die von Onlineanbietern angenommen wird. Allerdings müllen die Aufmerksamkeitshascher das Web allmählich zu – auf Kosten der Originalität und Relevanz der Inhalte.
- Die Hobbyökonomie? Sie wirkt weniger zerstörerisch, ihren Anhängern geht es ums Spielen und um den amüsanten Zeitvertreib; Geld oder Aufmerksamkeit nehmen sie nur am Rand mit. Als ernst zu nehmende Onlineökonomie kann das Hobbyprinzip also nicht gelten.
- Die Tauschökonomie? Sie ist fair und taugt schon viel besser als Konzept für die Wirtschaft im Internet. Schließlich ist jede Marktwirtschaft auch eine Tauschwirtschaft, in der ein Produkt gegen ein anderes oder eben gegen Geld gehandelt wird. Über Digsville oder HomeExchange z. B. können Sie Wohnungen tauschen, über SwapMyWheels Autos, über Swaptree, BookCrossing oder Zunafish CDs, Bücher und Videospiele.
- Das Allmende-Modell? Es befasst sich mit Gütern, die allen zustehen und die durch den Gebrauch nicht abgenutzt oder vermindert werden. Auch dieses Modell erklärt die Onlineökonomie nur unzureichend; es lässt sich eigentlich nur auf die globale Wissenschafts- und Softwarecommunity anwenden.
Das Transaktionenmodell
Für sich allein vermag keines der obigen Modelle zu erklären, wie der Handel im Web funktioniert. Einzelne Bestandteile der fünf Modelle lassen sich jedoch zu einem neuen zusammenfügen, dem Transaktionenmodell.
„Die Chancen für Nutzer auch auf lange Sicht jederzeit, schnell und kostenlos relevante Qualitätsinhalte zu finden, sich auf Onlineplattformen frei zu bewegen und dort mit anderen Nutzern virtuelle und konstruktive Dialoge zu führen, schwinden in dem Maße, wie sich redundanter Content im Web anhäuft und Monopolisten aus ihren Gärten Eden geschlossene Gärten (walled gardens) machen.“
Es hat zwar das Tauschmodell als Basis, erweitert aber den Begriff der getauschten Güter: Die digitale Leistung eines Nutzers kann von einem anderen gegen Aufmerksamkeit, Zeit, Nutzerdaten, Geld, Kritik oder Weiterentwicklung eingehandelt werden. Ob die Güter gerecht verteilt werden oder ob es zu Ungleichgewichten kommt, darüber sagt das Transaktionenmodell freilich nichts aus. Aber immerhin lässt sich damit der Istzustand der Onlineökonomie darstellen, und es können daraus notwendige, regulierende Schritte abgeleitet werden.
Gratisspirale oder Marktmentalität
Falls sich der Gratiswahn durchsetzt, sieht die Zukunft des Internets düster aus. Die Gratisspirale zieht die Nutzer in ein schwarzes Loch, in einen Datendschungel ohne Qualität und Orientierung – wenn sie am anderen Ende rauskommen, landen sie direkt in den Klauen der Monopolisten. Die verlangen und diktieren dann nicht nur die Preise, sie werden auch Druck auf die Offlinewirtschaft ausüben, die ohne Gratisangebote im Wettbewerb das Nachsehen hat.
„Wer für Qualitätscontent und Ideen nicht bezahlt, vertreibt seine Lieblingslieferanten aus dem WWW.“
Sollte als Alternative zur Gratisspirale die Marktmentalität die Oberhand bekommen, entstehen Mikro- statt Massenmärkte. Die User wirken als faire Partner, die in Peer-to-Peer-Portalen maßgeschneiderte Produkte anbieten, Zahlungsmethoden aushandeln (z. B. Bezahlung pro Download) und sich bald nicht mehr von Werbern und Sponsoren an der Leine führen lassen. Jeder, der einen Internetzugang hat, kann sich im Web als globaler Händler oder Produzent betätigen, die indische Familie bietet Saris feil und der afrikanische Teenager sein Onlinegame. Die Web-Oligopolisten hätten in diesem System das Nachsehen.
Qualität kostet – künftig auch im Web
Je mehr Müll im Web umherschwirrt, umso eher sind Nutzer bereit, für Qualität zu zahlen. Nur müssen sie die Qualität auch erkennen. Onlinebewertungssysteme könnten eine Möglichkeit sein, die Angebote im Netz wertmäßig einzuordnen und preislich zu justieren. Beim Videoanbieter Metacafe klappt das schon ganz gut.
„Webangebote müssen eine gewisse Qualität aufweisen, damit Nutzer dafür in die Taschen greifen.“
Überhaupt empfiehlt es sich für Webunternehmen, die User stärker ins Geschäft einzubinden. Vor den Computern sitzen nämlich schlaue Köpfe, die jede Menge verwertbarer Ideen liefern. Ein enger Schulterschluss zwischen Unternehmer und Nutzer führt nicht nur zu Wunschprodukten für den Kunden wie z. B. bei Spreadshirt oder Mymuesli. Gemeinsam können neue Technologien entwickelt, nachhaltigere Geschäftsmodelle umgesetzt und kreativere Inhalte generiert werden.
„Der Entstehung von kommerziellen privaten Webseiten und von C2C-Plattformen durch smarte Onlinenutzer werden die großen Webkonzerne wenig entgegensetzen können.“
Kleine Anbieter und die Urheber hochwertiger Inhalte müssen Preise verlangen, weil sie kaum auf Mega-Traffic verweisen und damit Werbeeinnahmen einheimsen können. Springen Sie also nicht immer gleich auf den obersten Link. Ein bisschen scrollen, suchen, vergleichen und sich dann für Qualität entscheiden – das macht Sie zu einem smarten Nutzer der Yes Economy, der nachhaltigen Onlineökonomie der Zukunft. Es wäre gut, damit anzufangen, bevor Monopolisten wie Google oder Amazon die Macht im Web vollends an sich reißen. Alles, was Sie tun müssen, ist, sich von der Vorstellung des Internets als fantastischem Selbstbedienungsladen zu verabschieden.