Theorie U – Von der Zukunft her führen

Buch Theorie U – Von der Zukunft her führen

Carl-Auer,
Auch erhältlich auf: Englisch


Rezension

Zehn Jahre hat Claus Otto Scharmer an seiner „Theorie U“ gearbeitet. Kein Wunder, dass sie schwer auf den Punkt zu bringen ist. Wieder und wieder nimmt Scharmer Anlauf, um neue Facetten zu beleuchten und so allmählich ein stimmiges Bild herzustellen. Dieses sieht kurz gefasst ungefähr so aus: Die Menschen müssen ihr Denken, Fühlen und Wollen anderen Menschen und neuen Impulsen gegenüber öffnen; nur so gibt es eine Zukunft für die Welt. Klingt ein bisschen esoterisch? Vielleicht. Jedenfalls spricht es sicher für Scharmers Glaubwürdigkeit, dass er am renom­mierten MIT lehrt. Trotzdem wirkt sein Ansatz, mit einer neuen Art der Wahrnehmung zu gemeinsamem Handeln zu gelangen, um let­z­tendlich sämtliche Probleme unserer Zeit zu lösen, etwas vermessen. Aber es ist ein ehrenwerter Versuch, meint BooksInShort und empfiehlt das Buch allen Managern, die offen sind für ungewöhnliche Anregungen und willens, sich selbst zu hin­ter­fra­gen.

Take-aways

  • Wer sich an die Erfahrungen der Ver­gan­gen­heit klammert, verliert die Offenheit für Neues.
  • Wer dagegen im Heute schon das Morgen entdecken will, muss neue Formen von Offenheit und Austausch zulassen.
  • Es ist möglich, aus der sich gerade en­twick­el­nden Zukunft zu lernen.
  • Der Begriff dafür lautet „Presencing“, er vereinigt „Presence“ (Anwesenheit) und „Sensing“ (Spüren).
  • Um diesen Zustand zu erreichen, müssen sich Denken, Fühlen und Wollen öffnen.
  • Dafür ist es notwendig, innere Widerstände und Ängste zu überwinden.
  • Sie müssen das Staunen neu lernen und sich von früheren Meinungen ve­r­ab­schieden.
  • Or­gan­i­sa­tio­nen kann es gelingen, durch den offenen Austausch ihrer Mitglieder Impulse aufzunehmen und zu neuartigen Lösungsansätzen zu finden.
  • Das entstehende Neue muss hinterfragt werden. Scheitern beschle­u­nigt das Lernen.
  • In den meisten Unternehmen ist die Kom­mu­nika­tion noch zu stark rit­u­al­isiert, als dass es zu einem wirklichen Austausch kommen könnte.
 

Zusammenfassung

Aus der Zukunft lernen

Augen zu und durch. Das mit dem Klimawandel wird schon nicht so schlimm werden, den Hunger kriegen wir irgendwie in den Griff, vielleicht sogar Aids. Glob­al­isierung ist auch etwas Gutes, sagen zumindest die Politiker. Bloß nicht darüber nachdenken, dass es so nicht weitergehen kann, dass hier ein System den Turbo eingelegt hat – und gle­ichzeitig im Leerlauf dreht.

„Die Krise unserer Zeit offenbart das Sterben einer veralteten sozialen Struktur und einer bestimmten Art des Denkens.“

Was tun, wenn das Vertraute zerbröckelt? Der erste Impuls: zurück zu den Traditionen. Das ist der fun­da­men­tal­is­tis­che Ansatz. Klüger wäre jedoch ein Aufbruch, ein Weg nach vorn. Der beginnt mit der Frage: Warum handelt ein Mensch so und nicht anders? Die Antwort lautet wahrschein­lich: Weil er es so gelernt hat. Nun lernen die meisten aus der Ver­gan­gen­heit. Das ist aber, so überraschend es klingen mag, nicht die einzige Option. Es ist auch möglich, aus der Zukunft zu lernen. Genauer gesagt: aus der sich gerade en­twick­el­nden Zukunft.

„Die alten Formen der Führung zerfallen ähnlich wie die Berliner Mauer.“

Für dieses Lernen steht der Begriff „Presencing“ – er führt „Presence“ (Anwesenheit) und „Sensing“ (Spüren) zusammen. Wer die Zukunft gestalten will, muss sie erkennen, während sie sich entwickelt. Dazu bedarf es einer inneren Aufgeschlossen­heit. Wer darauf setzt, vergangene Erfahrungen auf künftige En­twick­lun­gen zu übertragen, wird scheitern. Aufgeschlossen­heit setzt Aufmerk­samkeit voraus. Diese lässt sich in vier Aufmerk­samkeits­felder unterteilen:

  1. Ich in mir: was ich ausgehend von meinen üblichen Seh- und Denkge­wohn­heiten wahrnehme.
  2. Ich im Es: was ich wahrnehme, wenn ich meine Sinne und mein Denken für Neues öffne.
  3. Ich im Du: was ich wahrnehme, wenn ich beginne, aus der Sichtweise des anderen zu sehen.
  4. Ich im Presencing: was ich wahrnehme, wenn ich vom Grund des Seienden her sehe und die vorhandenen Zukunftsmöglichkeiten spüre.

Theorie U

Wo entstehen unsere Handlungen, unser Lachen und Weinen, unser Zuschlagen oder Zurückweichen? Für die meisten Menschen ist dieser innere Ort ein blinder Fleck. Doch er lässt sich erkunden. Der Prozess kann an einem U ve­r­an­schaulicht werden: Auf der linken Seite steht das Innehalten, das In­fragestellen des Bekannten, das Erspüren eines möglichen Neuen und das Loslassen. Am Scheit­elpunkt des U vollzieht sich das „Presencing“: Neues Wissen entsteht. Und auf der rechten Seite des U ermöglicht das neue Wissen Hand­lungs­felder, die ausprobiert und schließlich umgesetzt werden.

„Es gibt zwei Aus­gangspunkte für Lern­prozesse: die Ver­gan­gen­heit und die im Entstehen begriffene Zukunft.“

Um einen solchen Prozess zu ermöglichen, muss sich das Denken öffnen – obwohl die inneren Widerstände dagegen sprechen. Auch das Fühlen muss sich öffnen – obwohl Zynismus viel leichter fällt. Und der Wille muss sich öffnen – trotz der damit verbundenen Angst.

Wem all das zu abstrakt klingt, der sollte einen Blick darauf werfen, wie mit Wis­sens­man­age­ment in Unternehmen umgegangen wird. Früher wurden In­for­ma­tio­nen in Daten­spe­ich­ern abgelagert, wo sie ungenutzt herumlagen. Was fehlte, war die Verbindung von explizitem und implizitem Wissen. Diese lässt sich am leichtesten im persönlichen Austausch erreichen. Doch das ist noch nicht alles: Beim Austausch ergibt sich mitunter etwas Neues, etwas zwar Gewusstes, was aber bislang nicht abgerufen wurde. Diese Art des Wissens sorgt für den kreativen Schub. Es ist das wichtigste Wissen, über das Unternehmen verfügen können – wenn sie willens und bereit sind, dafür Möglichkeitsräume zu schaffen.

Vom Wahrnehmen zum Handeln

Die heutigen Her­aus­forderun­gen für die Unternehmen sind dermaßen komplex, dass sie mit den herge­brachten Methoden kaum bewältigt werden können. Die Zukunft schreibt nie einfach die Ver­gan­gen­heit fort. Umso wichtiger ist es, sich neuen Ansätzen zu öffnen. Das ist allerdings schwierig, denn das menschliche Denken basiert auf Gewohn­heitsmustern. Was einmal als richtig und zum Erfolg führend erkannt worden ist, bietet künftig Ori­en­tierung. Um sich von diesen Denkge­wohn­heiten zu dis­tanzieren, braucht es Zeit und Energie.

„Wir sind nicht in der Lage, generativ auf die aktuellen Her­aus­forderun­gen zu antworten, solange wir uns nicht mit dem eigentlichen Grund­prob­lem kon­fron­tieren: uns selbst.“

Der Prozess beginnt mit dem Hinsehen, dem Wahrnehmen. Oft beauftragen Firmen externe Berater damit, doch diese Aufgabe kann nicht ausgelagert werden. Nur wer selbst seine Umwelt wahrnimmt, kann sie auch verstehen – und sie verändern. Je komplexer diese Umwelt ist, desto notwendiger wird es, sie mit den eigenen Sinnen wahrzunehmen. Es gilt zu lernen, das Unvertraute nicht zu nivellieren, sondern es als anders und widersprüchlich anzuerken­nen und es evtl. als Basis neuer Gedankengänge zu nehmen. Un­vor­ein­genom­men­heit ist das Ziel. Es ist an der Zeit, das Staunen neu zu lernen. Das erweitert die Wahrnehmung, hin zum „Sensing“.

„Staunen ist der Keim für den U-Prozess.“

Während Sensing zu einer Fokussierung auf das Gegenwärtige führt, richtet „Presencing“ die Wahrnehmung auf etwas mögliches Zukünftiges. Es geht darum, durch das Tor des Neuen zu gehen und dabei alles hinter sich zu lassen, was nicht wesentlich ist. Damit wird eine Verbindung geschaffen, die zu den Möglichkeiten des Denkens und Handelns verdichtet werden kann. Und daraus wiederum folgt schließlich praktisches Handeln, zuerst als ex­per­i­mentelles „Prototyping“. Frühes Scheitern steht hier für schnelleres Lernen. Erst im ständigen Aus­pro­bieren und Verwerfen, im neuen Versuch und im Abgleich mit Stimmen von außen und innen entsteht so etwas Tragfähiges, das nützt und Bestand hat.

Vier Ebenen des Austauschs

Alle Menschen leben in sozialen Netzwerken, wozu auch Unternehmen gehören. Sie in­ter­agieren durch Gespräche und andere Kom­mu­nika­tions­for­men und halten sich dabei an vier Formen des Austauschs:

  1. Runterladen: Der formelle Austausch (Höflichkeits- und andere Floskeln) beinhaltet gemeinhin, nicht zu sagen, was man denkt, sondern was erwartet wird. Weil wirklich relevante Punkte nicht ange­sprochen werden, bleibt eine Veränderung aus.
  2. Debatte: Meinungen und Standpunkte werden offen aus­ge­tauscht. Dadurch bietet sich die Chance, un­ter­schiedliche Per­spek­tiven nachzu­vol­lziehen und die daraus abgeleit­eten Argumente aufzunehmen.
  3. Dialog: Offenheit für den Standpunkt des anderen, gekoppelt mit Empathie, bringt das Gespräch auf eine höhere Ebene. Die Aufmerk­samkeit für den anderen und dafür, was er sagt, steigt. Die Perspektive weitet sich.
  4. Presencing: Die Zeit verlangsamt, die Atmosphäre verdichtet und der Raum erweitert sich. Die Grenzen zwischen den Gesprächspartnern lösen sich auf, ein Flow entsteht und mit ihm eine tiefe Ver­bun­den­heit, die über die Situation hin­aus­re­icht und sich häufig in einem späteren gemeinsamen Handeln beweist.
„Der Aus­gangspunkt eines jeden Veränderung­sprozesses ist das Vermögen, die Wirk­lichkeit zu sehen.“

In vielen Or­gan­i­sa­tio­nen werden diese vier Stufen aber nicht durchlaufen. Stattdessen herrschen Muster vor, die Grenzen setzen und diese zementieren. Letztlich wird das System dys­funk­tional.

Analog zu den Formen des Austauschs können auch Or­gan­i­sa­tio­nen in vier Stufen unterteilt werden: zentral, dezentral, vernetzt und in einem ganzheitlichen Ökosystem agierend. Während es für die ersten zwei Formen (wie auch für die Vermengung der beiden) man­nig­faltige Beispiele gibt, wird die dritte Stufe von Unternehmen bestenfalls in Teil­bere­ichen erreicht. Der vierte Schritt, der ein Sehen und Handeln vom entste­hen­den Ganzen her fordert, ist in den meisten Firmen im Moment noch eine Utopie. Er erfordert, sich über die Or­gan­i­sa­tion­s­gren­zen hinweg in die relevanten sozialen Kontexte einzuschal­ten und in den Dialog einzutreten. Ein Unternehmen, das den Kontakt mit den relevanten sozialen Gruppen verliert, kann auf Dauer nicht überleben. Aber­tausende von Fir­men­pleiten il­lus­tri­eren diese Erkenntnis. Viele Manager haben lange Zeit nicht wahrhaben wollen, was sich draußen in der Welt abspielt, und sie wussten ebenso wenig, was im eigenen Betrieb wirklich abging. Die Realität und die Vorstellung derselben klafften immer weiter auseinander.

Hoffen auf eine neue Elite

Wenn die gesellschaftlichen Eliten auf soziale Her­aus­forderun­gen nicht mehr kreativ reagieren können, steht gemäß dem Historiker Arnold Toynbee ein struk­tureller Wandel bevor. Alte soziale Formen werden dann durch neue ersetzt. An einem solchen Punkt stehen wir heute. Die Versuche, politische, wirtschaftliche oder gesellschaftliche Strukturen durch den Rückgriff auf Bewährtes zum Positiven zu verändern, sind zum Scheitern verurteilt, das zeigt sich tagtäglich. Nötig sind Ansätze, die über das Vertraute hinausgehen. Dazu zählt, das Gemeinwesen von den Bürgern und nicht vom Staat definieren zu lassen und das Verständnis von Geld zu hin­ter­fra­gen, um dieses innovativ und gestaltend zu nutzen.

„Die revolutionäre Kraft dieses Jahrhun­derts ist das Erwachen einer tiefen schöpferischen men­schlichen Fähigkeit.“

Die autis­tis­chen Systeme müssen dazu gebracht werden, neue Impulse von außen aufzunehmen. Nur so können adap­tierende Systeme entstehen, die sich neuen Her­aus­forderun­gen und Rah­menbe­din­gun­gen anpassen. Die Akteure in selb­stre­flex­iven Systemen müssen sich austauschen und so lernen, andere Standpunkte anzunehmen. Den Beteiligten muss klar werden, in welchem Kontext sie agieren. Das Ziel besteht darin, zu generativen Systemen zu gelangen. Dabei wird nicht nur das Ganze in den Blick genommen, sondern das zukünftige Ganze – da sind wir wieder beim Presencing. Das ist der Weg der Führung, für jeden Manager. Er erlaubt ihm, sich nicht länger als Gefangener des Systems zu sehen, sondern aus sich heraus gewünschte Veränderungen anzustoßen. Der Weg vom Opfer zum Schöpfer führt über fünf Schritte:

  1. Gemeinsame In­ten­tions­bil­dung: Damit ist ein Achten und Hinhören auf Fragen und Impulse gemeint – bei sich selbst, aber auch bei anderen. Dann gilt es, Beziehungen zu knüpfen und einen Dialog mit in­ter­essierten Akteuren zu führen. Intentionen brauchen Räume – Gruppen von Menschen –, in denen sie weit­er­en­twick­elt und vo­r­angetrieben werden können.
  2. Gemeinsame Wahrnehmung: Ein überschaubares und motiviertes Team ist willens, Neuland zu betreten. Nicht das Urteilen ist wichtig, sondern die Fähigkeit, staunen zu können. Dafür ist es nötig, Denken, Herz und Willen dem Neuen und den anderen zu öffnen.
  3. Gemeinsame Wil­lens­bil­dung: Was gestern war, gilt nicht mehr – es bleibt zurück. Der Widerstand, das Vertraute aufzugeben, muss überwunden werden. Erst dann kann man die Zukunft kommen lassen.
  4. Gemeinsames Erproben: Es geht darum, nicht lange auf das perfekte Ergebnis hinzuar­beiten, sondern ex­per­i­mentelle Prototypen zu schaffen, Feedbacks zu sammeln und auf diese Weise weit­erzukom­men.
  5. Gemeinsames Gestalten: Das Neue wird in die Welt gebracht.
„Denken ist eine revolutionäre Kraft. Denken schafft Wirk­lichkeit.“

Was fehlt, damit es wirklich losgeht, sind ökonomische, politische und (in Schulen und Universitäten) kulturelle In­fra­struk­turen – sowie eine Kerngruppe von Menschen, die es schafft, den Anstoß zu geben für eine Erneuerung der Zivil­i­sa­tion von innen heraus. Die Zeit ist reif.

Über den Autor

Claus Otto Scharmer lehrt am Mass­a­chu­setts Institute of Technology (MIT) in Boston. Promoviert hat der gebürtige Schleswig-Hol­steiner in Witten/Herdecke im Bereich Ökonomie und Management. Er ist als Berater für Konzerne wie Daimler, Google oder Price­wa­ter­house­C­oop­ers sowie für in­ter­na­tionale In­sti­tu­tio­nen und Nichtregierung­sor­gan­i­sa­tio­nen tätig.