Aus der Zukunft lernen
Augen zu und durch. Das mit dem Klimawandel wird schon nicht so schlimm werden, den Hunger kriegen wir irgendwie in den Griff, vielleicht sogar Aids. Globalisierung ist auch etwas Gutes, sagen zumindest die Politiker. Bloß nicht darüber nachdenken, dass es so nicht weitergehen kann, dass hier ein System den Turbo eingelegt hat – und gleichzeitig im Leerlauf dreht.
„Die Krise unserer Zeit offenbart das Sterben einer veralteten sozialen Struktur und einer bestimmten Art des Denkens.“
Was tun, wenn das Vertraute zerbröckelt? Der erste Impuls: zurück zu den Traditionen. Das ist der fundamentalistische Ansatz. Klüger wäre jedoch ein Aufbruch, ein Weg nach vorn. Der beginnt mit der Frage: Warum handelt ein Mensch so und nicht anders? Die Antwort lautet wahrscheinlich: Weil er es so gelernt hat. Nun lernen die meisten aus der Vergangenheit. Das ist aber, so überraschend es klingen mag, nicht die einzige Option. Es ist auch möglich, aus der Zukunft zu lernen. Genauer gesagt: aus der sich gerade entwickelnden Zukunft.
„Die alten Formen der Führung zerfallen ähnlich wie die Berliner Mauer.“
Für dieses Lernen steht der Begriff „Presencing“ – er führt „Presence“ (Anwesenheit) und „Sensing“ (Spüren) zusammen. Wer die Zukunft gestalten will, muss sie erkennen, während sie sich entwickelt. Dazu bedarf es einer inneren Aufgeschlossenheit. Wer darauf setzt, vergangene Erfahrungen auf künftige Entwicklungen zu übertragen, wird scheitern. Aufgeschlossenheit setzt Aufmerksamkeit voraus. Diese lässt sich in vier Aufmerksamkeitsfelder unterteilen:
- Ich in mir: was ich ausgehend von meinen üblichen Seh- und Denkgewohnheiten wahrnehme.
- Ich im Es: was ich wahrnehme, wenn ich meine Sinne und mein Denken für Neues öffne.
- Ich im Du: was ich wahrnehme, wenn ich beginne, aus der Sichtweise des anderen zu sehen.
- Ich im Presencing: was ich wahrnehme, wenn ich vom Grund des Seienden her sehe und die vorhandenen Zukunftsmöglichkeiten spüre.
Theorie U
Wo entstehen unsere Handlungen, unser Lachen und Weinen, unser Zuschlagen oder Zurückweichen? Für die meisten Menschen ist dieser innere Ort ein blinder Fleck. Doch er lässt sich erkunden. Der Prozess kann an einem U veranschaulicht werden: Auf der linken Seite steht das Innehalten, das Infragestellen des Bekannten, das Erspüren eines möglichen Neuen und das Loslassen. Am Scheitelpunkt des U vollzieht sich das „Presencing“: Neues Wissen entsteht. Und auf der rechten Seite des U ermöglicht das neue Wissen Handlungsfelder, die ausprobiert und schließlich umgesetzt werden.
„Es gibt zwei Ausgangspunkte für Lernprozesse: die Vergangenheit und die im Entstehen begriffene Zukunft.“
Um einen solchen Prozess zu ermöglichen, muss sich das Denken öffnen – obwohl die inneren Widerstände dagegen sprechen. Auch das Fühlen muss sich öffnen – obwohl Zynismus viel leichter fällt. Und der Wille muss sich öffnen – trotz der damit verbundenen Angst.
Wem all das zu abstrakt klingt, der sollte einen Blick darauf werfen, wie mit Wissensmanagement in Unternehmen umgegangen wird. Früher wurden Informationen in Datenspeichern abgelagert, wo sie ungenutzt herumlagen. Was fehlte, war die Verbindung von explizitem und implizitem Wissen. Diese lässt sich am leichtesten im persönlichen Austausch erreichen. Doch das ist noch nicht alles: Beim Austausch ergibt sich mitunter etwas Neues, etwas zwar Gewusstes, was aber bislang nicht abgerufen wurde. Diese Art des Wissens sorgt für den kreativen Schub. Es ist das wichtigste Wissen, über das Unternehmen verfügen können – wenn sie willens und bereit sind, dafür Möglichkeitsräume zu schaffen.
Vom Wahrnehmen zum Handeln
Die heutigen Herausforderungen für die Unternehmen sind dermaßen komplex, dass sie mit den hergebrachten Methoden kaum bewältigt werden können. Die Zukunft schreibt nie einfach die Vergangenheit fort. Umso wichtiger ist es, sich neuen Ansätzen zu öffnen. Das ist allerdings schwierig, denn das menschliche Denken basiert auf Gewohnheitsmustern. Was einmal als richtig und zum Erfolg führend erkannt worden ist, bietet künftig Orientierung. Um sich von diesen Denkgewohnheiten zu distanzieren, braucht es Zeit und Energie.
„Wir sind nicht in der Lage, generativ auf die aktuellen Herausforderungen zu antworten, solange wir uns nicht mit dem eigentlichen Grundproblem konfrontieren: uns selbst.“
Der Prozess beginnt mit dem Hinsehen, dem Wahrnehmen. Oft beauftragen Firmen externe Berater damit, doch diese Aufgabe kann nicht ausgelagert werden. Nur wer selbst seine Umwelt wahrnimmt, kann sie auch verstehen – und sie verändern. Je komplexer diese Umwelt ist, desto notwendiger wird es, sie mit den eigenen Sinnen wahrzunehmen. Es gilt zu lernen, das Unvertraute nicht zu nivellieren, sondern es als anders und widersprüchlich anzuerkennen und es evtl. als Basis neuer Gedankengänge zu nehmen. Unvoreingenommenheit ist das Ziel. Es ist an der Zeit, das Staunen neu zu lernen. Das erweitert die Wahrnehmung, hin zum „Sensing“.
„Staunen ist der Keim für den U-Prozess.“
Während Sensing zu einer Fokussierung auf das Gegenwärtige führt, richtet „Presencing“ die Wahrnehmung auf etwas mögliches Zukünftiges. Es geht darum, durch das Tor des Neuen zu gehen und dabei alles hinter sich zu lassen, was nicht wesentlich ist. Damit wird eine Verbindung geschaffen, die zu den Möglichkeiten des Denkens und Handelns verdichtet werden kann. Und daraus wiederum folgt schließlich praktisches Handeln, zuerst als experimentelles „Prototyping“. Frühes Scheitern steht hier für schnelleres Lernen. Erst im ständigen Ausprobieren und Verwerfen, im neuen Versuch und im Abgleich mit Stimmen von außen und innen entsteht so etwas Tragfähiges, das nützt und Bestand hat.
Vier Ebenen des Austauschs
Alle Menschen leben in sozialen Netzwerken, wozu auch Unternehmen gehören. Sie interagieren durch Gespräche und andere Kommunikationsformen und halten sich dabei an vier Formen des Austauschs:
- Runterladen: Der formelle Austausch (Höflichkeits- und andere Floskeln) beinhaltet gemeinhin, nicht zu sagen, was man denkt, sondern was erwartet wird. Weil wirklich relevante Punkte nicht angesprochen werden, bleibt eine Veränderung aus.
- Debatte: Meinungen und Standpunkte werden offen ausgetauscht. Dadurch bietet sich die Chance, unterschiedliche Perspektiven nachzuvollziehen und die daraus abgeleiteten Argumente aufzunehmen.
- Dialog: Offenheit für den Standpunkt des anderen, gekoppelt mit Empathie, bringt das Gespräch auf eine höhere Ebene. Die Aufmerksamkeit für den anderen und dafür, was er sagt, steigt. Die Perspektive weitet sich.
- Presencing: Die Zeit verlangsamt, die Atmosphäre verdichtet und der Raum erweitert sich. Die Grenzen zwischen den Gesprächspartnern lösen sich auf, ein Flow entsteht und mit ihm eine tiefe Verbundenheit, die über die Situation hinausreicht und sich häufig in einem späteren gemeinsamen Handeln beweist.
„Der Ausgangspunkt eines jeden Veränderungsprozesses ist das Vermögen, die Wirklichkeit zu sehen.“
In vielen Organisationen werden diese vier Stufen aber nicht durchlaufen. Stattdessen herrschen Muster vor, die Grenzen setzen und diese zementieren. Letztlich wird das System dysfunktional.
Analog zu den Formen des Austauschs können auch Organisationen in vier Stufen unterteilt werden: zentral, dezentral, vernetzt und in einem ganzheitlichen Ökosystem agierend. Während es für die ersten zwei Formen (wie auch für die Vermengung der beiden) mannigfaltige Beispiele gibt, wird die dritte Stufe von Unternehmen bestenfalls in Teilbereichen erreicht. Der vierte Schritt, der ein Sehen und Handeln vom entstehenden Ganzen her fordert, ist in den meisten Firmen im Moment noch eine Utopie. Er erfordert, sich über die Organisationsgrenzen hinweg in die relevanten sozialen Kontexte einzuschalten und in den Dialog einzutreten. Ein Unternehmen, das den Kontakt mit den relevanten sozialen Gruppen verliert, kann auf Dauer nicht überleben. Abertausende von Firmenpleiten illustrieren diese Erkenntnis. Viele Manager haben lange Zeit nicht wahrhaben wollen, was sich draußen in der Welt abspielt, und sie wussten ebenso wenig, was im eigenen Betrieb wirklich abging. Die Realität und die Vorstellung derselben klafften immer weiter auseinander.
Hoffen auf eine neue Elite
Wenn die gesellschaftlichen Eliten auf soziale Herausforderungen nicht mehr kreativ reagieren können, steht gemäß dem Historiker Arnold Toynbee ein struktureller Wandel bevor. Alte soziale Formen werden dann durch neue ersetzt. An einem solchen Punkt stehen wir heute. Die Versuche, politische, wirtschaftliche oder gesellschaftliche Strukturen durch den Rückgriff auf Bewährtes zum Positiven zu verändern, sind zum Scheitern verurteilt, das zeigt sich tagtäglich. Nötig sind Ansätze, die über das Vertraute hinausgehen. Dazu zählt, das Gemeinwesen von den Bürgern und nicht vom Staat definieren zu lassen und das Verständnis von Geld zu hinterfragen, um dieses innovativ und gestaltend zu nutzen.
„Die revolutionäre Kraft dieses Jahrhunderts ist das Erwachen einer tiefen schöpferischen menschlichen Fähigkeit.“
Die autistischen Systeme müssen dazu gebracht werden, neue Impulse von außen aufzunehmen. Nur so können adaptierende Systeme entstehen, die sich neuen Herausforderungen und Rahmenbedingungen anpassen. Die Akteure in selbstreflexiven Systemen müssen sich austauschen und so lernen, andere Standpunkte anzunehmen. Den Beteiligten muss klar werden, in welchem Kontext sie agieren. Das Ziel besteht darin, zu generativen Systemen zu gelangen. Dabei wird nicht nur das Ganze in den Blick genommen, sondern das zukünftige Ganze – da sind wir wieder beim Presencing. Das ist der Weg der Führung, für jeden Manager. Er erlaubt ihm, sich nicht länger als Gefangener des Systems zu sehen, sondern aus sich heraus gewünschte Veränderungen anzustoßen. Der Weg vom Opfer zum Schöpfer führt über fünf Schritte:
- Gemeinsame Intentionsbildung: Damit ist ein Achten und Hinhören auf Fragen und Impulse gemeint – bei sich selbst, aber auch bei anderen. Dann gilt es, Beziehungen zu knüpfen und einen Dialog mit interessierten Akteuren zu führen. Intentionen brauchen Räume – Gruppen von Menschen –, in denen sie weiterentwickelt und vorangetrieben werden können.
- Gemeinsame Wahrnehmung: Ein überschaubares und motiviertes Team ist willens, Neuland zu betreten. Nicht das Urteilen ist wichtig, sondern die Fähigkeit, staunen zu können. Dafür ist es nötig, Denken, Herz und Willen dem Neuen und den anderen zu öffnen.
- Gemeinsame Willensbildung: Was gestern war, gilt nicht mehr – es bleibt zurück. Der Widerstand, das Vertraute aufzugeben, muss überwunden werden. Erst dann kann man die Zukunft kommen lassen.
- Gemeinsames Erproben: Es geht darum, nicht lange auf das perfekte Ergebnis hinzuarbeiten, sondern experimentelle Prototypen zu schaffen, Feedbacks zu sammeln und auf diese Weise weiterzukommen.
- Gemeinsames Gestalten: Das Neue wird in die Welt gebracht.
„Denken ist eine revolutionäre Kraft. Denken schafft Wirklichkeit.“
Was fehlt, damit es wirklich losgeht, sind ökonomische, politische und (in Schulen und Universitäten) kulturelle Infrastrukturen – sowie eine Kerngruppe von Menschen, die es schafft, den Anstoß zu geben für eine Erneuerung der Zivilisation von innen heraus. Die Zeit ist reif.