Eine weitere Wirtschaftstheorie – wozu?
Die Geschichte der Ökonomie hat von der Antike bis heute eine ganze Reihe von Denkschulen hervorgebracht. Die Bandbreite reicht von Merkantilisten, Utilitaristen, Physiokraten, Manchesterkapitalisten, Nationalökonomen, Liberalen, Keynesianern, Neoliberalen und Kommunisten bis hin zu modernen Verhaltensökonomen und Spieltheoretikern.
„Es hat den Anschein, als wäre die Ökonomie nicht in der Lage, auf bestimmte elementare Fragen eindeutige Antworten zu finden.“
So schlüssig die einzelnen Konzepte für sich waren und sind: Sie widersprechen sich in wichtigen Fragen gegenseitig. Die Keynesianer wollen etwa Konjunkturschwächen mit höheren Staatsausgaben bekämpfen, während die Anhänger von Milton Friedman – die Monetaristen – auf die Selbstheilungskraft des Marktes schwören. Andere glauben die Arbeitslosigkeit mit Lohnsenkungen beseitigen zu können – und wieder andere wollen sie genau zu diesem Zweck erhöhen. Solch widersprüchliche Empfehlungen verwirren sowohl Politiker als auch Unternehmer. Mögen sich die einzelnen Lehrmeinungen auch immer mal wieder bestätigt sehen: Allzu häufig scheitern sie. Nötig ist eine allgemeingültige, widerspruchsfreie Wirtschaftstheorie.
Die Relativitätsökonomie
Der neue Denkansatz rückt die Menschen ins Zentrum, denn immerhin sind sie es, die die Wirtschaft vorantreiben. Ihr Handeln wird von drei Grundbedingungen bestimmt: Können (Fähigkeiten und Ressourcen), Dürfen (Recht, Moral und Gewissen) und Wollen (rationale, emotionale und intuitive Erwartungen). Die Relation dieser drei Komponenten bewegt die Wirtschaft – daher der Begriff „Relativitätsökonomie“. Die drei Grundbedingungen wiederum bestehen jeweils aus verschiedenen Elementen. In der Wirtschaft gibt es nichts Absolutes, sondern nur Relatives: Alles erhält erst durch seine Beziehung zu anderem seine Bedeutung und sein Gewicht. Die Menschen lassen sich bei ihren Entscheidungen von subjektiven Einschätzungen der positiven und negativen Folgen leiten. Sie trachten danach, das Verhältnis von Positivem und Negativem zu optimieren. Dieser neue, grundsätzliche Ansatz integriert alle vorangegangenen und versucht damit das wirtschaftliche Verhalten in sämtlichen Gesellschaftsformen zu erklären.
Der Unterschied zu anderen Theorien
Die bisher entwickelten Ökonomietheorien beschäftigen sich mehr mit der Sache – z. B. mit Preisen, Umsätzen und Gewinnen – als mit den Akteuren und ihren Bedürfnissen. Als Schablone dient vielen Theorien der vollkommen rationale und topinformierte Homo oeconomicus. Das ist ein wirklichkeitsfremdes Menschenbild. Zwar beziehen neuere Denkansätze durchaus irrationale Verhaltensweisen mit ein, aber das geschieht nicht systematisch. Es gibt kein einheitliches Modell, in dem die Akteure sowohl rational als auch irrational und intuitiv agieren, in dem sie materielle und immaterielle Interessen haben und mit ihrem Umfeld in Interaktion treten. Der Lösungsansatz vieler zeitgenössischer Ökonomen führt sogar eher weg von einem ganzheitlichen Prinzip: Mathematische Formeln und abstrakte Modelle blenden immer einen Teil der Wirklichkeit aus. Die menschlichen Fehler und Schwächen, etwa Egoismus und Ruhelosigkeit, gehören aber auch zum Wirtschaftsleben. Emotionen dienen beispielsweise dazu, Fakten zu gewichten – die beiden Aspekte sind also nicht voneinander zu trennen.
Nutzen ist mehr als nur Geld
Auch der Begriff „Nutzen“ wird in der Relativitätsökonomie umfassend definiert und als subjektiv erkannt. Er kann in Form von Geld oder als Gebrauchsnutzen auftreten – aber auch als Lob, Befriedigung oder Zusammengehörigkeitsgefühl. Die Gesamtheit der Nutzenskategorien wird als Positi bezeichnet. Die Positi helfen bei der Erklärung, warum sich Menschen unter scheinbar gleichen Bedingungen unterschiedlich verhalten. Wenn Sie beispielsweise zu einem bestimmten Preis eine Aktie kaufen, verhalten Sie sich entgegengesetzt zum Verkäufer.
„Der hier dargelegte Ansatz sollte sich als geeignet zeigen, alle anderen ökonomischen Ansätze unter einem Dach widerspruchsfrei zu vereinen.“
Neben den Positi gibt es auch die so genannten Negati. Darunter fallen z. B. Mobbing oder Gesundheitsgefahren. Das Verhältnis von Positi und Negati – die P/N-Relation – gibt den Ausschlag, ob Sie etwas tun wollen oder nicht. Die relativitätsökonomischen Begriffe Positi und Negati beziehen also psychologische Aspekte mit ein, doch die Gesetze aus der klassischen Ökonomie – z. B. vom abnehmenden Grenznutzen oder von der Gewinnmaximierung – bleiben damit vereinbar.
Regeln und Abweichungen
Für unser Handeln gibt es Regeln. Dennoch halten wir uns oft nicht an sie, nämlich dann, wenn unsere eigene Bewertung von jener der Gesellschaft abweicht. Bei einem Verbrecher, der nicht mit einer Verfolgung rechnet, ist die innere Bewertung mangelhaft – er schätzt seine Chancen viel zu hoch ein.
„Das neue Gedankengebäude vermag die ökonomischen Vorgänge in einer Demokratie ebenso wie die in einer Diktatur, die in einer Planwirtschaft ebenso wie die in einer Marktwirtschaft zu erklären.“
Aber auch die gründliche Kalkulation von Kosten und Nutzen kann dazu führen, dass sich jemand ungebührlich verhält. Als beispielsweise Kindergärten in Israel für die Eltern, die ihre Kinder zu spät abholten, ein Strafgeld einführten, sank die Spätabholer-Quote nicht etwa, wie es die klassische Lehre erwarten ließe. Im Gegenteil, sie erhöhte sich. Das lässt sich so erklären: Bevor es die Strafe gab, wirkte die gesellschaftliche Norm wie ein Druck auf die Eltern, ihr Kind pünktlich abzuholen. Die Zahlungsregel bot die Möglichkeit, sich von diesem Druck freizukaufen.
„Der Begriff Arbeitslosigkeit ist irreführend; denn Arbeit ist prinzipiell genug vorhanden, weil praktisch alles durch Arbeit verbessert werden kann.“
Menschen berücksichtigen zwar meistens die Wirkung, die ihr Tun auf sie selbst haben könnte (Innenwirkung). Sie vergessen aber, die Folgen ihres Handelns für andere zu reflektieren (Außenwirkung). Dieses Dilemma spricht dafür, wenn immer möglich das Verursacher- und das Verantwortungsprinzip durchzusetzen. Allerdings ist es in der wirtschaftlichen Praxis oft schwierig, eindeutige Ursache-Wirkungs-Beziehungen nachzuweisen, deshalb bieten entsprechende Regeln selbst Raum für subjektive Auslegungen.
Einige Prinzipien der Relativitätsökonomie
Die Preisbildung folgt nicht immer dem Wechselspiel von Angebot und Nachfrage. Das ist schon deshalb nicht der Fall, weil es viele Märkte gibt, die von Anbietern oder Nachfragern beeinflusst werden können. Im Einzelhandel, bei der Energieversorgung oder an Tankstellen sehen sich Verbraucher Oligopolen gegenüber, also wenigen, dafür aber sehr großen Konzernen. Hinzu kommt, dass Wettbewerb für Unternehmen mit Anstrengung verbunden ist; sie trachten danach, ihn zu umgehen. Außerdem kann die Preisbildung von staatlichen Einflüssen (Dürfen) geprägt sein, seien es Preisbindungen oder Subventionen.
„Stärke erwächst bei global operierenden Unternehmen nicht zwangsläufig aus eigener Kraft, sondern u. U. auch aus verwertbaren Kostenvorteilen.“
Es gibt nicht den einen Preis, bei dem ein Handel zustande kommen kann, sondern eine akzeptierte Preisspanne, innerhalb derer sich ausreichend viele Anbieter und Nachfrager auf einen Tausch einigen können. Während die bisherigen ökonomischen Theorien zur Preisbildung mit Ausnahmen arbeiten müssen, um die Vielfalt der Möglichkeiten abzubilden, integriert das „Preisakzeptanzgesetz“ sämtliche Fälle – z. B. auch jenen, dass bei steigender Nachfrage der Preis nicht steigt, sondern stabil bleibt oder fällt. Das liegt nach dem neuen Ansatz daran, dass der Verkäufer nicht nur Preisvorteile in sein Kalkül einbezieht, sondern auch Mengenvorteile. Vielleicht lastet er dank Mehrverkäufen seine Kapazitäten besser aus oder kann von Einkaufsvorteilen profitieren.
„Nur wenige Wirtschaftsdenker haben wichtige Anstöße zum ökonomischen Denken gegeben.“
Das „Prinzip der generellen Konkurrenz“ besagt, dass Menschen ihre Ressourcen nicht für alle, sondern nur für bestimmte Zwecke verwenden können. Sie müssen also auswählen, etwa zwischen dem Kauf einer Creme oder einem Abend im Kino. Nach der „Theorie der Vorwegnahme zukünftiger Ereignisse“ richten Menschen ihr wirtschaftliches Handeln an ihren jeweiligen Zukunftserwartungen aus.
Konjunktur als psychologisches Phänomen
Die bisherigen Konjunkturtheorien erklären nicht das Ganze, sondern immer nur Teile des Wirtschaftsgeschehens. Weder das Zinsniveau noch Erfindungen oder Kaufkraftmängel können für sich allein das konjunkturelle Auf und Ab erklären. Der neue Ansatz setzt als Konjunkturbedingung einen Dreiklang aus Können, Wollen und Dürfen voraus – bei Konsumenten ebenso wie bei Produzenten. Zudem müssen diese drei Faktoren bei beiden in die gleiche Richtung wirken. Harmonie ist wichtig; es hat keinen Sinn, nur einen Faktor zu stärken oder einen schwachen zu ignorieren. Zu niedrige Zinsen z. B. bringen das Verhältnis durcheinander, woraufhin eine konjunkturelle Blase entsteht. Bei allzu rosigen Zukunftserwartungen übersteigt der Konsum temporär die Einkommen der Menschen. Dieser Stimmungsfaktor wird vom relativitätsökonomischen Denken berücksichtigt, um Konjunkturwellen zu erklären.
Merkwürdigkeiten der Globalisierung
Global tätige Unternehmen können sich – anders als rein nationale – aus mehreren staatlichen Regelwerken die passende Kombination aussuchen: In einem Land profitieren sie von Steuersubventionen, im anderen bauen sie Genprodukte an. Aus dieser Kombinationsmöglichkeit von Standortvorteilen ergibt sich ein Paradoxon: Globalisierte Unternehmen können selbst dann höhere Gewinne erzielen, wenn sie unwirtschaftlicher mit Ressourcen umgehen als ihre nationalen Wettbewerber. So schadet beispielsweise die niedrige Produktivität der Arbeitskräfte in Niedriglohnländern den Konzernen nicht: Der Kostenvorteil der tiefen Löhne überwiegt. Das Paradoxon globalisierter Märkte besteht darin, dass die weniger effektiven Unternehmen mit gleichem Kapitaleinsatz die effektiveren aus dem Feld schlagen können.
Wie lässt sich Arbeitslosigkeit bekämpfen?
Es gibt keinen Mangel an Arbeit. Im Gegenteil: Zu tun gibt es immer was. Arbeitslosigkeit rührt allein daher, dass ein Mangel an Können, Wollen und Dürfen besteht, d. h. die Bedingungen stimmen nicht. Arbeitslosigkeit lässt sich deshalb nicht bekämpfen, indem man einfach Löhne senkt oder – um die Kaufkraft zu steigern – erhöht. Vielmehr müssen Defizite aufgespürt und ausgemerzt werden, welche die Arbeit behindern, z. B. die Qualifikation der Arbeitnehmer, die Risikobereitschaft der Unternehmer oder die Bürokratie des Staates. Auch die psychische Verfassung von Arbeitslosen und ihre Anreize, eine zumutbare Arbeit anzunehmen, sind wichtige Stellschrauben.
Die US-Immobilienkrise
Ein eigenes Heim, zu erwartende Wertsteigerung, günstige Finanzierung: Das Verhältnis von Positi und Negati fiel vor dem Jahr 2005 für Immobilieninteressierte in den USA besonders eindeutig aus. Es signalisierte keinerlei Risiken beim Hauskauf. Als die solventen Käuferschichten sich bedient hatten, erhöhten neue Verschuldungsinstrumente die Kaufkraft weniger vermögender Schichten. Mit anderen Worten steigerten sie deren Können, in den Markt einzusteigen. Aus psychologischer Sicht baute sich regelrecht ein Druck auf, den Superboom nicht zu verpassen. Die hohen Boni der Banker wiederum hatten die Funktion, das schlechte Gewissen zu beruhigen. Sie stabilisierten deren inneres Normengefüge, weshalb die Finanzverkäufer trotz aller Bedenken weitermachen konnten. Das äußere Regelwerk – der Gesetzgeber – reagierte nicht auf dieses Treiben, gelähmt durch die Tätigkeit von Lobbyisten. Als die Zinsen stiegen, veränderte sich die P/N-Relation der Marktteilnehmer schlagartig. Seitdem sind die Risiken wieder Bestandteil der individuellen Betrachtung, und zwar in einem sehr hohen Maß.