Relativitätsökonomie

Buch Relativitätsökonomie

Die menschlichen Motive wirtschaftlichen Handelns

Wiley-VCH,


Rezension

Sind alle Ökonomen Idioten? Manch einer erklärte die Disziplin angesichts des kol­la­bieren­den Fi­nanzsys­tems bereits für kläglich gescheitert. Tatsächlich wider­sprechen sich die bekannten Modelle, sagt Bruno Hollnagel – selbst Mitglied der um­strit­te­nen Zunft. Gerade diesen Missstand aber nimmt er zum Anlass, um eine neue Theorie in die Welt zu setzen. Die Aha-Effekte, die er seinen Lesern verspricht, dürften sich allerdings vor allem bei Studenten des Fachs einstellen. Wer mit der Materie besser vertraut ist, muss eher mit Déjà-vu-Er­leb­nis­sen rechnen. Hollnagel geht unverfroren ans Thema heran, manche seiner Einsichten sind erfrischend, aber hinter neuen Begriffen wie „Positi“ und „Negati“ oder dem „Es­komp­tion­s­the­o­rem der Erwartung“ verbergen sich altbekannte Phänomene. Ein gut recher­chierter Überblick, meint BooksInShort – der aber nicht wirklich den Namen „Theorie“ verdient. Das Buch ist Ökonomen, Analysten, Investoren und Entschei­dern zu empfehlen, die einen ungewohnten Blick auf gängige Modelle werfen wollen.

Take-aways

  • Die großen Wirtschaft­s­the­o­rien wider­sprechen sich in wesentlichen Punkten.
  • Die „Relativitätsökonomie“ integriert die ver­schiede­nen Theorien und löst die Widersprüche auf.
  • Sie bezieht irrationale und intuitive Ver­hal­tensweisen der Menschen ebenso mit ein wie deren soziale Interaktion.
  • Menschen wägen die positiven Folgen ihrer Entschei­dun­gen („Positi“) gegen die negativen („Negati“) ab und versuchen, diese P/N-Relation zu optimieren.
  • Es gibt keine ein­heitliche Wahrnehmung einer bestimmten Situation.
  • Viele wirtschaftliche Fehlentschei­dun­gen kommen zustande, weil die Akteure nur die Folgen für sich selbst einkalkulieren, nicht aber die für andere.
  • Wirtschaftliches Handeln beruht auf drei Faktoren: Können, Dürfen und Wollen.
  • Konjunktur entsteht dann, wenn diese drei Faktoren bei Anbietern und Nachfragern ausgewogen sind und in die gleiche Richtung zielen.
  • Globale Unternehmen profitieren von Vorteilen ver­schiedener Staaten. Sie können nationale Konkur­renten in die Knie zwingen, selbst wenn sie weniger effizient sind.
  • Es gibt nie einen Mangel an Arbeit. Es gilt jene Faktoren zu eliminieren, die Arbeit behindern, z. B. mangelnde Ausbildung oder Bürokratie.
 

Zusammenfassung

Eine weitere Wirtschaft­s­the­o­rie – wozu?

Die Geschichte der Ökonomie hat von der Antike bis heute eine ganze Reihe von Denkschulen her­vorge­bracht. Die Bandbreite reicht von Merkan­tilis­ten, Util­i­taris­ten, Phys­iokraten, Man­ches­terkap­i­tal­is­ten, Nationalökonomen, Liberalen, Key­ne­sian­ern, Ne­olib­eralen und Kommunisten bis hin zu modernen Verhaltensökonomen und Spielthe­o­retik­ern.

„Es hat den Anschein, als wäre die Ökonomie nicht in der Lage, auf bestimmte elementare Fragen eindeutige Antworten zu finden.“

So schlüssig die einzelnen Konzepte für sich waren und sind: Sie wider­sprechen sich in wichtigen Fragen gegenseitig. Die Keynesianer wollen etwa Kon­junk­turschwächen mit höheren Staat­saus­gaben bekämpfen, während die Anhänger von Milton Friedman – die Mon­e­taris­ten – auf die Selb­s­theilungskraft des Marktes schwören. Andere glauben die Ar­beit­slosigkeit mit Lohnsenkun­gen beseitigen zu können – und wieder andere wollen sie genau zu diesem Zweck erhöhen. Solch widersprüchliche Empfehlun­gen verwirren sowohl Politiker als auch Unternehmer. Mögen sich die einzelnen Lehrmei­n­un­gen auch immer mal wieder bestätigt sehen: Allzu häufig scheitern sie. Nötig ist eine allgemeingültige, wider­spruchs­freie Wirtschaft­s­the­o­rie.

Die Relativitätsökonomie

Der neue Denkansatz rückt die Menschen ins Zentrum, denn immerhin sind sie es, die die Wirtschaft vo­rantreiben. Ihr Handeln wird von drei Grundbe­din­gun­gen bestimmt: Können (Fähigkeiten und Ressourcen), Dürfen (Recht, Moral und Gewissen) und Wollen (rationale, emotionale und intuitive Erwartungen). Die Relation dieser drei Komponenten bewegt die Wirtschaft – daher der Begriff „Relativitätsökonomie“. Die drei Grundbe­din­gun­gen wiederum bestehen jeweils aus ver­schiede­nen Elementen. In der Wirtschaft gibt es nichts Absolutes, sondern nur Relatives: Alles erhält erst durch seine Beziehung zu anderem seine Bedeutung und sein Gewicht. Die Menschen lassen sich bei ihren Entschei­dun­gen von subjektiven Einschätzungen der positiven und negativen Folgen leiten. Sie trachten danach, das Verhältnis von Positivem und Negativem zu optimieren. Dieser neue, grundsätzliche Ansatz integriert alle vo­r­ange­gan­genen und versucht damit das wirtschaftliche Verhalten in sämtlichen Gesellschafts­for­men zu erklären.

Der Unterschied zu anderen Theorien

Die bisher en­twick­el­ten Ökonomi­ethe­o­rien beschäftigen sich mehr mit der Sache – z. B. mit Preisen, Umsätzen und Gewinnen – als mit den Akteuren und ihren Bedürfnissen. Als Schablone dient vielen Theorien der vollkommen rationale und top­in­formierte Homo oeconomicus. Das ist ein wirk­lichkeits­fremdes Men­schen­bild. Zwar beziehen neuere Denkansätze durchaus irrationale Ver­hal­tensweisen mit ein, aber das geschieht nicht sys­tem­a­tisch. Es gibt kein ein­heitliches Modell, in dem die Akteure sowohl rational als auch irrational und intuitiv agieren, in dem sie materielle und im­ma­terielle Interessen haben und mit ihrem Umfeld in Interaktion treten. Der Lösungsansatz vieler zeitgenössischer Ökonomen führt sogar eher weg von einem ganzheitlichen Prinzip: Math­e­ma­tis­che Formeln und abstrakte Modelle blenden immer einen Teil der Wirk­lichkeit aus. Die men­schlichen Fehler und Schwächen, etwa Egoismus und Ruh­elosigkeit, gehören aber auch zum Wirtschaft­sleben. Emotionen dienen beispiel­sweise dazu, Fakten zu gewichten – die beiden Aspekte sind also nicht voneinander zu trennen.

Nutzen ist mehr als nur Geld

Auch der Begriff „Nutzen“ wird in der Relativitätsökonomie umfassend definiert und als subjektiv erkannt. Er kann in Form von Geld oder als Ge­brauch­snutzen auftreten – aber auch als Lob, Be­friedi­gung oder Zusammengehörigkeitsgefühl. Die Gesamtheit der Nutzen­skat­e­gorien wird als Positi bezeichnet. Die Positi helfen bei der Erklärung, warum sich Menschen unter scheinbar gleichen Bedingungen un­ter­schiedlich verhalten. Wenn Sie beispiel­sweise zu einem bestimmten Preis eine Aktie kaufen, verhalten Sie sich ent­ge­genge­setzt zum Verkäufer.

„Der hier dargelegte Ansatz sollte sich als geeignet zeigen, alle anderen ökonomischen Ansätze unter einem Dach wider­spruchs­frei zu vereinen.“

Neben den Positi gibt es auch die so genannten Negati. Darunter fallen z. B. Mobbing oder Gesund­heits­ge­fahren. Das Verhältnis von Positi und Negati – die P/N-Relation – gibt den Ausschlag, ob Sie etwas tun wollen oder nicht. Die relativitätsökonomischen Begriffe Positi und Negati beziehen also psy­chol­o­gis­che Aspekte mit ein, doch die Gesetze aus der klassischen Ökonomie – z. B. vom abnehmenden Grenznutzen oder von der Gewin­n­max­imierung – bleiben damit vereinbar.

Regeln und Ab­we­ichun­gen

Für unser Handeln gibt es Regeln. Dennoch halten wir uns oft nicht an sie, nämlich dann, wenn unsere eigene Bewertung von jener der Gesellschaft abweicht. Bei einem Verbrecher, der nicht mit einer Verfolgung rechnet, ist die innere Bewertung mangelhaft – er schätzt seine Chancen viel zu hoch ein.

„Das neue Gedankengebäude vermag die ökonomischen Vorgänge in einer Demokratie ebenso wie die in einer Diktatur, die in einer Plan­wirtschaft ebenso wie die in einer Mark­twirtschaft zu erklären.“

Aber auch die gründliche Kalkulation von Kosten und Nutzen kann dazu führen, dass sich jemand ungebührlich verhält. Als beispiel­sweise Kindergärten in Israel für die Eltern, die ihre Kinder zu spät abholten, ein Strafgeld einführten, sank die Spätab­holer-Quote nicht etwa, wie es die klassische Lehre erwarten ließe. Im Gegenteil, sie erhöhte sich. Das lässt sich so erklären: Bevor es die Strafe gab, wirkte die gesellschaftliche Norm wie ein Druck auf die Eltern, ihr Kind pünktlich abzuholen. Die Zahlungsregel bot die Möglichkeit, sich von diesem Druck freizukaufen.

„Der Begriff Ar­beit­slosigkeit ist irreführend; denn Arbeit ist prinzipiell genug vorhanden, weil praktisch alles durch Arbeit verbessert werden kann.“

Menschen berücksichtigen zwar meistens die Wirkung, die ihr Tun auf sie selbst haben könnte (In­nen­wirkung). Sie vergessen aber, die Folgen ihres Handelns für andere zu re­flek­tieren (Außenwirkung). Dieses Dilemma spricht dafür, wenn immer möglich das Verur­sacher- und das Ve­r­ant­wor­tung­sprinzip durchzuset­zen. Allerdings ist es in der wirtschaftlichen Praxis oft schwierig, eindeutige Ur­sache-Wirkungs-Beziehun­gen nachzuweisen, deshalb bieten entsprechende Regeln selbst Raum für subjektive Auslegungen.

Einige Prinzipien der Relativitätsökonomie

Die Preis­bil­dung folgt nicht immer dem Wech­sel­spiel von Angebot und Nachfrage. Das ist schon deshalb nicht der Fall, weil es viele Märkte gibt, die von Anbietern oder Nachfragern beeinflusst werden können. Im Einzel­han­del, bei der En­ergiev­er­sorgung oder an Tankstellen sehen sich Verbraucher Oligopolen gegenüber, also wenigen, dafür aber sehr großen Konzernen. Hinzu kommt, dass Wettbewerb für Unternehmen mit Anstrengung verbunden ist; sie trachten danach, ihn zu umgehen. Außerdem kann die Preis­bil­dung von staatlichen Einflüssen (Dürfen) geprägt sein, seien es Preis­bindun­gen oder Sub­ven­tio­nen.

„Stärke erwächst bei global operieren­den Unternehmen nicht zwangsläufig aus eigener Kraft, sondern u. U. auch aus ver­w­ert­baren Kosten­vorteilen.“

Es gibt nicht den einen Preis, bei dem ein Handel zustande kommen kann, sondern eine akzeptierte Preisspanne, innerhalb derer sich ausreichend viele Anbieter und Nachfrager auf einen Tausch einigen können. Während die bisherigen ökonomischen Theorien zur Preis­bil­dung mit Ausnahmen arbeiten müssen, um die Vielfalt der Möglichkeiten abzubilden, integriert das „Preisakzep­tanzge­setz“ sämtliche Fälle – z. B. auch jenen, dass bei steigender Nachfrage der Preis nicht steigt, sondern stabil bleibt oder fällt. Das liegt nach dem neuen Ansatz daran, dass der Verkäufer nicht nur Preisvorteile in sein Kalkül einbezieht, sondern auch Men­gen­vorteile. Vielleicht lastet er dank Mehrverkäufen seine Kapazitäten besser aus oder kann von Einkaufsvorteilen profitieren.

„Nur wenige Wirtschafts­denker haben wichtige Anstöße zum ökonomischen Denken gegeben.“

Das „Prinzip der generellen Konkurrenz“ besagt, dass Menschen ihre Ressourcen nicht für alle, sondern nur für bestimmte Zwecke verwenden können. Sie müssen also auswählen, etwa zwischen dem Kauf einer Creme oder einem Abend im Kino. Nach der „Theorie der Vorwegnahme zukünftiger Ereignisse“ richten Menschen ihr wirtschaftliches Handeln an ihren jeweiligen Zukun­ft­ser­wartun­gen aus.

Konjunktur als psy­chol­o­gis­ches Phänomen

Die bisherigen Kon­junk­tur­the­o­rien erklären nicht das Ganze, sondern immer nur Teile des Wirtschafts­geschehens. Weder das Zinsniveau noch Erfindungen oder Kaufkraftmängel können für sich allein das kon­junk­turelle Auf und Ab erklären. Der neue Ansatz setzt als Kon­junk­turbe­din­gung einen Dreiklang aus Können, Wollen und Dürfen voraus – bei Konsumenten ebenso wie bei Produzenten. Zudem müssen diese drei Faktoren bei beiden in die gleiche Richtung wirken. Harmonie ist wichtig; es hat keinen Sinn, nur einen Faktor zu stärken oder einen schwachen zu ignorieren. Zu niedrige Zinsen z. B. bringen das Verhältnis durcheinan­der, woraufhin eine kon­junk­turelle Blase entsteht. Bei allzu rosigen Zukun­ft­ser­wartun­gen übersteigt der Konsum temporär die Einkommen der Menschen. Dieser Stim­mungs­fak­tor wird vom relativitätsökonomischen Denken berücksichtigt, um Kon­junk­tur­wellen zu erklären.

Merkwürdigkeiten der Glob­al­isierung

Global tätige Unternehmen können sich – anders als rein nationale – aus mehreren staatlichen Regelwerken die passende Kombination aussuchen: In einem Land profitieren sie von Steuer­sub­ven­tio­nen, im anderen bauen sie Genprodukte an. Aus dieser Kom­bi­na­tionsmöglichkeit von Stan­dortvorteilen ergibt sich ein Paradoxon: Glob­al­isierte Unternehmen können selbst dann höhere Gewinne erzielen, wenn sie un­wirtschaftlicher mit Ressourcen umgehen als ihre nationalen Wet­tbe­wer­ber. So schadet beispiel­sweise die niedrige Produktivität der Arbeitskräfte in Niedriglohnländern den Konzernen nicht: Der Kosten­vorteil der tiefen Löhne überwiegt. Das Paradoxon glob­al­isierter Märkte besteht darin, dass die weniger effektiven Unternehmen mit gleichem Kap­i­talein­satz die ef­fek­tiv­eren aus dem Feld schlagen können.

Wie lässt sich Ar­beit­slosigkeit bekämpfen?

Es gibt keinen Mangel an Arbeit. Im Gegenteil: Zu tun gibt es immer was. Ar­beit­slosigkeit rührt allein daher, dass ein Mangel an Können, Wollen und Dürfen besteht, d. h. die Bedingungen stimmen nicht. Ar­beit­slosigkeit lässt sich deshalb nicht bekämpfen, indem man einfach Löhne senkt oder – um die Kaufkraft zu steigern – erhöht. Vielmehr müssen Defizite aufgespürt und ausgemerzt werden, welche die Arbeit behindern, z. B. die Qual­i­fika­tion der Ar­beit­nehmer, die Risikobere­itschaft der Unternehmer oder die Bürokratie des Staates. Auch die psychische Verfassung von Ar­beit­slosen und ihre Anreize, eine zumutbare Arbeit anzunehmen, sind wichtige Stellschrauben.

Die US-Im­mo­bilienkrise

Ein eigenes Heim, zu erwartende Wert­steigerung, günstige Fi­nanzierung: Das Verhältnis von Positi und Negati fiel vor dem Jahr 2005 für Im­mo­bilien­in­ter­essierte in den USA besonders eindeutig aus. Es sig­nal­isierte keinerlei Risiken beim Hauskauf. Als die solventen Käufer­schichten sich bedient hatten, erhöhten neue Ver­schul­dungsin­stru­mente die Kaufkraft weniger vermögender Schichten. Mit anderen Worten steigerten sie deren Können, in den Markt einzusteigen. Aus psy­chol­o­gis­cher Sicht baute sich regelrecht ein Druck auf, den Superboom nicht zu verpassen. Die hohen Boni der Banker wiederum hatten die Funktion, das schlechte Gewissen zu beruhigen. Sie sta­bil­isierten deren inneres Normengefüge, weshalb die Finanzverkäufer trotz aller Bedenken weit­er­ma­chen konnten. Das äußere Regelwerk – der Gesetzgeber – reagierte nicht auf dieses Treiben, gelähmt durch die Tätigkeit von Lobbyisten. Als die Zinsen stiegen, veränderte sich die P/N-Relation der Mark­t­teil­nehmer schlagartig. Seitdem sind die Risiken wieder Bestandteil der in­di­vidu­ellen Betrachtung, und zwar in einem sehr hohen Maß.

Über den Autor

Bruno Hollnagel ist Doktor der Wirtschaftswis­senschaften sowie Bau- und Wirtschaftsin­ge­nieur. Er arbeitet als Port­fo­lioman­ager.