Flexibler produzieren
Fabriken sind Rückgrat unserer modernen Industrie- und Dienstleistungsgesellschaft. Doch heutige industrielle Produktionsprozesse dauern zu lange. Während kürzere Produktzyklen und höhere Qualitätsansprüche eine rasche, genaue und flexible Produktion erfordern, hapert es mit der Umsetzung. Die Teilprozesse sind zu schlecht vernetzt, die Anlaufzeit ist zu lang und zu viele Produkte enden als Ausschuss: Die neuen Anforderungen an Tempo und Präzision, mit denen viele Produzenten überfordert sind, ergeben sich aus dem Wandel vieler Märkte von Verkäufer- zu Käufermärkten. Mit dem weltweiten Wettbewerb steigt die Zahl der Anbieter; die Konsumenten werden immer wählerischer. Die lukrative Strategie, mit hoch differenzierten Nischenprodukten Wettbewerbsvorsprünge zu erzielen, erweitert die Produktpalette der Unternehmen und verkleinert Stückzahlen und Skaleneffekte einer Serie. Deshalb ist es immer dringender nötig, Produktionsmethoden anzupassen.
Was ist eine digitale Fabrik?
In einer digitalen Fabrik werden Produkt, Produktionsprozess und Produktionsort dreidimensional in Modellen dargestellt, untersucht und erprobt. Diese digitale Gestaltung von Produkten und Prozessen ist übergreifend, d. h. nicht auf Teilschritte beschränkt. Dafür ist eine massive Unterstützung durch Rechner und geeignete Softwarewerkzeuge nötig. Das virtuelle Produkt wird in einem Product-Data-Management-System (PDM-System) verwaltet, das sich zum Product-Lifecycle-Management (PLM) ausbauen lässt. Dieses beinhaltet den gesamten Lebenszyklus des Produkts und seiner Produktion in digitaler Form.
Vorgeschichte der digitalen Fabrik
Flächendeckend in Unternehmen zum Einsatz kamen Computer ab Mitte der 1970er Jahre – zur Textverarbeitung. Anschließend nutzten Konstrukteure Programme zum Computer-Aided Design (CAD). Erste Umsetzungen der Fabrikplanung per CAD folgten Ende der 80er Jahre bei Daimler-Benz und VW. Bis heute besteht aber die Rechnerunterstützung in Planung und Produktion (Computer-Aided Manufacturing, CAM) vorwiegend aus Insellösungen. Die isolierten Anwendungsbereiche zu verknüpfen, ist Ziel des Konzepts Computer-Integrated Manufacturing (CIM). Es berücksichtigt sowohl technische als auch betriebswirtschaftliche Daten. In der Praxis erwies sich das Ideal von CIM – die vollautomatisierte, menschenleere Fabrik – als technisch machbar. So montierte Volkswagen den Golf II in einer solchen Werkhalle. Doch die Nachteile überwogen den Nutzen: Unterschätzt wurden Schnittstellenprobleme zwischen Softwareanwendungen und zwischen Programmiersprachen. Ebenso schlugen die hohen Umrüstungskosten zu Buche – ein schwerer Makel bei zunehmender Variantenvielfalt. Das Produktionskonzept des Lean Manufacturing setzte daraufhin wieder stärker auf den Faktor Mensch als auf IT.
Industriekonzerne sind Vorreiter
Vorreiterbranchen in Sachen digitale Fabrik sind der Automobilbau sowie die Luft- und Raumfahrtindustrie. Alle großen Fahrzeughersteller haben sich entschieden, die digitale Fabrik einzuführen. Daraus ergibt sich ein Anpassungsbedarf für Maschinen- und Anlagenbauer, die als Lieferanten für die Autoindustrie tätig sind. Die Lieferanten erlangen immer mehr Kompetenz, was die Methoden und Werkzeuge der digitalen Fabrik betrifft. Ein Anlagenlieferant muss wegen der digitalen Datenströme des Kunden beispielsweise entweder dessen Software beherrschen oder sie in eigene Software integrieren können. Auch im Schiffbau ist das Konzept der digitalen Fabrik relativ weit vorangeschritten. Treiber sind hier die individuellen Kundenwünsche und der Platzbedarf. Selbst in der Getränkeindustrie gibt es erste Anwender. Mixgetränke, Event-Etiketten und neue Flaschenformen treiben auch in dieser Branche den Trend zur Kleinserie voran.
Vorteile der digitalen Fabrik
Die digitale Fabrik wird Produktionsstandard der Zukunft. Ihren wichtigsten Vorteilen:
- Niedrigere Produktionskosten: Bei den Einmalkosten sind die Einsparungen durch die vermiedenen Planungsfehler (–70 %) und die kürzere Planungszeit (–30 %) beträchtlich. In der Serienproduktion wirken sich aber die um 3–5 % geringeren Herstellungskosten noch viel stärker aus. Der Daimler-Konzern führt eine höhere Auslastung und weniger Änderungskosten im Produktionsanlauf auf die bisherige Umsetzung der digitalen Fabrik zurück.
- Kürzere Durchlaufzeit: Sie können die Durchlaufzeit des Produkts optimieren, indem Sie Lager, Transport und Arbeitsplätze besser aufeinander abstimmen. Das spielt vor allem in der Autoindustrie eine Rolle: Weil die Durchlaufzeit in den Montagewerken sehr lang ist, lohnt sich die akribische Suche nach Abkürzungen und das Aufdecken von Engpässen.
- Geringere Planungszeit: Die Planungszeit des Schiffbauers Meyer hat sich um rund 50 % verkürzt und die Planungssicherheit wurde erhöht. Mit Simultaneous Engineering ist es möglich, gleichzeitig Produkt und Produktionsanlage zu entwickeln.
- Weniger Kommunikationsaufwand: Die Transfergeschwindigkeit ist beim Versand digitaler Daten ungleich höher als bei der Übermittlung per Post. Das Senden detaillierter Ausschreibungsunterlagen für eine Teillieferung zur VW-Golf-Produktion dauert auf Papier zwei Wochen und online nur einen Nachmittag. Digitale Modelle müssen zudem nicht verpackt werden.
- Schnellerer Produktionsbeginn: Audi berichtet von einer kürzeren Zeitspanne von der Entwicklung bis zum Verkaufsbeginn.
- Höhere Produktqualität: Produkte und Prozesse erreichen einen höheren Reifegrad, weil jeder Umsetzungsschritt vorab mit virtuellen Techniken abgesichert und verbessert wird. Außerdem können Sie Alternativen rasch entwerfen und in einem digitalen Versuchsmodell (Digital Mock-up) prüfen.
- Optimierte Produktionsstätte: Simulieren lassen sich Fabrikmodelle bis hin zur mobilen Fabrik, die schnell kundennah platziert werden kann. Ein Werk von Daimler wurde in Ungarn doppelt so schnell errichtet wie vorherige Fabriken.
- Verzahnungsgewinne: Die digitalen Planungsdaten können nahtlos zur Programmierung der Steuerung von Robotern und Maschinen eingesetzt werden – und zur Veranschaulichung beim Einreichen von Ausschreibungsunterlagen.
- Anpassung des laufenden Betriebs: Nach Inbetriebnahme leisten die Planungswerkzeuge Hilfe bei der Umsetzung von Verbesserungsideen, Produktmodifikationen oder Anpassungen an die Nachfrage. Die Produktionsleittechnik auf Basis der einfließenden Ist-Daten verbessert zudem Ihre künftigen Planungsmodelle.
Noch nicht digital fabrizierender Mittelstand
Zu den Nachzüglern zählt der Mittelstand: 2005 nutzten erst 20 % der kleinen und mittleren Unternehmen (KMU) in Deutschland Werkzeuge der digitalen Fabrik. Die verfügbare Software ist meist auf Konzerne zugeschnitten, zu umfangreich für KMU, die Lizenzen sind oft zu teuer. Anders als in Großunternehmen gibt es in KMU zudem keine spezialisierten Planungsabteilungen. Für KMU ist es ratsam, sich von externen Beratern helfen zu lassen. Dafür stehen Hochschulen, Ingenieurbüros und Unternehmensberatungen bereit – auch mit kollaborativen, d. h. gemeinsam genutzten Werkzeugen wie Großprojektionsanlagen.
Einsatzgebiete im Betrieb
Ihre Fabrik- und Gebäudeplanung sollte beinhalten, dass sich Ziele und Produkte des Unternehmens ändern können. Wandlungsfähigkeit ist ein Schlüsselfaktor. Ein Zwei-D- oder Drei-D-Planungstisch gewährt betroffenen Mitarbeitern frühe Einsicht in ihre künftigen Arbeitsplätze, so können Ideen Ihrer Beschäftigten einfließen. In der Produktionsplanung lassen sich digitale Analysen vielfältig einsetzen, sei es zur Planung von Lackierprozessen oder der Fließbandbelegung, zur Prüfung von Montagehandgriffen auf ergonomische Verträglichkeit. Ebenso können Sie Produktionslayout, Logistik sowie Anlagenanlauf und -betrieb simulieren. Messdaten über Gebäude, Bewegungsabläufe und Materialfluss erhalten Sie durch Drei-D-Laserscanning, RFID-Funkchips oder durch Einsetzen von Probanden in Motion-Capturing-Anzügen. Die Visualisierung wird mit technischen Hilfsmitteln sehr erleichtert, z. B. mit Multiprojektionsräumen, wo Beamer realistische Eindrücke vermitteln, und mit Interaktionsmedien wie Drei-D-Maus, Datenhandschuh oder Positionsbrille.
Software als Werkzeug
In einem Unternehmen gibt es erfahrungsgemäß viele Softwarewerkzeuge unterschiedlicher Herkunft und verschiedenen Alters. Wichtig ist, dass sich die Werkzeuge koppeln lassen und sie damit interoperabel werden. Die digitale Fabrik benutzt Werkzeuge wie CAD- bzw. CAM-Programme, Datenbanken, Planungswerkzeuge, Steuerungssoftware sowie Software für übergreifende Querschnittsaufgaben, z. B. das Projekt- oder Workflow-Management. Siemens und Dassault Systèmes dominieren diesen Markt, aber auch kleinere Anbieter wie die Firma xPLM Solution liefern Softwareplattformen für die digitale Fabrik. Für die Analyse der Prozesse kommen auch mathematische Methoden oder Spielformen der künstlichen Intelligenz in Betracht. Neuronale Netze zeichnen sich durch ihre Lernfähigkeit aus.
Einführung der digitalen Fabrik
Die digitale Fabrik lässt sich entweder anhand des Produkts einführen, z. B. bei der Neuplanung einer Serienfertigung, oder produktunspezifisch anhand des Materialflusses und Layouts einer bestehenden Fabrik. KMU sollten sich dem Thema projektbezogen nähern. Das neue Konzept wird allerdings nur dann zum Erfolg, wenn die Mitarbeiter es akzeptieren. Wenn Sie die Beschäftigten frühzeitig einbinden, erhöhen Sie die Akzeptanz. Die Benutzerfreundlichkeit von Software sollte ein Kriterium bei der Anschaffung sein. Sinnvoll ist ein Pilotprojekt: Bevor Sie das Konzept im ganzen Unternehmen einführen, probieren Sie Methoden und Werkzeuge in einem Bereich aus, in dem Sie eine hohe Erfolgswahrscheinlichkeit vermuten. In der Vorbereitungsphase legen Sie Ziele der digitalen Fabrik sowie den Zeitplan fest. In der Konzeptphase etablieren Sie ein Projektteam, das von Managern aus Produktionsleitung, Planungsleitung und IT-Leitung geführt wird. Mitglieder des Teams definieren die konkreten Aufgaben, wählen die Werkzeuge aus und kalkulieren den Schulungsbedarf. In der Umsetzungsphase werden die Software aufgespielt, die Nutzer weitergebildet und der Anwendersupport eingerichtet.
Engpässe in der Umsetzung
Das Konzept der digitalen Fabrik kann dazu beitragen, den Produktionsstandort Deutschland zu erhalten. Vermutlich gibt es aber derzeit kein Unternehmen, das die Idee der digitalen Fabrik allumfassend umgesetzt hat. Noch fehlen häufig die integrierten und standardisierten Prozesse oder das durchgängige Datenmanagement. In Teilbereichen ist die digitale Fabrik allerdings bereits Realität, vor allem in der Produktentwicklung, seltener in der Produktions- und Fabrikplanung. Das liegt u. a. daran, dass die Softwareprodukte für diese Bereiche noch kein gemeinsames Datenmanagement nutzen. An der Verknüpfung arbeiten die Softwareanbieter bereits. Für die weitere Verbreitung ist die Standardisierung der IT-Systeme, Methoden, Modelle, Werkzeuge und Schnittstellen der entscheidende Engpass. Wenn den Unternehmen diese Vereinfachung gelingt, verringert sich der Aufwand für die immer wieder notwendigen Änderungen in der industriellen Produktion. Auch die Organisationsstruktur müssen Sie anpassen. Keinesfalls sollten Sie den informationstechnischen und organisatorischen Aufwand unterschätzen, der mit der digitalen Fabrik verbunden ist.