Digitale Fabrik

Buch Digitale Fabrik

Methoden und Praxisbeispiele

Springer,


Rezension

Noch ist die digitale Fabrik etwas weitgehend Abstraktes, zu besichtigen vor allem in Planungsbüros. Es gibt aber eine Reihe großer Unternehmen, in deren Werkhallen sich erste Ansätze einer komplett rechnergestützten, flex­i­bil­isierten In­dus­triepro­duk­tion erkennen lassen. Ihr Potenzial ist immens, sagen die Autoren dieses Buches und greifen sowohl auf ihre eigenen Erfahrungen als Ingenieure und Lo­gis­tik­fach­leute zurück als auch auf eindrückliche Beispiele, die zum größten Teil aus der Au­to­mo­bilin­dus­trie stammen. Wie aus einer Vielfalt in­for­ma­tion­stech­nis­cher Insellösungen dereinst ein großes, verknüpftes Ganzes werden soll, ahnt man nur mit viel Vorstel­lungsvermögen, aber das Buch liefert eine Menge Anregungen – und auch die nötigen Warnungen. BooksInShort empfiehlt es allen Pro­duk­tionsver­ant­wortlichen, die nach Ef­fizien­zre­ser­ven Ausschau halten.

Take-aways

  • Fabriken sind das Rückgrat unserer modernen Industrie- und Di­en­stleis­tungs­ge­sellschaft
  • Die Produktion muss immer flexibler, genauer und klein­se­ri­en­tauglicher werden.
  • In einer digitalen Fabrik werden Produkte und Pro­duk­tion­sprozesse virtuell dargestellt, untersucht und erprobt.
  • Ihr Kern sind rechnergestützte, drei­di­men­sion­ale Sim­u­la­tio­nen und Vi­su­al­isierun­gen.
  • • Anwender berichten von vermiedenen Pla­nungs­fehlern, kürzeren An­laufzeiten, höherer Pro­duk­tqualität und niedrigeren Her­stel­lungskosten.
  • • Vorreiter sind Großkonzerne, vor allem in der Automobil- und Luft­fahrtin­dus­trie sowie im Schiffbau.
  • Noch hat vermutlich kein Unternehmen eine vollständige digitale Fabrik ein­gerichtet.
  • Der Mittelstand zögert – aus Kapazitätsmangel und Kostengründen.
  • Unterschätzen Sie nicht den in­for­ma­tion­stech­nis­chen und or­gan­isatorischen Aufwand, der mit einer digitalen Fabrik verbunden ist.
  • Achten Sie auf die An­wen­der­fre­undlichkeit der Soft­warew­erkzeuge.
 

Zusammenfassung

Flexibler produzieren

Fabriken sind Rückgrat unserer modernen Industrie- und Di­en­stleis­tungs­ge­sellschaft. Doch heutige in­dus­trielle Pro­duk­tion­sprozesse dauern zu lange. Während kürzere Pro­duk­tzyklen und höhere Qualitätsansprüche eine rasche, genaue und flexible Produktion erfordern, hapert es mit der Umsetzung. Die Teil­prozesse sind zu schlecht vernetzt, die Anlaufzeit ist zu lang und zu viele Produkte enden als Ausschuss: Die neuen An­forderun­gen an Tempo und Präzision, mit denen viele Produzenten überfordert sind, ergeben sich aus dem Wandel vieler Märkte von Verkäufer- zu Käufermärkten. Mit dem weltweiten Wettbewerb steigt die Zahl der Anbieter; die Konsumenten werden immer wählerischer. Die lukrative Strategie, mit hoch dif­feren­zierten Nis­chen­pro­duk­ten Wet­tbe­werb­svor­sprünge zu erzielen, erweitert die Pro­duk­t­palette der Unternehmen und verkleinert Stückzahlen und Skalen­ef­fekte einer Serie. Deshalb ist es immer dringender nötig, Pro­duk­tion­s­meth­o­den anzupassen.

Was ist eine digitale Fabrik?

In einer digitalen Fabrik werden Produkt, Pro­duk­tion­sprozess und Pro­duk­tion­sort drei­di­men­sional in Modellen dargestellt, untersucht und erprobt. Diese digitale Gestaltung von Produkten und Prozessen ist übergreifend, d. h. nicht auf Teilschritte beschränkt. Dafür ist eine massive Unterstützung durch Rechner und geeignete Soft­warew­erkzeuge nötig. Das virtuelle Produkt wird in einem Prod­uct-Data-Man­age­ment-Sys­tem (PDM-System) verwaltet, das sich zum Prod­uct-Life­cy­cle-Man­age­ment (PLM) ausbauen lässt. Dieses beinhaltet den gesamten Leben­szyk­lus des Produkts und seiner Produktion in digitaler Form.

Vorgeschichte der digitalen Fabrik

Flächendeckend in Unternehmen zum Einsatz kamen Computer ab Mitte der 1970er Jahre – zur Textver­ar­beitung. Anschließend nutzten Kon­struk­teure Programme zum Com­puter-Aided Design (CAD). Erste Umsetzungen der Fab­rik­pla­nung per CAD folgten Ende der 80er Jahre bei Daim­ler-Benz und VW. Bis heute besteht aber die Rech­nerun­terstützung in Planung und Produktion (Com­puter-Aided Man­u­fac­tur­ing, CAM) vorwiegend aus Insellösungen. Die isolierten An­wen­dungs­bere­iche zu verknüpfen, ist Ziel des Konzepts Com­puter-In­te­grated Man­u­fac­tur­ing (CIM). Es berücksichtigt sowohl technische als auch be­trieb­swirtschaftliche Daten. In der Praxis erwies sich das Ideal von CIM – die vol­lau­toma­tisierte, men­schen­leere Fabrik – als technisch machbar. So montierte Volkswagen den Golf II in einer solchen Werkhalle. Doch die Nachteile überwogen den Nutzen: Unterschätzt wurden Schnittstel­len­prob­leme zwischen Soft­ware­an­wen­dun­gen und zwischen Pro­gram­mier­sprachen. Ebenso schlugen die hohen Umrüstungskosten zu Buche – ein schwerer Makel bei zunehmender Vari­anten­vielfalt. Das Pro­duk­tion­skonzept des Lean Man­u­fac­tur­ing setzte daraufhin wieder stärker auf den Faktor Mensch als auf IT.

In­dus­triekonz­erne sind Vorreiter

Vor­re­it­er­branchen in Sachen digitale Fabrik sind der Au­to­mo­bil­bau sowie die Luft- und Raum­fahrtin­dus­trie. Alle großen Fahrzeugher­steller haben sich entschieden, die digitale Fabrik einzuführen. Daraus ergibt sich ein An­pas­sungs­be­darf für Maschinen- und An­la­gen­bauer, die als Lieferanten für die Au­toin­dus­trie tätig sind. Die Lieferanten erlangen immer mehr Kompetenz, was die Methoden und Werkzeuge der digitalen Fabrik betrifft. Ein An­la­gen­liefer­ant muss wegen der digitalen Datenströme des Kunden beispiel­sweise entweder dessen Software beherrschen oder sie in eigene Software integrieren können. Auch im Schiffbau ist das Konzept der digitalen Fabrik relativ weit vo­r­angeschrit­ten. Treiber sind hier die in­di­vidu­ellen Kundenwünsche und der Platzbedarf. Selbst in der Getränkein­dus­trie gibt es erste Anwender. Mixgetränke, Event-Etiket­ten und neue Flaschen­for­men treiben auch in dieser Branche den Trend zur Kleinserie voran.

Vorteile der digitalen Fabrik

Die digitale Fabrik wird Pro­duk­tion­s­stan­dard der Zukunft. Ihren wichtigsten Vorteilen:

  • Niedrigere Pro­duk­tion­skosten: Bei den Ein­malkosten sind die Einsparun­gen durch die vermiedenen Pla­nungs­fehler (–70 %) und die kürzere Pla­nungszeit (–30 %) beträchtlich. In der Se­rien­pro­duk­tion wirken sich aber die um 3–5 % geringeren Her­stel­lungskosten noch viel stärker aus. Der Daim­ler-Konz­ern führt eine höhere Auslastung und weniger Änderungskosten im Pro­duk­tion­san­lauf auf die bisherige Umsetzung der digitalen Fabrik zurück.
  • Kürzere Durch­laufzeit: Sie können die Durch­laufzeit des Produkts optimieren, indem Sie Lager, Transport und Arbeitsplätze besser aufeinander abstimmen. Das spielt vor allem in der Au­toin­dus­trie eine Rolle: Weil die Durch­laufzeit in den Mon­tagew­erken sehr lang ist, lohnt sich die akribische Suche nach Abkürzungen und das Aufdecken von Engpässen.
  • Geringere Pla­nungszeit: Die Pla­nungszeit des Schiff­bauers Meyer hat sich um rund 50 % verkürzt und die Pla­nungssicher­heit wurde erhöht. Mit Si­mul­ta­ne­ous Engineering ist es möglich, gle­ichzeitig Produkt und Pro­duk­tion­san­lage zu entwickeln.
  • Weniger Kom­mu­nika­tion­saufwand: Die Trans­fer­geschwindigkeit ist beim Versand digitaler Daten ungleich höher als bei der Übermittlung per Post. Das Senden de­tail­lierter Auss­chrei­bung­sun­ter­la­gen für eine Teil­liefer­ung zur VW-Golf-Pro­duk­tion dauert auf Papier zwei Wochen und online nur einen Nachmittag. Digitale Modelle müssen zudem nicht verpackt werden.
  • Schnellerer Pro­duk­tions­be­ginn: Audi berichtet von einer kürzeren Zeitspanne von der Entwicklung bis zum Verkaufs­be­ginn.
  • Höhere Pro­duk­tqualität: Produkte und Prozesse erreichen einen höheren Reifegrad, weil jeder Um­set­zungss­chritt vorab mit virtuellen Techniken abgesichert und verbessert wird. Außerdem können Sie Al­ter­na­tiven rasch entwerfen und in einem digitalen Ver­suchsmod­ell (Digital Mock-up) prüfen.
  • Optimierte Pro­duk­tion­sstätte: Simulieren lassen sich Fab­rik­mod­elle bis hin zur mobilen Fabrik, die schnell kundennah platziert werden kann. Ein Werk von Daimler wurde in Ungarn doppelt so schnell errichtet wie vorherige Fabriken.
  • Verzah­nungs­gewinne: Die digitalen Pla­nungs­daten können nahtlos zur Pro­gram­mierung der Steuerung von Robotern und Maschinen eingesetzt werden – und zur Ve­r­an­schaulichung beim Einreichen von Auss­chrei­bung­sun­ter­la­gen.
  • Anpassung des laufenden Betriebs: Nach In­be­trieb­nahme leisten die Pla­nungswerkzeuge Hilfe bei der Umsetzung von Verbesserungsideen, Pro­duk­t­mod­i­fika­tio­nen oder Anpassungen an die Nachfrage. Die Pro­duk­tion­sleit­tech­nik auf Basis der einfließenden Ist-Daten verbessert zudem Ihre künftigen Pla­nungsmod­elle.

Noch nicht digital fab­rizieren­der Mittelstand

Zu den Nachzüglern zählt der Mittelstand: 2005 nutzten erst 20 % der kleinen und mittleren Unternehmen (KMU) in Deutschland Werkzeuge der digitalen Fabrik. Die verfügbare Software ist meist auf Konzerne zugeschnit­ten, zu umfangreich für KMU, die Lizenzen sind oft zu teuer. Anders als in Großunternehmen gibt es in KMU zudem keine spezial­isierten Pla­nungsabteilun­gen. Für KMU ist es ratsam, sich von externen Beratern helfen zu lassen. Dafür stehen Hochschulen, Ingenieurbüros und Un­ternehmens­ber­atun­gen bereit – auch mit kol­lab­o­ra­tiven, d. h. gemeinsam genutzten Werkzeugen wie Großpro­jek­tion­san­la­gen.

Ein­satzge­bi­ete im Betrieb

Ihre Fabrik- und Gebäudeplanung sollte beinhalten, dass sich Ziele und Produkte des Un­ternehmens ändern können. Wandlungsfähigkeit ist ein Schlüsselfaktor. Ein Zwei-D- oder Drei-D-Pla­nungstisch gewährt betroffenen Mi­tar­beit­ern frühe Einsicht in ihre künftigen Arbeitsplätze, so können Ideen Ihrer Beschäftigten einfließen. In der Pro­duk­tion­s­pla­nung lassen sich digitale Analysen vielfältig einsetzen, sei es zur Planung von Lack­ier­prozessen oder der Fließband­bele­gung, zur Prüfung von Mon­tage­hand­grif­fen auf er­gonomis­che Verträglichkeit. Ebenso können Sie Pro­duk­tion­slay­out, Logistik sowie An­la­ge­nan­lauf und -betrieb simulieren. Messdaten über Gebäude, Be­we­gungsabläufe und Ma­te­ri­alfluss erhalten Sie durch Drei-D-Laser­scan­ning, RFID-Funkchips oder durch Einsetzen von Probanden in Mo­tion-Cap­tur­ing-Anzügen. Die Vi­su­al­isierung wird mit technischen Hil­f­s­mit­teln sehr erleichtert, z. B. mit Mul­ti­pro­jek­tionsräumen, wo Beamer re­al­is­tis­che Eindrücke vermitteln, und mit In­ter­ak­tion­s­me­dien wie Drei-D-Maus, Daten­hand­schuh oder Po­si­tions­brille.

Software als Werkzeug

In einem Unternehmen gibt es er­fahrungs­gemäß viele Soft­warew­erkzeuge un­ter­schiedlicher Herkunft und ver­schiede­nen Alters. Wichtig ist, dass sich die Werkzeuge koppeln lassen und sie damit in­ter­op­er­abel werden. Die digitale Fabrik benutzt Werkzeuge wie CAD- bzw. CAM-Pro­gramme, Datenbanken, Pla­nungswerkzeuge, Steuerungssoft­ware sowie Software für übergreifende Quer­schnittsauf­gaben, z. B. das Projekt- oder Work­flow-Man­age­ment. Siemens und Dassault Systèmes dominieren diesen Markt, aber auch kleinere Anbieter wie die Firma xPLM Solution liefern Soft­ware­plat­tfor­men für die digitale Fabrik. Für die Analyse der Prozesse kommen auch math­e­ma­tis­che Methoden oder Spielformen der künstlichen Intelligenz in Betracht. Neuronale Netze zeichnen sich durch ihre Lernfähigkeit aus.

Einführung der digitalen Fabrik

Die digitale Fabrik lässt sich entweder anhand des Produkts einführen, z. B. bei der Neuplanung einer Se­rien­fer­ti­gung, oder pro­duk­tun­spez­i­fisch anhand des Ma­te­ri­alflusses und Layouts einer bestehenden Fabrik. KMU sollten sich dem Thema pro­jek­t­be­zo­gen nähern. Das neue Konzept wird allerdings nur dann zum Erfolg, wenn die Mitarbeiter es akzeptieren. Wenn Sie die Beschäftigten frühzeitig einbinden, erhöhen Sie die Akzeptanz. Die Be­nutzer­fre­undlichkeit von Software sollte ein Kriterium bei der Anschaffung sein. Sinnvoll ist ein Pi­lot­pro­jekt: Bevor Sie das Konzept im ganzen Unternehmen einführen, probieren Sie Methoden und Werkzeuge in einem Bereich aus, in dem Sie eine hohe Er­fol­gswahrschein­lichkeit vermuten. In der Vor­bere­itungsphase legen Sie Ziele der digitalen Fabrik sowie den Zeitplan fest. In der Konzept­phase etablieren Sie ein Projektteam, das von Managern aus Pro­duk­tion­sleitung, Pla­nungsleitung und IT-Leitung geführt wird. Mitglieder des Teams definieren die konkreten Aufgaben, wählen die Werkzeuge aus und kalkulieren den Schu­lungs­be­darf. In der Um­set­zungsphase werden die Software aufgespielt, die Nutzer weit­erge­bildet und der An­wen­der­sup­port ein­gerichtet.

Engpässe in der Umsetzung

Das Konzept der digitalen Fabrik kann dazu beitragen, den Pro­duk­tion­s­stan­dort Deutschland zu erhalten. Vermutlich gibt es aber derzeit kein Unternehmen, das die Idee der digitalen Fabrik al­lum­fassend umgesetzt hat. Noch fehlen häufig die in­te­gri­erten und stan­dar­d­isierten Prozesse oder das durchgängige Daten­man­age­ment. In Teil­bere­ichen ist die digitale Fabrik allerdings bereits Realität, vor allem in der Pro­duk­ten­twick­lung, seltener in der Pro­duk­tions- und Fab­rik­pla­nung. Das liegt u. a. daran, dass die Soft­ware­pro­dukte für diese Bereiche noch kein gemeinsames Daten­man­age­ment nutzen. An der Verknüpfung arbeiten die Soft­ware­an­bi­eter bereits. Für die weitere Verbreitung ist die Stan­dar­d­isierung der IT-Systeme, Methoden, Modelle, Werkzeuge und Schnittstellen der entschei­dende Engpass. Wenn den Unternehmen diese Vere­in­fachung gelingt, verringert sich der Aufwand für die immer wieder notwendigen Änderungen in der in­dus­triellen Produktion. Auch die Or­gan­i­sa­tion­sstruk­tur müssen Sie anpassen. Keinesfalls sollten Sie den in­for­ma­tion­stech­nis­chen und or­gan­isatorischen Aufwand unterschätzen, der mit der digitalen Fabrik verbunden ist.

Über die Autoren

Uwe Bracht ist Professor für An­la­gen­pro­jek­tierung und Ma­te­ri­alflus­slo­gis­tik und leitet den Fachauss­chluss „Digitale Fabrik“ des Vereins Deutscher Ingenieure (VDI). Er hat Maschi­nen­bau studiert, ebenso wie Dieter Geckler, Fachref­er­ent bei Volkswagen. Sigrid Wenzel ist In­for­matik­erin und Professorin für Pro­duk­tion­sor­gan­i­sa­tion und Fab­rik­pla­nung.