Toyotas rätselhafter Aufstieg
Die Wettbewerber sahen dem Aufstieg des japanischen Autoherstellers Toyota nach dem Zweiten Weltkrieg über viele Jahre tatenlos zu. Erst Anfang der 90er Jahre, als Volkswagen, General Motors und andere Platzhirsche in eine Absatzkrise geraten waren, begannen sie sich mit dem Phänomen zu beschäftigen. Zu offensichtlich war der Klassenunterschied geworden: Während die ehemaligen Marktführer von Jahr zu Jahr Marktanteile verloren hatten, schien der Absatz von Toyota keine Grenzen zu kennen, und das trotz Importbeschränkungen. Eine Studie des Massachusetts Institute of Technology (MIT) förderte im Jahr 1990 den Hauptgrund zutage: das Toyota-Produktionssystem.
Individuelle Fertigung statt Massenproduktion
Der Preis von Autos ist dank der Massenproduktion amerikanischer Prägung bis in die 70er Jahre zwar gesunken. Doch Toyota ging einen anderen Weg: Statt immer mehr von ein und demselben Modell zu bauen, sollte die effiziente Kleinserienfertigung zunächst für den überschaubaren japanischen Markt möglich werden. Das Ziel war die Herstellung vieler verschiedener Typen in kleiner Stückzahl. Die erste Ölkrise beendete 1973 die Zeit der hohen volkswirtschaftlichen Wachstumsraten – und damit die Ära der konventionellen Massenproduktion. Die bis dahin praktizierte Kostensenkungsmethode, immer möglichst hohe Stückzahlen zu produzieren, erzeugte zu viel Verschwendung.
Oberstes Ziel: Verschwendung beseitigen
Die Produktivität japanischer Arbeiter lag während des Zweiten Weltkriegs bei einem Drittel der deutschen und einem Neuntel der amerikanischen Arbeitskräfte. Der Sohn des Firmengründers Toyoda gab daher nach dem Krieg die Marschrichtung an: Die Produktivität sollte um das Zehnfache gesteigert werden. Dieses ehrgeizige Ziel führte die japanischen Manager zum Kerngedanken des „Toyotaismus“: der Ausmerzung verschwenderischer Arbeitsabläufe. Es wurde zwischen Arbeit mit und ohne Wertschöpfung unterschieden. Beispiele für Letzteres sind die langwierige Suche nach Teilen im Lager oder unnötige Handgriffe in der Produktion. Solche Bewegungen sollten in Arbeit mit Wertschöpfung verwandelt werden. Zwei Leitprinzipien halfen dabei, dieses Vorhaben umzusetzen: Just-in-time-Produktion und die so genannte autonome Automation.
Lagerbestand: null
Wenn Sie Toyota in der Produktion nacheifern wollen, gestalten Sie den Materialfluss zur Endmontage so, dass die benötigten Teile – und nur diese – in dem Moment am Fließband ankommen, in dem sie gebraucht werden. Damit erreichen Sie idealerweise einen Lagerbestand von null. Das sagt sich leichter, als es getan ist. Fehler, die Sie zu Beginn der Produktionskette übersehen, werden später irgendwo auftauchen. Produktionsstopp und teure Nacharbeit sind die Folge. Konventionelle Managementtechniken werden mit dieser komplexen Produktionsweise nicht fertig.
„Das Toyota-Produktionssystem entstand in dem Moment, als ich das alte System infrage stellte.“
Mit der Methode Kanban (japanisch für „Schildchen“) gelingt es, die Kommunikation zwischen den Arbeitsgängen so zu steuern, dass jeder nur die im nächsten Arbeitsgang benötigte Menge produziert. Die Teile werden nicht mehr automatisch von Station zu Station befördert, sondern nur noch auf Anforderung. So kommt der Materialfluss nicht ins Stocken, außerdem sind die Arbeiter nicht mehr ständig auf der Suche nach Teilen im Lager. Zerlegen Sie den Fertigungsprozess in einzelne Arbeitsschritte und denken Sie ihn rückwärts, also vom Endprodukt her. Über die Schildchen an den Zwischenprodukten teilen sich die Arbeiter gegenseitig mit, welche Teile sie entnommen haben, welche also neu gebraucht werden.
Vermeiden Sie Fehler beim Kanban
Damit Kanban funktioniert, müssen Sie die Arbeitsabläufe so organisieren, dass ein gleichmäßiger Fluss entsteht. Industriearbeiter arbeiten dann wie bei einem Staffellauf. Die Begleitscheine mit den Informationen über Mengen, Zeitpunkte, Verfahren und Bestimmungsorte, die die Teile durchs Werk begleiten, können aber auch zu Problemen führen:
- Häufig regen sich erhebliche Widerstände gegen das Prinzip, nicht mehr so viel wie möglich zu produzieren, sondern nur noch das, was die nachgelagerte Produktionsstufe anfordert.
- Das Prinzip hat eine häufigere Umrüstung der Maschinen und damit ein neues Produktionssystem kleiner Losgrößen zur Folge. Starke Auftragsschwankungen bedrohen diese vernetzte Kette, die Produktionsnivellierung ist daher eine wichtige Aufgabe.
- Die Zahl der Schildchen ist möglichst klein und damit überschaubar zu halten.
- Die Zulieferer müssen eingebunden werden; ohne sie wird Kanban scheitern. Toyota hat das System 1962 im gesamten Unternehmen eingeführt – und 20 Jahre gebraucht, um es auch bei den Zulieferern zu etablieren.
Die Maschine denkt mit
Moderne Maschinen sind sehr schnell und leistungsfähig. Bei kleinen Abweichungen produzieren sie deshalb aber auch rasch Unmengen von Ausschuss. Sorgen Sie dafür, dass Ihre Maschinen automatisch stoppen, wenn sie von der Norm abweichen. Die Idee stammt aus der Textilfertigung des Toyota-Gründers, der seine Webstühle mit einem automatischen Stoppmechanismus ausrüstete. Dieses Prinzip der Narrensicherheit („Poka Yoke“) hilft Ihnen bei der autonomen Automation: Ist ein Werkstück fehlerhaft, sollte es nicht in das Werkzeug der nächsten Bearbeitungsstufe passen – der Fehler wird also von der Maschine automatisch bemerkt. Sie verleihen damit Ihren Automaten eine Art Intelligenz. Auf solche Maschinen müssen Ihre Mitarbeiter nicht mehr ständig aufpassen. Stattdessen können sie mehrere Maschinen überwachen und im Schadenfall eingreifen. Machen Sie die Ausfälle sichtbar: Wenn Arbeiter bei Unregelmäßigkeiten das Fließband anhalten können, werden vorangegangene Fehler offensichtlich. Erst wenn Vertuschung oder hastige Reparaturen nicht mehr möglich sind, erfahren Sie von Schwachstellen und können die Prozesse optimieren.
Teamarbeiter statt Einzelkämpfer
Anfangs protestierten die Toyota-Arbeiter gegen die Idee, mehrere – auch unterschiedliche – Maschinen bedienen zu müssen. Trotzdem war es in Japan einfacher als in den USA oder in Europa, die Arbeiter an verschiedenen Arbeitsstationen einzusetzen, z. B. heute an einer Drehmaschine, morgen an einer Fräsmaschine und übermorgen beim Schweißen. Denn in Japan beharrten die Gewerkschaften nicht auf einer strikten Trennung der Tätigkeiten. Während in den USA ein Dreher immer ein Dreher blieb, konnte sich der japanische Kollege neue Fähigkeiten aneignen. Das steigerte seine Zufriedenheit und Produktivität und befähigte ihn zur Teamarbeit.
„Für die Einführung des Toyota-Produktionssystems in Ihr eigenes Unternehmen muss eine hohe Sensibilität gegenüber der Verschwendung entwickelt werden.“
Hilfen bei der Umsetzung
- Fünffaches Warum: Geht in der Fabrik etwas kaputt, reparieren Sie es nicht einfach. Fragen Sie sich, warum der Schaden eintreten konnte – und das möglichst so lange, bis Sie eine Wiederholung ausschließen können. Die Frage, warum eine Maschine angehalten hat, führt Sie beispielsweise zu einer durchgebrannten Sicherung, und durch weitere Warum-Fragen gelangen Sie zur Ursache der Überlastung.
- Arbeitsblätter selbst machen: Innerhalb von drei Tagen sollte ein Mitarbeiter in neue Arbeitsabläufe eingearbeitet werden können. Auf Standard-Arbeitsblättern findet er an jeder Arbeitsstation die nötigen Informationen über Taktzeit und Arbeitsabfolge. Diese Angaben müssen die Arbeiter verstehen und selbst verfassen können.
- Maschinen neu aufstellen: Kombinieren Sie Ihren Maschinenpark neu. Die Reihenfolge der Maschinen sollte der Reihenfolge der Bearbeitungsschritte entsprechen.
- Rasch umrüsten: Die gleichmäßige Produktion möglichst kleiner Losgrößen zwingt zum häufigen Umrüsten der Maschinen. Der Wechsel der Werkzeuge konnte in Toyota-Presswerken schon Ende der 60er Jahre von vorher zwei bis drei Stunden auf drei Minuten gedrückt werden.
- Spezialeinrichtungen und -maschinen vermeiden: Höchstleistungsmaschinen sind nicht gleichzusetzen mit Höchstproduktivität. Mit der durchdachten Rationalisierung von Arbeitsabläufen schaffen Sie große Effizienzsteigerungen auch ohne kostspielige neue Roboter.
- Alte Maschinen in Schuss halten: Eine gut gewartete Maschine ist, sofern sie an der richtigen Stelle eingesetzt wird, rentabler als die Anschaffung einer neuen, zumal wenn diese nicht ausgelastet wird.
- Den Informationsfluss rationalisieren: Produktionspläne sind schön und gut, sollten jedoch nur die nötigsten Informationen enthalten und bei Nachfrageänderungen anpassungsfähig sein. Die Autos von Toyota führen die zur Montage nötigen Informationen per Kanban mit sich.
Ford vs. Toyota
Mit dem Ford-Produktionssystem, dem ersten Massenproduktionssystem der Welt, hat Toyota vieles gemeinsam – z. B. das Augenmerk auf den Arbeitsfluss und die Wertschöpfung bereits auf der Stufe der Rohstoffbearbeitung. Allerdings war Toyota konsequenter: Während Ford die Lagerbestände entlang dem Fließband verteilte, hat Toyota sie ganz abgeschafft. Das Ford-System steigert die Produktivität durch die Fertigung einer möglichst hohen Menge eines Teils. Toyota konzentriert sich dagegen auf die effiziente Fertigung von kleinen Serien, ja von Einzelteilen. Das ist in der heutigen Zeit mit individuellen Konsumwünschen ein großer Vorteil. Ford hat seine Fertigungsmethode kaum je angepasst, selbst als die Firma nicht mehr nur das Modell T, sondern eine ganze Palette von Fahrzeugen produzierte. Inzwischen haben die amerikanischen und europäischen Hersteller zwar ebenfalls ihre Prozesse verbessert, sind jedoch nicht so weit gekommen wie Toyota.
Profitabel trotz Niedrigwachstum
Vielleicht wird es Ihnen schwerfallen, sich von Ihrem Lager zu trennen. Machen Sie sich bewusst: Das Horten von Rohstoffen und Halbfabrikaten entspricht der Mentalität einer Agrargesellschaft. In der modernen Industriegesellschaft müssen Sie lernen, sich darauf zu verlassen, jederzeit das bestellen und kaufen zu können, was Sie für Ihre Produktion brauchen. Andernfalls führt Ihr Lager zu nichts anderem als zu Verschwendung. Es zwingt Sie in Zeiten niedrigen Wachstums zur Überproduktion. Zudem schlummern in Ihrem Lager auch fehlerhafte Vorprodukte. Wozu?
„Ein Problem, das zu Beginn des Produktionsprozesses entsteht, führt später unweigerlich zu einem fehlerhaften Produkt.“
Obwohl Kanban in einer Zeit eingeführt wurde, als die japanische Wirtschaft sehr hohe Wachstumsraten aufwies, eignet sich das System gerade auch für Jahre mit niedrigem Wachstum. Das fiel zum ersten Mal im Verlauf der Ölkrise von 1973 auf. Toyota überstand diesen Nachfrageschock besser als viele andere japanische Industriebetriebe.
„Dass sich Arbeiter bewegen, bedeutet nicht unbedingt, dass sie arbeiten.“
In der Folge interessierten sich etliche Firmen für das Produktionsmodell, das Toyota wiederum weiterentwickelte. So verstärkte der Konzern die Versuche, Maschinen autonomer zu machen, um die Zahl der mit der Überwachung beschäftigten Mitarbeiter senken zu können. Ebenso sollte bei niedriger Auslastung die Zahl der Teammitarbeiter am Fließband reduziert werden; darum musste jeder Teamkollege lernen, auch die Arbeit der anderen zu verrichten.
„Ich rate allen Managern, Meistern, Vorarbeitern und Arbeitern in der Fertigung, in ihrem Denken flexibler zu werden.“
Leider sind die Beschäftigten in vielen Unternehmen in ihrem Denken viel zu unflexibel, um sich der Herausforderung permanenter Kostensenkung mit Einfallsreichtum zu stellen. Diese Abneigung gegen unkonventionelle und unbequeme Denkweisen hegen sowohl Arbeiter am Fließband als auch Manager in der Chefetage.