Wirtschaft und irrationales Handeln
Die Wirtschaftstheorie wird von den Arbeiten zweier großer Denker bestimmt: Adam Smith und John Maynard Keynes. Smith vertrat die Auffassung, dass wirtschaftliches Handeln von rationalen Überlegungen gesteuert wird und die Wirtschaft dann am besten funktioniert, wenn man ihr möglichst freien Lauf lässt. Keynes dagegen – unter dem Eindruck der Weltwirtschaftskrise in den 1930er Jahren – war der Ansicht, dass die Menschen auch in Wirtschaftsdingen durchaus irrational handeln, was die Ökonomie erheblich beeinflussen kann.
„Keynes räumte ein, dass ökonomisches Handeln großenteils von rationalen ökonomischen Motiven bestimmt wird, setzte dem aber entgegen, dass es häufig von Instinkten beeinflusst wird, den von ihm so genannten Animal Spirits.“
In den Jahrzehnten des Aufschwungs geriet dieser Aspekt seiner Theorie in Vergessenheit, doch spätestens die Probleme der Weltwirtschaft seit Ende 2008 haben in aller Härte gezeigt, dass die Wirtschaft nicht immer nach logischen Gesetzen funktioniert. Zu den irrationalen „Animal Spirits“, die auf die Wirtschaft wirken, zählen Vertrauen, Fairness, Korruption, die so genannte Geldillusion sowie Geschichten, die unser Denken beeinflussen.
Vertrauen und Fairness
Vertrauen spielt im Wirtschaftsleben eine durchaus entscheidende Rolle. Wenn Konsumenten optimistisch in die Zukunft blicken, geben sie Geld aus, und die Wirtschaft floriert. Leidet das Vertrauen, sinkt der Konsum – auch wenn sich die wirtschaftliche Lage faktisch überhaupt nicht geändert hat. Das Gefühl wirkt sogar als Multiplikator: Ein Klima des Vertrauens schafft die Basis für Stabilität und noch mehr Vertrauen. Ein Vertrauensverlust dagegen hat massive wirtschaftliche Folgen und zieht einen noch größeren Vertrauensverlust nach sich.
„Um die Funktionsweise der Wirtschaft wirklich zu verstehen, müssen die Animal Spirits in die makroökonomische Theorie einbezogen werden.“
Auch das Empfinden von Fairness wirkt sich aufs Wirtschaftsleben aus. Die Menschen sind bereit, einen Preis für etwas zu zahlen, wenn sie ihn als fair ansehen. Doch was als fair gilt, hängt von der Situation ab: Einen überhöhten Preis für ein Bier werden Sie z. B. in einem Nobelhotel eher akzeptieren als in einem Supermarkt.
Korruption
Auch negative menschliche Eigenschaften kommen im wirtschaftlichen Handeln zum Tragen, so z. B. Korruption und bewusste Täuschung. In einer kapitalistischen Wirtschaft wird nicht unbedingt das produziert, was die Menschen brauchen und was ihnen gut tut, sondern das, was sich verkaufen lässt. Das heißt im Klartext: Solange es Kunden gibt, die für wertlose Produkte und Betrügereien Geld zahlen, werden diese auch angeboten. Oft kann der Kunde gar nicht erkennen, ob ein Produkt sein Geld wert ist, und nicht in allen Branchen gibt es ausreichende Vorschriften für den Verbraucherschutz. Wenn Sie z. B. Ihr Geld in Wertpapieren anlegen wollen, müssen Sie letztlich selbst entscheiden, wem Sie Ihre Ersparnisse anvertrauen. Sie können sich an den Unternehmenszahlen orientieren, aber die sind u. U. gefälscht. Korruption und Täuschung blühen meist dann, wenn die Wirtschaft boomt und die Menschen vertrauensvoll investieren. Sobald ein Betrug auffliegt, kommt es schlagartig zum Vertrauensverlust, mit allen negativen Folgen für die Wirtschaft. Rezessionen sind in der Regel eine Folge von Vertrauensverlusten.
Geldillusion und Geschichten
Der Begriff der Geldillusion bezeichnet das Phänomen, dass Menschen sich eher am nominalen als am realen Wert einer Geldsumme orientieren. Das heißt, sie sehen nur die Zahl als solche; der tatsächliche Wert, gemessen etwa an der Kaufkraft, tritt in den Hintergrund. Gängige Wirtschaftstheorien nehmen an, dass die Geldillusion im wirtschaftlichen Handeln keine Rolle spielt, doch die Realität sieht anders aus. Wenn z. B. der Zinssatz eines Kredites über die gesamte Laufzeit unveränderlich bleibt und die Inflation nicht berücksichtigt wird, ist Geldillusion ebenso sehr im Spiel wie bei Unternehmensbilanzen, die nur absolute Zahlen nennen und nicht inflationsbereinigt sind.
„Der Glaube an die wundersamen Kräfte des Marktes ist nur eine jener Geschichten, die dazu beigetragen haben, die Berg- und Talfahrt an den Börsen und in der Realwirtschaft anzuheizen.“
Geschichten sind ein wesentlicher Bestandteil des Alltags. Menschen speichern damit ihre Erinnerungen, und sie erzählen sie, wenn sie miteinander kommunizieren. Die Geschichten, die in einer Gesellschaft verbreitet werden, beeinflussen das Weltbild der Menschen, ihr Vertrauen und damit auch ihr wirtschaftliches Handeln sehr stark. So gingen Mitte der 1990er Jahre Geschichten vom sagenhaften Reichtum, der sich mit dem Internet verdienen ließe, von Mund zu Mund – mit der Folge, dass sie kurzzeitig tatsächlich wahr wurden.
Wirtschaftskrisen
Dass sich die beschriebenen Animal Spirits stark auf die Wirtschaft auswirken und sogar schwere Depressionen auslösen können, lässt sich exemplarisch an den beiden schlimmsten Wirtschaftskrisen in der Geschichte der USA nachweisen. In den 1890er Jahren machte die Regierung Pläne, Papiergeld auch durch Silber, nicht mehr nur durch Gold decken zu lassen. Die Menschen fürchteten, es könnte zu Bankenpleiten kommen, was in den Jahren zuvor mehrfach geschehen war. Sie stürmten die Banken, um ihre Ersparnisse rechtzeitig abzuheben. Prompt gerieten die Institute in Zahlungsschwierigkeiten. Dies war der Auslöser für eine mehrere Jahre währende Depression. Vor der Großen Depression der 1930er Jahre war die Wirtschaft überhitzt, doch die Menschen glaubten die Geschichten vom anhaltenden Boom, investierten sorglos und dachten nicht an Korruption. Es kam zum Kollaps und zur Deflation. Die Unternehmen drängten auf Lohnsenkungen, doch die Arbeitnehmer, ganz im Bann der Geldillusion, wehrten sich vehement dagegen und verschärften so die Krise.
Die Rolle der Zentralbanken
Nach den gängigen Wirtschaftstheorien ist es Aufgabe der Zentralbanken, die Wirtschaft zu regulieren, indem über die Geldmenge der Zinssatz beeinflusst wird. Doch eigentlich haben die Zentralbanken eine ganz andere Aufgabe: Sie sind Teil des Sicherungssystems, das zu Beginn des 20. Jahrhunderts aufgebaut wurde, um Bankpaniken mit ihren verheerenden Folgen zu verhindern. Die Zentralbanken können in Notfällen andere Banken kurzfristig mit Bargeld versorgen. In den vergangenen Jahrzehnten hat sich allerdings ein System von Schattenbanken entwickelt, die diesem Sicherungssystem nicht angeschlossen sind: Investmentbanken, Bankholdings, Hedgefonds. Sie wagten immer riskantere Geschäfte, und so kam es, wie es kommen musste: Die Anleger verloren das Vertrauen in diese Institute und zogen im großen Stil ihr Vermögen ab – ein Auslöser der Wirtschaftskrise ab Ende 2008.
Inflation und Arbeitslosigkeit
Den gängigen Wirtschaftstheorien zufolge orientiert sich der Preis für Arbeitskraft an Angebot und Nachfrage. Wer keine Arbeit findet, muss eben bereit sein, für einen geringeren Lohn zu arbeiten. Um Mitarbeiter zu halten und zu motivieren, zahlen Arbeitgeber mehr Lohn, als der Markt verlangt, und können deshalb weniger Menschen beschäftigen. Daher ist eine gewisse Arbeitslosigkeit unvermeidlich. Lohnsteigerungen orientieren sich im Rahmen dieser Theorie an der Inflationsrate. Was dabei aber ignoriert wird, sind wiederum die Animal Spirits. Lohnverhandlungen sind nicht frei von der Geldillusion, was sich allein daran zeigt, dass auch bei einer Deflation Lohnkürzungen kaum durchzusetzen sind, obwohl die Arbeitnehmer faktisch keine Verluste erleiden. Untersuchungen haben gezeigt, dass die Menschen Lohnsteigerungen gar nicht als Inflationsausgleich wahrnehmen, sondern als Belohnung für ihre Arbeit. Für einen Arbeitnehmer spielt bei der Entlohnung nicht der Marktpreis für Arbeit eine Rolle, sondern die Frage der Fairness: Er nimmt dann eine Arbeit an und bringt seine Leistung, wenn er seine Entlohnung als fair empfindet.
Sparsamkeit
Auch das Sparen wird stark von den Animal Spirits beeinflusst. Wirtschaftstheoretiker entwerfen gern das Bild des rationalen Sparers, der sich genau ausrechnet, wie viel er zurücklegen möchte, und seinen Konsum danach ausrichtet. Doch die wenigsten Menschen sparen wirklich nach Plan oder haben überhaupt eine Vorstellung davon, wie viel sie sparen müssen, um einen bestimmten Ertrag zu erzielen. Stattdessen lassen sie sich von Gefühlen wie Angst oder Vertrauen beeinflussen, ebenso von der Kultur, in der sie leben. Deshalb sind die Sparquoten in den einzelnen Ländern sehr unterschiedlich. So wird in den USA, die stark vom Kapitalismus geprägt sind, generell wenig gespart. Für die meisten Menschen dort ist es selbstverständlich, zu konsumieren und dafür Geld auszugeben. In China dagegen gilt Sparen als Tugend, entsprechend viel legen die Menschen auf die hohe Kante.
Preise, Märkte und Vertrauen
Die Aktienkurse spiegeln den Zustand der Wirtschaft wider, lautet eine verbreitete Auffassung. Doch in der Realität können die Kurse auch dann schwanken, wenn sich die wirtschaftlichen Grunddaten gar nicht geändert haben. Wirtschaftswissenschaftler haben keine rationale Erklärung dafür; wieder einmal sind Instinkte am Werk. Denn Aktienkurse hängen eng mit Vertrauen zusammen. Solange sie steigen, kaufen die Anleger und treiben die Kurse damit weiter nach oben. Wenn sie fallen, führen sie dagegen zu Verkäufen, was den Abwärtstrend noch verstärkt. Steigende oder fallende Kurse sind also vor allem ein Gradmesser für das Vertrauen der Anleger, nicht für den tatsächlichen Wert der Aktien.
„Sogar jetzt noch verkennen viele Analysten und der größte Teil der Öffentlichkeit, dass es nicht damit getan ist, die gängige Wirtschaftstheorie da und dort zu kitten, dass wir vielmehr eine ganz neue brauchen.“
Animal Spirits wirken auch bei unternehmerischen Entscheidungen. Theoretisch sollten die Verantwortlichen erst nach sorgfältiger Analyse der relevanten Fakten eine Entscheidung treffen. Doch in der Praxis haben sie dafür meist gar keine Zeit und entscheiden aus dem Bauch heraus – nach ihrem subjektiven Empfinden, das möglicherweise von Vertrauen oder Angst geprägt ist.
Die Immobilienblase
Ab Mitte der 1990er Jahre brach in den USA ein Immobilienboom aus. Es setzte sich die Auffassung durch, dass Immobilien die beste und sicherste Geldanlage seien. Die Entwicklung schien das zunächst zu bestätigen, die Preise für Immobilien zogen kräftig an. Damit auch sozial Schwächere von dieser Möglichkeit der Geldanlage profitieren konnten, wurden die Standards für die Kreditvergabe gesenkt. Immer mehr Menschen, die es sich eigentlich nicht leisten konnten, bekamen Kredite. Sie glaubten den Geschichten vom Wohneigentum als profitabler Geldanlage und übersahen dabei, dass auch Immobilienpreise stark schwanken können. Wie immer gab es Rückkopplungseffekte, die diese positiven Erwartungen erst einmal zu bestätigen schienen und die Entwicklung weiter anheizten. Aber schließlich platzte die Blase und löste Ende 2008 die weltweite Finanz- und Wirtschaftskrise aus.
Theorie und Wirklichkeit
Warum konnten die meisten Fachleute die Krise nicht vorhersehen? Warum bieten sie auch jetzt keine überzeugenden Lösungen an? Weil die Wirtschaftstheorie viel zu lange der Lehre Adam Smiths folgte, weil sie vom Ideal des rational handelnden Menschen ausging und alle Animal Spirits konsequent ausblendete. Natürlich: Rationales Verhalten lässt sich gut berechnen und vorhersagen, und das mögen die Ökonomen. Es entspricht aber leider nicht der Realität. Darum wird es Zeit, dass die Wirtschaftstheorie ihren Irrtum einsieht und sich künftig auch mit den irrationalen Aspekten menschlichen Handelns befasst. Unrealistisch ist übrigens auch Smiths Vorstellung von der kapitalistischen Wirtschaft als einem System, das sich selbst steuert. In der Praxis spielen so viele Faktoren zusammen, dass sich Entwicklungen kaum vorhersehen lassen. Die optimistische Vorstellung von den ordnenden Kräften des freien Marktes ist nicht praxistauglich. Der Kapitalismus ist zwar ohne Frage ein gutes Wirtschaftssystem, aber er hat auch seine Nachteile. Deshalb muss der Staat eingreifen, um Auswüchse zu verhindern und die Bürger vor Verlusten zu schützen.