Wie alles anfing
Im ausgehenden 15. Jahrhundert wurde in der europäischen Wirtschaftsgeschichte ein neues Kapitel aufgeschlagen. In Venedig, dem Handelszentrum der Renaissance, erschien eine Schrift von Luca Pacioli über die doppelte Buchhaltung. Diese ermöglichte es Unternehmern, alle Ein- und Ausgaben transparent zu machen. Geschäftsleute konnten dank doppelter Buchführung ihre Handlungen besser planen und steuern und nicht zuletzt Erfolge kontrollieren. Ein wenig überspitzt gesagt, war Paciolis bahnbrechende Idee der Anfang des Kapitalismus. Ende des 20. Jahrhunderts fand ein weiterer Einschnitt statt, der die Art, wie Geschäftsleute ihr Unternehmen führen, ebenso radikal veränderte. Die Wiege der Globalisierung stand sozusagen in der badischen Provinz: In Walldorf bei Heidelberg gründeten Dietmar Hopp, Hasso Plattner, Klaus Tschira, Hans-Werner Hector und Claus Wellenreuther 1972 das Softwareunternehmen SAP. Alle fünf waren zuvor Programmierer bei IBM gewesen und nun zur rechten Zeit am rechten Ort. Den Umbruch der Wirtschaft gestalteten sie mit und schlugen daraus Kapital: Heute zählt SAP mit rund 52 000 Beschäftigten zu den größten IT-Unternehmen der Welt, neben Microsoft, IBM und Oracle.
Standardsoftware statt Individualentwicklung
Nach dem Zweiten Weltkrieg dominierten Großrechner die IT-Welt, Anfang der 60er Jahre stammten 90 % von IBM. Damals bekamen die Kunden zur Hardware einfach die Software dazu. Gute Programme, die jedes Unternehmen anwenden konnte, gab es nicht. Stattdessen sollte für jeden Kunden individuell programmiert werden. Standardsoftware zu entwickeln war bei IBM nicht erwünscht. In diese Lücke sprangen die Softwarepioniere von SAP, denen technologische Neuerungen wie die Ablösung der Stapelverarbeitung (Batch-Verfahren) durch Echtzeitverarbeitung (Real-Time-Processing) zugutekamen. Erster Kunde wurde das hochmoderne Nylonwerk ICI in Östringen. Dieses erlaubte dem SAP-Team, auf hauseigenen Rechnern eine Software zu entwickeln und diese an andere Unternehmen zu verkaufen. Das erste SAP-Produkt, R/1, war ein ERP-System (Enterprise Resource Planning). Seine besondere Leistung bestand darin, betriebswirtschaftliche Informationen in einer Datenbank zu strukturieren und ganze Abteilungen digital abzubilden, z. B. die Finanzbuchhaltung. Mittels Standardisierung wurden alle Daten in Echtzeit in ein Gesamtbild integriert. Lochkarten, doppelte Eingaben oder handgeschriebene Bestellungen gehörten damit der Vergangenheit an. Das Wissen über betriebliche Abläufe und Zahlen sollte fortan nicht mehr auf Zetteln oder in den Köpfen zu finden sein, sondern sich einfach auf dem Bildschirm abrufen lassen.
Vom Mainframe zum PC
Neue Software gemeinsam mit einem innovativen Unternehmen in einem Pilotprojekt zu entwickeln, das war das erfolgreiche Geschäftsmodell von SAP. Auf diese Weise konnten die deutschen IT-Ingenieure aus erster Hand wertvolles Know-how über betriebswirtschaftliche Prozesse bei internationalen Schlüsselkunden erwerben, z. B. bei John Deere. Großunternehmen zählen von jeher zu den Auftraggebern der Walldorfer, die den wenig lukrativen Verkauf und die aufwändige Beratung einem Partnernetz überlassen. Wirtschaftsberater wie Andersen Consulting (heute Accenture) übergehen die konservativen IT-Abteilungen, um gleich mit der Geschäftsführung zu sprechen. Die SAP-Mitarbeiter konnten sich deshalb ganz auf ihr Ziel konzentrieren: mit Software Geschäftsprozesse abzubilden und zu standardisieren.
„Sowohl die doppelte Buchführung als auch ERP-Systeme sind alles andere als langweilige Werkzeuge, um geschäftliche Vorfälle zu dokumentieren. Beide haben Unternehmen, ja die gesamte Wirtschaft tief greifend verändert.“
SAP-Programme sollten weltweit in jedem Unternehmen einsetzbar sein, egal in welcher Währung oder Sprache. Indem die Entwickler das Produkt in eine technische und eine betriebswirtschaftliche Schicht zweiteilten, blieben sie relativ unabhängig von Technologiewechseln. SAP konnte im Kerngeschäft lange aus eigener Kraft wachsen und ging erst 1988 an die Börse. Unter dem Namen R/3 brachte SAP 1991 ein neues Produkt auf den Markt, das nicht mehr auf einem Großrechner lief, sondern dezentral auf Workstations. Bei dieser vorausschauenden Client-Server-Architektur sind die Anwendungen verteilt installiert, mehrere Server kommunizieren mit lokalen PCs.
Große Unternehmen in Fesseln
Wie komplex sich die Einführung eines SAP-Systems gestaltet und wie sich SAP-Software auf die täglichen Abläufe der Mitarbeiter auswirkt, zeigt das Beispiel Nestlé. Der weltgrößte Getränke- und Nahrungsmittelkonzern versuchte 2001, in einem milliardenschweren Projekt R/3 in allen Betrieben einzuführen. Schlanke Prozesse versprachen mehr Effizienz, und schließlich führte Nestlé 2006 rund 80 % der Geschäfte nach den Regeln des neuen Systems. 120 000 Anwender in ein einheitliches Schema zu pressen, war jedoch sehr schwierig. Nestlé hatte nicht damit gerechnet, dass die Belegschaft so großen Widerstand zeigen würde, die gewachsenen, kulturellen Strukturen aufzubrechen. Zudem erwies sich die Anpassung der Abläufe an das ERP-System als eine Zwangsjacke, die das Unternehmen unflexibel machte und Innovationen verzögerte. Versprechungen der Beratungshäuser und schlecht vorbereitete Einzelbetriebe erschwerten zudem die Einführungsprozedur des komplexen Softwarepaketes. Besonders widersprüchlich war die technische Dezentralisierung bei organisatorischer Zentralisierung. Obwohl bei einigen Kunden solche Probleme auftraten, wuchs SAP weiter – anscheinend war die kritische Masse an Klienten erreicht.
Go West und die Angst vor der Amerikanisierung
Erst 1988 gründete SAP eine Tochtergesellschaft in den USA, wo R/3 im Jahr 1992 dank der Kundenmesse Sapphire quasi über Nacht zum Renner wurde. Doch die Differenzen zwischen den Standorten Walldorf und Palo Alto/Kalifornien waren nicht zu übersehen: auf der einen Seite perfektionistische deutsche Ingenieurskunst, auf der anderen bunte Ideenvielfalt.
„Zuvor ähnelten Computersysteme noch einer kleinen Stadt mit einer riesigen Kathedrale im Zentrum: dem Mainframe.“
Unter diesen Vorzeichen stand wohl auch der Konflikt mit Shai Agassi, der 2001 den Chefsessel von SAP America bestieg. Der Weg des aus Israel stammenden Kaliforniers führte unter Ziehvater Hasso Plattner zielstrebig nach oben. Agassis Ziel war es, das Softwarepaket zu modernisieren und zu verschlanken. Doch seine unkonventionellen Ansätze stießen bei vielen alteingesessenen Entwicklern auf Ablehnung. Als Agassi seine Ambition, den Vorstandsvorsitz einzunehmen, nicht schnell genug umsetzen konnte, verließ er 2007 das Unternehmen. In einigen Walldorfer Köpfen sitzt noch immer die Angst vor amerikanischen Managementmethoden; sicherlich ein Grund für die Wahl eines Betriebsrats 2006.
Meilenstein der Globalisierung: Bangalore, Indien
Mitte 2008 sind rund 36 300 SAP-Mitarbeiter im Ausland angestellt, fast 75 % aller Beschäftigten. Ein großer Teil davon arbeitet am Standort Bangalore/Südindien, wo SAP mit hoher Fluktuation und kulturellen Unterschieden zu kämpfen hat. Das Unternehmen versucht, die Kluft zwischen den Kontinenten mit Diversity-Programmen („Vielfalt statt Einheit“), interkulturellen Trainings und Videokonferenzen zu überbrücken. Täglich kommunizieren unzählige virtuelle Teams über E-Mail und diskutieren in Wikis.
„Den letzten Schrei der deutschen Industrieverwaltung in Software zu übersetzen, war der entscheidende Teil des ersten SAP-Projekts.“
Dennoch bremsen Sprachbarrieren und Zeitzonen das Arbeitstempo. Viele Inder fühlen sich unterfordert und von den deutschen Kollegen unterschätzt. Einige Walldorfer wiederum haben Angst, die Entwicklungshoheit und das Hauptquartier nach Indien zu verlieren. Doch die Globalisierung ist nicht mehr aufzuhalten, und SAP will, wie auch IBM und Google, mit einer speziellen Aufgabenverteilung die Vorteile seiner jeweiligen Standorte herausarbeiten.
Virtualisierung und Cloud-Computing
Weltweit durchlaufen Unternehmen derzeit eine zweite Stufe der Globalisierung. In der Informationstechnologie entsteht seit Mitte der 90er Jahre ein neues Konzept: Cloud-Computing. Hinter dem Begriff versteckt sich ein grundlegender Technologieumbruch, bei dem Unternehmen die benötigte Rechenleistung nach Bedarf bei Dienstleistern abrufen und Anwendungen auf virtuellen Servern mieten. Erst das Internet hat diese Entwicklung ermöglicht. Dank ihr können sich z. B. Unternehmen und Zulieferer prozessübergreifend miteinander vernetzen. Ein Trend geht zu hoch spezialisierten Anwendungen.
„Wenn SAP-Software wie Flüssigbeton ist und Unternehmen immer mehr davon in ihr Innerstes pumpen, werden sie dann auf Dauer nicht völlig unbeweglich?“
Ein anderes Schlagwort ist das der serviceorientierten Architektur (SOA). Dahinter verbirgt sich eine neue Technologie, die den plattformübergreifenden Austausch von Daten und Funktionen mittels offener Schnittstellen ermöglicht – dank Standards wie XML ohne größeren Programmieraufwand. Damit sollen Integrationsprobleme der Vergangenheit angehören. Manager sollen künftig mittels Business Process Management (BPM) Geschäftsprozesse einfach auf einer grafischen Benutzeroberfläche konfigurieren können.
„Wenn Virtualisierung die Verflüssigung von Hardware bedeutet, steht SOA für die Modularisierung von Software, also die Auflösung von komplexen Programmen in einzelne Funktionen, die sich – zumindest theoretisch – frei miteinander kombinieren lassen.“
Die offene Plattform, mit der SAP den Wandel bewerkstelligen will, heißt NetWeaver. Und SAPs neues Softwareangebot für den Mittelstand, Business ByDesign, soll es ermöglichen, Software als Dienstleistung zu nutzen: Anstatt ein Produkt zu kaufen, mietet der Kunde lediglich online angebotene Programme. Es wird aber wohl noch eine Weile dauern, bis das Web 2.0 die Unternehmen tatsächlich erobert und Enterprise 2.0 Realität geworden ist – denn die erforderlichen organisatorischen Umbauten sollen größer sein als bei einer ERP-Einführung.
Der neue Chef und seine Vision
Der neue Mann an der Spitze von SAP heißt Léo Apotheker. Der Weltbürger und Kosmopolit war bis 2007 SAPs oberster Verkäufer. Erstmalig besetzt damit ein nicht aus der Gründergeneration stammender Nichttechniker den begehrten Posten.
„In vieler Hinsicht erinnert die Architektur von R/3 an den deutschen Föderalismus, der vorgibt, ein Bundesstaat zu sein, aber doch starke zentralistische Züge aufweist – und den Widerspruch mit einer komplizierten Verfassung zu lösen sucht, die in den Regeln für den Umgang zwischen Bund und Ländern wenig Spielraum lässt.“
Apothekers anspruchsvolle Aufgaben: die Wirtschaftskrise managen, die Organisation verschlanken, die Globalisierung vollenden, die SOA-Strategie umsetzen und die Kundenorientierung verstärken. Dafür bringt er beste Voraussetzungen mit: Durchhaltevermögen, Kontakte zu Konzernchefs, umfassende Sprachkenntnisse und Mut zu unbequemen Entscheidungen – wie etwa der radikale Sparkurs, den SAP seit Ende 2008 fährt. Mit dem neuen, internationalisierten Vorstand wird bei SAP wohl künftig ein anderer Wind wehen. Apothekers Vision: SAP-Software soll zeitlos, nachhaltig und einfach sein und so eine transparente Unternehmung schaffen, die „Clear Enterprise“. Sie soll als virtuelles Abbild das gesamte betriebliche Geschehen mitsamt seinem Umfeld sicht- und berechenbar machen. Wenn der neue Vorstandssprecher seine Pläne umsetzen kann, wird in der Unternehmenswelt schon bald der „SAPitalismus“ herrschen.
Die Matrix der Welt
Die doppelte Buchführung hat den Kapitalismus hervorgebracht, Software wie R/3 die Globalisierung 2.0 ermöglicht. Welche Folgen haben Cloud-Computing und SOA für die Wirtschaftswelt? Technik und Organisation werden in einer „Matrix“ aufgehen, die Unternehmensgrenzen überschreitet, anpassbar ist und die Wirtschaft von morgen nach ihrem Abbild formt. Mittels Echtzeitkontrolle können Geschäftsführer künftig ihr Unternehmen steuern wie Piloten einen Jet. Läuft alles nach Plan, lenkt der Autopilot. Zeigen die Instrumente jedoch Störungen, greift der Pilot ein und rettet den Flieger vor dem Absturz. Reaktionsschnelligkeit im Inneren und Kooperationsmöglichkeiten im Äußeren sind die Voraussetzungen für ein erfolgreiches Störfallmanagement im Unternehmen.
„Am Ende hat die badische Softwarefirma der Globalisierung nicht nur die digitale Infrastruktur geliefert, sondern ihr auch einen zentralistischen Drall gegeben.“
Genau wie IT-Produkte werden die Unternehmen immer modularer und vernetzen sich miteinander. Die größere Transparenz der IT-Systeme wird sich in einer größeren Unternehmenstransparenz spiegeln. Die „Matrix“ wird weniger ein enges Korsett sein als ein flexibles und transparentes Instrument, das Risiken erkennen hilft und Krisen verhindern kann.