Der große Trugschluss
„Das zentrale Problem der Depressionsvermeidung ist in jeder praktischen Hinsicht gelöst“, sagte der Wirtschaftsnobelpreisträger Robert Lucas 2003, und seine Zuhörer nickten anerkennend. Der Sozialismus hatte auf ganzer Linie versagt, der Kapitalismus triumphal gesiegt, und am Wirtschaftshimmel schien, abgesehen von kurzen Konjunkturtiefs, meistens die Sonne. Tatsächlich erlitten jedoch viele asiatische Länder, allen voran Japan, in den 1990ern depressionsartige Zustände. Auch in Lateinamerika kam es zu Krisen, die hellhörig hätten machen müssen. Die Wirtschaftsblätter schrieben gerade über die vermeintliche Erfolgsgeschichte der Region, als 1994 in Mexiko die Tequila-Krise ausbrach. Was war geschehen? Ehrgeizige Reformen hatten riesige Mengen ausländischen Kapitals ins Land gelockt, doch das erhoffte Wachstum blieb aus. Teure Wahlgeschenke ließen die Devisenreserven schwinden. Die Regierung entschied sich für eine Abwertung des Peso um 15 %. Die Folge war eine massive Kapitalflucht, der Peso fiel ins Bodenlose, die Wirtschaft schrumpfte um 7 %. Mexiko hatte zwei wichtige Regeln missachtet: Wenn die Wirtschaft angekurbelt werden soll, indem Exporte billiger gemacht werden, muss eine Abwertung deutlich ausfallen, um zu signalisieren, dass nicht mehr zu erwarten ist. Und: Die Regierung muss Vertrauen schaffen, um Panikreaktionen zu vermeiden.
„Rezessionen lassen sich einfach dadurch bekämpfen, dass man Geld druckt – der Rest ergibt sich in der Regel von allein.“
Auch Argentinien galt als wirtschaftspolitisches Musterland. Zur Inflationsbekämpfung hatte es den Peso eins zu eins an den Dollar gebunden. Mit Ausbruch der Tequila-Krise begannen ausländische Investoren an der Sicherheit ihrer Einlagen zu zweifeln und forderten ihre Kredite zurück. Dies setzte ein Teufelskreis aus Kreditknappheit und Bankenstürmen in Gang. Der US-Währungsausgleichsfonds stellte Dollarkredite für Mexiko, die Weltbank ebensolche für Argentinien zur Verfügung. Innerhalb weniger Monate erholten sich beide Volkswirtschaften, und die Sache war schnell vergessen. Leider stellte niemand die Frage, wie vergleichsweise geringe Fehler derart verheerende Auswirkungen hatten zeigen können.
Japans Tragödie
In den späten 80er Jahren entstand in Japan eine enorme Immobilien- und Aktienblase. 1991 ging ihr die Luft aus – allerdings nicht mit einem Knall, sondern einem lang gezogenen Seufzer. Die Wirtschaft wuchs zwar, aber zu langsam im Vergleich zu den Kapazitätssteigerungen. Japan befand sich in einer „Wachstumsrezession“. Die Ursachen für das Desaster lagen in dem ökonomischen Prinzip der Verführung zum Risiko. Es charakterisiert Situationen, in denen Menschen hohe Risiken eingehen und in guten Zeiten dicke Gewinne einstreichen, aber die negativen Folgen ihrer Handlungen nicht ausbaden müssen. In Japan war es am Ende kinderleicht, sich ohne Sicherheiten Geld für riskante Geschäfte auszuleihen. Wenn es schiefgeht, so das Kalkül, würde der Steuerzahler dafür aufkommen. Das musste er dann auch.
„Im Rückblick muss man feststellen, dass die Tequila-Krise eigentlich ein Omen war – eine Warnung, dass die Märkte launisch sein können und dass die gute Presse von heute nicht gegen die Vertrauenskrise von morgen schützt.“
Das Beispiel einer Babysitting-Kooperative erklärt auf anschauliche Weise, was bei einer Rezession passiert. Etwa 150 beteiligte Paare erhalten für jede Stunde, die sie auf die Kinder anderer aufpassen, einen Coupon, den sie ihrerseits für den Babysitting-Service einlösen können. Die Babysitter beginnen, Coupons zu horten. Die Nachfrage nach Kinderbetreuung sinkt und die im Umlauf befindlichen Coupons gehen zurück. Die Verwaltung der Kooperative reagiert auf diese Situation, indem sie den Teilnehmern gestattet, sich Coupons auszuleihen, die sie später zurückzahlen müssen – allerdings zu einem gewissen Preis, einem Zins, wenn man so will: Es müssen mehr Coupons zurückgezahlt werden, als man sich ausgeliehen hat. Dadurch gelangen wieder mehr Coupons in Umlauf.
„Es scheint einfach schwer zu sein, kühl zu bleiben und langfristig zu denken, wenn alle Welt offenbar auf dem Weg zum schnellen Reichtum ist.“
Genauso handelten die Zentralbanker in Japan: Sie warfen die Druckerpresse an – allerdings ohne großen Erfolg. In einer Babysitting-Kooperative wie in der übrigen Wirtschaft schwanken Angebot und Nachfrage nach Coupons saisonal. Im Winter bleiben die Leute lieber zu Hause, im Sommer gehen sie eher aus. Um Schwankungen auszugleichen, müssen die Entleihbedingungen, sprich: die Zinsen, angepasst werden. Tatsächlich sanken die Zinsen in Japan gegen null. Doch das Land befand sich im Würgegriff der Deflation, d. h. langfristig fallender Preise. Für die Kooperative hieße das, dass im Winter gehortete Coupons im Sommer noch mehr wert sind. Warum sollte man unter diesen Bedingungen in der kalten Jahreszeit ausgehen? Die Erkenntnis daraus: Eine leichte Inflationserwartung kann für angeschlagene Volkswirtschaften sehr heilsam sein.
Die Asienkrise
In Thailand begann der Boom später als in vielen anderen asiatischen Ländern, dafür fiel er aber umso heftiger aus. Ausländisches Kapital floss mit beängstigender Geschwindigkeit ins Land und verursachte eine enorme Kredit- und Spekulationsblase. Um Thailands Wettbewerbsfähigkeit zu sichern, hielt die Regierung den Wechselkurs des Baht künstlich niedrig. Anfang Juli 1997 sah sie sich nach spekulativen Attacken gezwungen, die Wechselkurse freizugeben. Der Wert des Baht fiel im Vergleich zum Dollar um 50 %. Die Währungspanik ließ das Vertrauen der Anleger schwinden und setzte die bekannte Abwärtsspirale in Gang.
„Was man erst begriff, als es krachte, war, dass der Konkurrenzkampf unter den Hedgefonds um die zunehmend geringeren Profitchancen einen Mechanismus in Gang gesetzt hatte, der sich irgendwann verheerend auswirken musste.“
Binnen kurzer Zeit erfasste das Virus die ganze Region. Die Ansteckung erfolgte weniger über realwirtschaftliche Verflechtungen als vielmehr über globalisierte Finanzströme der so genannten Schwellenländerfonds: Schlechte Nachrichten für Thailand bedeuteten einen Vertrauensverlust auch für Malaysia, Indonesien und sogar für das viel wohlhabendere Südkorea. Die Krise nahm also zuerst in den Köpfen der Investoren Gestalt an, bevor sie wirklich eintrat. Westliche Beobachter schoben die Schuld auf Korruption und Vetternwirtschaft in Asien – und übersahen die Bedrohung vor der eigenen Haustür.
Die keynesianische Theorie
Zur Zeit der Weltwirtschaftskrise sahen viele die freie Marktwirtschaft als gescheitert. John Maynard Keynes war nicht dieser Ansicht, er glaubte aber, dass ein „Fremdstart“ durch die Regierung erforderlich sei, um den Wirtschaftsmotor wieder in Gang zu bringen.
„Alle Finanzkrisen weisen untereinander eine gewisse Familienähnlichkeit auf.“
Für Länder wie Kanada, die USA und Großbritannien hat sich die keynesianische Theorie bewährt. Eine adäquate Zins- und Investitionspolitik verwandelte milde Rezessionen schnell in Boomzeiten. In den Krisenländern der 90er Jahre aber hat die Theorie versagt. Moderate Währungsabwertungen lösten einen katastrophalen Vertrauensschwund aus, der das befürchtete Krisenszenario erst recht wahr werden ließ.
„Wirklich besorgniserregend ist die Machtlosigkeit der Politik, ist der Umstand, dass geldpolitische und fiskalische Anreize sich nicht mehr direkt auf Wachstum und Beschäftigung auswirken.“
Umgekehrt führte allein die Angst vor dem Vertrauensverlust in vielen Dritte-Welt-Ländern zu unsinniger Politik. Ein Beispiel hierfür ist Brasilien, das bei einsetzender Rezession auf Rat der USA und des Internationalen Währungsfonds eine restriktive Geld- und Steuerpolitik betrieb. Das Ergebnis war 1999 eine schlimme Rezession.
Die Rolle der Hedgefonds
Es sieht fast so aus, als gäbe es für Entwicklungsländer gar keine glückliche Lösung. Das bedeutet jedoch nicht, dass es während der Finanzkrisen jener Zeit keine Schurken gab. Die Macht einzelner Marktteilnehmer, insbesondere der Hedgefonds, wurde lange unterschätzt. Diese nutzen die Marktschwankungen aus, indem sie auf sinkende oder steigende Kurse spekulieren.
„Nichts könnte schlimmer sein, als das Notwendige zu unterlassen, nur weil man fürchtet, Aktionen zur Rettung des Finanzsystems könnten irgendwie ,sozialistisch‘ sein.“
Bei einer so genannten Baisse-Spekulation leiht sich der Fondsmanager eine Aktie mit dem Versprechen, sie zu einem bestimmten Zeitpunkt zurückzugeben. Er verkauft sie zwischenzeitlich, investiert das Geld anderweitig und hofft, dass die Aktie beim Rückkauf, den er ja tätigen muss, weniger wert sein wird. Geht alles gut, winken große Gewinne. Wenn nicht, ist der Anleger angeschmiert. Hedgefonds werfen mit Geld um sich, das ihr Einlagekapital um ein Vielfaches übersteigt, und sie haben die Macht, Märkte zu bewegen.
Die Schattenbanken
Die Geschichte des Bankwesens ist voll von periodisch wiederkehrenden Krisen infolge von Bankenstürmen. Sie treten ein, wenn alle Einleger einer Bank ihr Geld auf einmal zurückverlangen. Um das System gegen solche und andere Krisen zu wappnen, wurde es reguliert. Man zwang die Banken u. a., bestimmte Kapitalreserven zu halten.
„Im Prinzip sollten alle dasselbe tun, denn wir stecken alle zusammen im Dreck.“
Nach der Großen Depression kam es in den USA zu weiteren Sicherheitsmaßnahmen: Nur stark regulierte Depositenbanken durften Einlagen entgegennehmen, Investmentbanken jedoch nicht. Dies führte allerdings zur Bildung eines Schattenbankensystems. Weil die kaum regulierten Investmentbanken weit bessere Renditen boten, wuchsen sie unverhältnismäßig stark. Sie boten Produkte an, bei denen alle zu gewinnen schienen.
„Drängten sich einstmals verzweifelte Menschen vor verschlossenen Banken, so vollzog sich der Ansturm diesmal in Form verzweifelter Mausklicks, aber deshalb war er nicht minder verheerend.“
Ein Beispiel sind die Auction-Rate-Security-Papiere von Lehman Brothers: Einzelpersonen liehen dem Institut langfristig Geld. Jede Woche veranstaltete es eine Auktion, bei der jeder dieser Leihgeber aussteigen und sein Geld zurückerhalten konnte, wenn es nur genügend Bieter gab, die einsteigen wollten. Das Verhältnis zwischen Ein- und Aussteigern bestimmte den variablen, relativ hohen Zinssatz. Anfang 2008 waren 400 Milliarden Dollar in dem System gebunden. Dann gab es plötzlich nicht mehr genügend Bieter, eine Auktion nach der anderen scheiterte und die Einleger wollten ihr Geld zurück. Das Ganze war im Grunde nichts anderes als eine Serie von Bankenstürmen. Mit einem Unterschied: Die Einlagen waren nicht gesichert.
Die neue Krise
Während der Immobilienblase wurden Kredite vergeben, von denen die Gläubiger wussten, dass die Schuldner sie nie würden zurückzahlen können. Solange die Hauspreise anzogen, war das kein Problem. Doch im Herbst 2005 begann die Blase, langsam Luft abzulassen. 2007 wurde es unmöglich, zweitklassige Subprime-Häuserkredite in Finanzprodukte umzuverpacken und sie wie zuvor in der ganzen Welt zu verkaufen.
„Alles, was das tut, was eine Bank macht, alles, was in Krisen gerettet werden muss, so wie Banken gerettet werden, sollte auch wie eine Bank reguliert werden.“
Der Zusammenbruch der Schattenbanken löste dann die eigentliche Krise aus. Konservativ geführte Fonds verloren durch das Desaster mit den Subprime-Krediten an Vertrauen und zogen ihre Mittel ab. Dies setzte einen Teufelskreis in Gang, der immer weitere Vermögensverkäufe zu immer niedrigeren Preisen erzwang und Kapital dahinschmelzen ließ wie Butter in der Sonne. Die Finanzmärkte spielten verrückt. Die Fed senkte die Zinsen von 5,25 % gegen null und steigerte die direkten Ausleihungen an die Banken von beinahe null auf über 400 Milliarden Dollar. Anders als in früheren Krisen fehlte diesen Maßnahmen aber der nötige Biss. Warum? Weil die herkömmliche Geldpolitik bei den Schattenbanken versagt.
„In der Welt von Keynes – und in der unseren – betraf die eigentliche Knappheit nicht die Ressourcen oder gar die Tugend, sondern die Erkenntnis.“
Binnen kurzer Zeit weitete sich die Krise aus. Die Globalisierung des Finanzwesens in den vergangenen Jahren hätte dieses Risiko durch die vielen wechselseitigen Beteiligungen eigentlich verringern sollen. Wenn ein Land in die Rezession schlitterte, so die Idee, könnte man sich auf Investitionen in anderen Ländern verlassen. Doch ein Großteil dieser grenzübergreifenden Investitionen war hochriskant. Die Pleite von Lehman Brothers brachte schließlich alle Kreditflüsse zum Versiegen, die Währungen der Schwellenländer sackten ab und eine sich selbst verstärkende Panik machte sich breit. Die amerikanische Finanzkrise ist zur globalen geworden. Und die Politik scheint machtloser denn je.
Ein Plädoyer für Keynes
Niemand hätte bis vor Kurzem geglaubt, dass eine globale Nachfrageschwäche heute noch möglich sei. Die Welt vertraute in die Fähigkeiten der Zentralbanker, Konjunkturschwächen durch Zinssenkungen wegzubügeln. Ein Irrtum. In dieser Krise kommt es kurzfristig auf zwei Dinge an: Kredite müssen wieder fließen und die Menschen müssen sich wieder trauen, Geld auszugeben. Die Regierungen weltweit sollten ihre Maßnahmen koordinieren und strauchelnde Banken rekapitalisieren, selbst wenn dieser Schritt auf eine zeitlich begrenzte Teilverstaatlichung des Systems hinausläuft. Außerdem müssen die Staaten in ihre Infrastruktur investieren, Beschäftigung schaffen und so die Nachfrage wieder beleben. Es ist an der Zeit, die Lehren der Großen Depression wieder zu beherzigen: Was in schlechten Zeiten eine staatliche Rettung verdient, muss in guten Zeiten reguliert werden.