Ein versteckter Riese
Auch China und Indien galten einst als weiße Flecken auf der Landkarte von Investoren: interessant vielleicht aus humanitärer Sicht, aber eben eher ein Sozialfall als eine Investmentchance. Speziell Indien, das eine Reihe gescheiterter Demokratie-Experimente hinter sich hatte, galt als „vorprogrammierter Verlust“. Jahrzehnte später denkt das niemand mehr. Auch die afrikanische Story ist leicht zu übersehen. Afrikas großes Plus: mehr als 900 Millionen Verbraucher, die langsam, aber sicher Unternehmen, Volkswirtschaften und Gesellschaften hervorbringen. Die Herausforderungen dabei sind enorm, denn die Probleme des Kontinents reichen von Aids und Malaria über Korruption bis hin zu offenem Krieg.
„Es ist klar, dass jedes globale Unternehmen, das an Wachstum interessiert ist, Afrika als wesentlichen Teil seines Portfolios betrachten muss.“
Betrachtet man Afrika als Ganzes, ist es die zehntgrößte Volkswirtschaft der Welt mit einem Bruttonationaleinkommen von rund 1000 Milliarden US-Dollar im Jahr 2006. Damit rangiert es praktisch gleichauf mit Indien und bis auf Wachstumsgigant China auch vor den anderen, viel gerühmten BRIC-Staaten (BRIC: Brasilien, Russland, Indien, China).
Innen- und Außenwahrnehmung
Ein Blick auf die Flugpläne von Kenya Airways zeigt, dass sich Afrika vor allem in Richtung Osten orientiert. Die Nervenbahnen der Fracht- und Passagierlinien führen nach Indien und China, von Nairobi geht’s nach Guangzhou oder Bombay – und zurück. Im Jahr 2007 revanchierte sich Chinas Ministerpräsident Hu Jintao für ein in Peking abgehaltenes Gipfeltreffen der afrikanischen Länder mit einer Reise durch acht Staaten des Kontinents. Womöglich erkennen Indien und auch China am besten das Marktpotenzial, das in Afrika schlummert, haben sie selbst einstmals doch ganz ähnliche Entwicklungen durchgemacht.
„Jede Volkswirtschaft hat ihre Problemzonen und man kann nicht das Ganze nach den Ausreißern beurteilen.“
Für Außenstehende mag der fast überall in Afrika verbreitete Optimismus überraschen. Gemäß einer Umfrage der New York Times aus dem Jahr 2007 wähnen sich die meisten Afrikaner in einer besseren Situation als noch fünf Jahre zuvor. In Senegal, Nigeria oder Kenia lag die Quote bei jeweils über 50 %. Auch in Bezug auf ihre Zukunft sind die Afrikaner optimistischer, als man vermutet hat. Eines kam indes ebenfalls heraus: Über 70 % der Äthiopier befanden, dass in der internationalen Presse nicht angemessen über ihr Land berichtet würde. Das bestätigt den Eindruck, dass sich die Weltöffentlichkeit eher auf die Probleme Afrikas eingeschossen hat, während sich die Afrikaner selbst den überall vorhandenen Chancen widmen.
Gigantisches Bevölkerungswachstum
Auf Basis der Daten des Jahres 2006 liegt das Bruttonationaleinkommen des gesamten Kontinents pro Kopf um ein Viertel über demjenigen Indiens. Gleich ein Dutzend afrikanische Länder rangieren sogar vor China und insgesamt 20 Staaten vor Indien. Etwa ein Viertel aller Afrikaner leben in Regionen mit einem Wirtschaftswachstum von mehr als 6 % pro Jahr. Ebenfalls fast unbemerkt: Zwei Drittel der afrikanischen Länder haben mehr Einwohner als Boomstaat Singapur. Wenn sich die Weltgemeinschaft Staaten wie Singapur oder auf europäischer Ebene Zypern „nicht entgehen lassen“ kann, weshalb werden dann sowohl der afrikanische Kontinent als Ganzes wie auch viele herausragende einzelne Länder mit Nichtbeachtung bestraft? Laut einer Prognose wird die Bevölkerung Europas bis ins Jahr 2050 um 60 Millionen Menschen zurückgehen, die von Afrika jedoch um 900 Millionen wachsen – das wäre sage und schreibe eine Verdopplung.
Mobiltelefone als Beschleuniger
Handybetreiber machen es vor: Sie nutzen die Größe des Kontinents und fahren grenzüberschreitende Strategien. Afrika ist einer der am schnellsten wachsenden Mobilfunkmärkte der Welt: Marktführer MTN aus Südafrika ist mittlerweile in 21 afrikanischen Ländern unterwegs. Das bekannte Unternehmen Vodafone hat mehr als 25 Millionen Kunden in Afrika, und die Firma Orascom hat neben ihren 20 Millionen afrikanischen Kunden weitere 20 Millionen im Nahen Osten. Ob arm oder reich – die Menschen kommunizieren. In den offiziellen Zahlen spiegelt sich indes kaum die Wirklichkeit wider, denn oft teilen sich viele Nutzer ein Handy. Mobiltelefone gelten als Beschleuniger für die Wirtschaft, da andere Unternehmen an die bestehenden Kundenbeziehungen andocken können.
Probleme sind da, um überwunden zu werden
Echte Probleme können nicht heruntergespielt werden; wer in Afrika tätig ist, muss sich ihnen stellen. Korruption ist ein Übel in vielen Ländern des Kontinents. Die informelle Wirtschaft, die so genannte Schattenwirtschaft, belief sich um die Jahrtausendwende Schätzungen zufolge auf 42 %. Unrühmliche Spitzenreiter wie Simbabwe, Tansania und Nigeria kommen gar auf Werte zwischen 50 und 60 %. Aber die gleichen Einwände gab es zuvor in China und auch in Indien. Schließlich wurden die Hürden dort doch irgendwie genommen.
Mit dem Zweiten sieht man besser
Unternehmer kennen keine Gnade bei der Einteilung lukrativer Märkte. Global tätige Unternehmen fokussieren die Kaufkraftklassen A und B: die Segmente mit den höchsten verfügbaren Einkommen, die Elitesegmente – es sind quasi die niedrig hängenden Früchte eines jeden Landes oder auch Kontinents. Auf ein solches „Africa One“ entfallen jedoch nur 5 bis 15 % Marktanteil oder geschätzte 50–150 Millionen Menschen. „Africa Two“ dagegen, das sich aus der Klasse C rekrutiert, umfasst zwischen 350 und 500 Millionen Menschen. Sie streben einen höheren Lebensstandard an und haben gute Chancen, ihn zu erreichen (im Gegensatz zu den niedrigen Klassen D und E). Mit anderen Worten: Die Mittelschicht Africa Two könnte die künftige Elite des Kontinents oder die Zukunft afrikanischer Verbrauchermärkte sein. Ob bei Bekleidung, Pflegeprodukten, Banken, Elektronikartikeln oder Fortbewegungsmitteln: Mehr und mehr global agierende Unternehmen erkennen die Chancen, die Africa Two bietet, und penetrieren die entsprechenden Märkte. In den Segmenten D und E dagegen entscheidet die „kleinste Münze“, das Produkt mit der niedrigsten Preisgestaltung und dem höchsten Nutzwert für den Verbraucher. Viele Artikel kosten nur wenige Cents, was sich für den Hersteller angesichts der Masse an Verbrauchern trotzdem lohnen kann.
Kundenbeziehungen sind das A und O
Wo man keinen Markt vorfindet, muss man ihn eben schaffen – das lernen Unternehmen, die in Afrika erfolgreich tätig sein wollen, tagtäglich. In „Tante-Emma-Läden“ beispielsweise können gute Kunden (mitsamt ihrer Familie) anschreiben lassen. Dieser traditionelle Kredit kommt inzwischen in einer modernen Version zu den Kunden: als form- und zinsloser Kredit, mit dem Banken sich ihre Kunden einfangen. Informelle Märkte müssen formell gemacht werden, wenn man Geschäfte betreiben will. So verspricht eine große afrikanische Supermarktkette ihren Kunden Payback-Punkte, die zur Bezahlung des Schulgelds der Kinder genutzt werden können. Und Unternehmen, die No-Name-Produkte oder glatte Fälschungen bei den Straßenhändlern bemerken, registrieren zunehmend, dass es offensichtlich einen Absatzmarkt gibt, den man doch gleich besser selbst nutzt: So geht Microsoft gegen Produktpiraterie vor, indem spezielle Billiglizenzen verkauft werden, die z. B. für drei Monate nutzbar sind. Ähnliches gilt für Autos und Pharmazeutika.
Infrastruktur: viel Aufholpotenzial
Frisches Wasser, zuverlässige Elektrizitätsversorgung und für alle verfügbare Medizin: an diesen drei Dingen fehlt es in Afrika, weil die entsprechende Infrastruktur noch nicht existiert. Die positive Sicht: Hier bieten sich riesige Chancen für Infrastrukturinvestitionen. Ob Generatoren, Wasserpumpen oder sanitäre Anlagen – der Aufbau von Strukturen, die Grundbedürfnisse befriedigen, bietet Spielraum für kreative und praxistaugliche Lösungen. Auch Fluggesellschaften sind in Afrika im Aufwind, indem sie die Segmente Africa One und Africa Two adressieren. Schließlich das Internet: Es ist in Afrika derzeit erst etwa 60 Millionen Menschen zugänglich. Entsprechend groß ist das Potenzial für Telekom-Anbieter.
Die Geparden-Generation
Afrika ist ein junger Markt – im wahrsten Sinn des Wortes – und er wird durch die Bevölkerungsentwicklung täglich jünger. Mehr als zwei Fünftel der Bevölkerung sind unter 15 Jahre alt, im Gegensatz zu Indien mit 33 % und China mit 20 %. Die Lebenserwartung hingegen liegt nur bei durchschnittlich 53 Jahren.
„Die rund 700 Millionen Menschen in Afrika südlich der Sahara ohne Südafrika haben ungefähr so viel Strom wie die 38 Millionen Menschen in Polen.“
Diese „Geparden-Generation“ hat nicht nur andere Bedürfnisse als die älteren Afrikaner, sie bedient sich auch anderer „Sprachen“, so z. B. der Sprache der Musik und der Sprache des Sports. Beide sind Katalysatoren für die wirtschaftliche Entwicklung, für den sich zunehmend ausweitenden Tourismus und für das Streben nach Bildung. Die Jungen formen heute den Kontinent, und es wird ein anderer sein als jener, den noch ihre Eltern oder gar Großeltern gekannt haben.
Nollywood und Fußball
Nicht nur Internet und Handy feiern ihren Vormarsch, auch die Filmindustrie wächst rasant. Afrikas Beitrag zur Filmkunst besteht längst nicht mehr nur aus Omar Sharif und Charlize Theron. Nigerias „Nollywood“ ist die stärkste kommerzielle Macht im afrikanischen Filmbusiness. Der Jahresumsatz der über 2000 Filme liegt bei geschätzten 200–300 Millionen US-Dollar. Die Produktionen sind zwar äußerst billig und bieten oft eine eher dürftige Handlung – Fans jedoch scheinen den Nollywood-Stil ins Herz geschlossen zu haben, die Nachfrage nach Filmen spricht für sich. Kein westliches Unternehmen des Metiers wäre wohl auf die Idee gekommen, solche Budgetfilme zu drehen – aber sie funktioniert.
„Nigeria besitzt heute nach Hollywood und Bollywood die drittgrößte Filmindustrie der Welt.“
Als mediales Großereignis steht die Fußballweltmeisterschaft 2010 im südafrikanischen Johannesburg vor der Tür. Sie schafft Arbeitsplätze – einmal mehr – beim Aufbau der Infrastruktur und im Tourismus.
Zurück zu den Wurzeln – immer wieder
Ein zunehmend gewichtiger Wirtschaftsfaktor für Afrika ist die Diaspora. Rund 100 Millionen Afrikaner leben und arbeiten irgendwo im Ausland, schicken aber Jahr für Jahr Geld in ihre Heimat. Und nicht nur das: Sie sind auch Know-how-Träger, die, wenn sie zurückkehren, Afrika bei seinem weiteren Aufstieg helfen. Schätzungen zufolge dürften sich die Überweisungen im Ausland lebender Afrikaner im Jahr 2006 auf rund 44 Milliarden US-Dollar belaufen haben. In Somalia beispielsweise machten die Zuwendungen aus dem Ausland ein Viertel des Bruttoinlandsprodukts aus, in Lesotho ein Fünftel. Nigeria erhält Überweisungen in Höhe von rund einem Drittel seiner nicht geringen Öleinnahmen.
„Im Ausland lebende Ghanaer haben im Jahr 2005 den Betrag von 800 Millionen Dollar nach Hause geschickt – mehr als Ghana mit dem Export von Kakao oder Gold eingenommen hat.“
Doch die Emigranten denken nicht nur in der Ferne an die Daheimgebliebenen, sie reisen auch regelmäßig in die Heimat und tragen damit wiederum zum Tourismus in Afrika bei. Dieser stieg im Jahr 2006 mit 8 % zum zweiten Mal in Folge schneller als in irgendeinem anderen Land der Erde. Die Bedeutung der Diaspora machte nicht zuletzt der ehemalige US-Senator und heutige Präsident Barack Obama deutlich, als er vor der Verkündigung seiner Präsidentschaftskandidatur nach Kenia reiste – in das Heimatland seines Vaters.