Mobbing ist meistens Bossing
Noch in den 1990er Jahren hielt man lieber den Mund, wenn man von Kollegen oder Vorgesetzten getriezt wurde. Viel zu schnell hatte man den Ruf der Mimose, des Neurotikers oder der Heulsuse. Mittlerweile weiß man es besser: Wiederholte Schikanen am Arbeitsplatz, die über einen längeren Zeitraum anhalten, sind unter dem Begriff Mobbing bekannt und geächtet. Sie führen erwiesenermaßen zu seelischen und körperlichen Beschwerden und in der Konsequenz zu erheblichem volkswirtschaftlichem Schaden.
„Mobbing ist entgegen weit verbreiteter Vorurteile keine überwiegend ‚kollegiale Angelegenheit‘ – in aller Regel bedeutet Mobbing Bossing.“
Die Zahl der Mobbingopfer beträgt in der Schweiz ca. 100 000, in Österreich 200 000 und in Deutschland etwa eine Million. Bedingt durch Krankheiten, Fehlzeiten und Produktionsausfälle kostet das den Staat Deutschland verschiedenen Erhebungen zufolge zwischen 15 und 50 Milliarden Euro. In Österreich geht man von 1,2 Milliarden aus, in der Schweiz von 20 Milliarden Franken pro Jahr.
„Bossing ist von oben erklärter und geführter Psychokrieg.“
Die Ansicht, es seien Kollegen, die die anderen Mitarbeiter drangsalieren, hält sich hartnäckig. Umso erstaunlicher ist die Tatsache, dass in mindestens 50 % aller Fälle der Vorgesetzte der Täter ist. Besonders gefährdet sind Frauen, deren Boss männlich, 35–54 Jahre alt und schon lange Zeit im Unternehmen ist. Es ist deshalb sinnvoll, mit den korrigierenden Schritten bei den Führungskräften anzusetzen.
„Viele Mobbing- und Bossingfälle sind nicht mehr zu korrigieren oder gar zu heilen.“
Gelegentlich kommen alle Ratschläge zu spät: Das Mobbing, oder in diesem Fall Bossing, hat bereits eine zu starke Eigendynamik entwickelt und zu viel zerstört, als dass die Situation noch zu retten wäre. Die meisten Chefs aber sind keine Bosser – und wenn, dann keine notorischen. Es kommt bloß vor, dass sie ihr legitimes Bedürfnis nach Macht und Anerkennung mit negativen Methoden befriedigen. Dann finden sie sich statt als Gewinner und Leader plötzlich in der Rolle des Kriegers und Despoten wieder. In solchen Fällen können geeignete Maßnahmen helfen.
Mobbing: kollegiale Kriegsverhältnisse
Wenn in der Teeküche über einen Kollegen geklatscht wird, muss das noch kein Mobbing sein. Davon spricht man erst, wenn jemand mit Absicht Gerüchte streut, und das immer wieder. Der betroffene Kollege wird nie angehört, sozial isoliert, öffentlich gedemütigt und nur noch mit nutzlosen Aufgaben betraut. Das sind die häufigsten Taktiken von Mobbern.
„Um als Mobbing zu gelten, müssen die Gemeinheiten längere Zeit konsequent und mit Absicht durchgeführt werden.“
Mobbing beginnt meist mit einem Streit, der bei den Beteiligten negative Gefühle hinterlässt. In der Folge legt eine Person einer anderen gegenüber ein leicht aggressives Verhalten an den Tag. Diese Sticheleien dauern an und arten zu Terror aus. Irgendwann bekommen die anderen Kollegen mit, was sich hier abspielt. Der Betroffene spürt starke Belastungen im psychosomatischen Bereich, leidet an Depressionen, Schlaf- oder Essstörungen, Magen-Darm- oder Herz-Kreislauf-Erkrankungen. Schließlich bleibt ihm nichts anderes übrig, als den Job zu wechseln oder in den Ruhestand zu gehen.
„Zu Mobbinghandlungen zählen auch unterlassene Hilfeleistungen von Kollegen, die eine Mobbingsituation dulden, sie ignorieren, verharmlosen und negieren, oder gleich den Betroffenen die Schuld für die Attacken zuweisen.“
Was können Sie gegen Mobbing tun? Sollte ein Kollege betroffen sein, dürfen Sie keinesfalls die Vogel-Strauß-Taktik anwenden und den Kopf in den Sand stecken. Dadurch machen Sie sich mitschuldig. Wenn Sie selbst das Opfer sind, haben Sie folgende Möglichkeiten: Ziehen Sie so früh wie möglich eine Vertrauensperson – z. B. einen anderen Kollegen – zurate, machen Sie sich zu Ihrem eigenen Vorgehen und den Aktionen Ihres Widersachers Notizen und suchen Sie das Gespräch mit ihm.
„Wer bosst, übt auf längere Zeit Druck auf seine Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen aus. Sie sollen sich anpassen, unterwerfen oder, weitaus häufiger, den Job aufgeben – sei es durch Kündigung, Krankheit oder Verrentung.“
Sie brauchen ein Mobbingtagebuch, in dem die Mobbinghandlungen, das Datum, die Beteiligten und die Zeugen vermerkt sind. Es schadet auch nicht, schriftliche Beweise wie E-Mails oder Arbeitsanweisungen zu sammeln. Wenn das nicht hilft, beziehen Sie die Personalabteilung und den Betriebsrat mit ein. Als letzten Schritt holen Sie sich Unterstützung bei Selbsthilfegruppen, einem Therapeuten und einem Rechtsanwalt.
„Zu den Motiven der Täter zählen Neid, Statuserhalt, geringe soziale Kompetenzen, aber auch ein hoher bis übertrieben hoher, jedoch nicht immer stabiler Selbstwert.“
Wichtig: Mobbing ist strafbar! In Deutschland werden Sie etwa von den Bestimmungen des Grundgesetzes, des Straf-, Zivil- und Arbeitsrechtes vor Schikanen geschützt. Ihr Arbeitgeber hat die Pflicht, Sie vor gesundheitsschädlichen Zuständen am Arbeitsplatz schützen.
Leider sind diese Anti-Mobbing-Strategien nur in 8 % aller Fälle erfolgreich. 60 % enden damit, dass das Opfer den Arbeitsplatz verlässt. Bemühen Sie sich lieber gleich bei den ersten Anzeichen von Mobbing, den Konflikt zu lösen. Zeigen Sie in einer Aussprache mit dem oder den Mobbern Kompromissbereitschaft und Lösungswege. Die Situation auszusitzen oder ignorieren zu wollen, ist sinnlos.
Bossing: ein Führungsproblem
Warum mobben Vorgesetzte? Manche sehen darin das simpelste Mittel, eine ohnehin gewünschte Kündigung herbeizuführen. Vielleicht ist ein Konflikt eskaliert, das Vertrauen zerstört oder der Chef mag den Mitarbeiter ganz einfach nicht. In anderen Fällen sieht ein Vorgesetzter sich gezwungen, Leute zu entlassen, und will sich die Abfindung sparen, indem der Mitarbeiter von alleine kündigt.
„Besonders stark gemobbt wird in Unternehmen, wo Arbeitsplätze gefährdet sind, und in solchen, wo sehr autokratisch geführt wird.“
Daneben gibt es die narzisstischen und die machtbesessenen Chefs, die alles unter Kontrolle haben müssen – am liebsten auch die Gedanken der Belegschaft. Solche Vorgesetzten sind beispielsweise neidisch oder fühlen sich in ihrem Selbstwert bedroht. Schließlich mobben viele Chefs unabsichtlich, weil sie nicht gelernt haben, richtig mit Konflikten umzugehen, und führungsschwach sind.
„Eine reife Persönlichkeit hat Charakter. Sie hat gelernt, ihre persönlich prägenden Werte in grundmotivationaler Hinsicht praktisch ausschließlich im oberen Bereich des Grundmotivquadrats zu gestalten.“
Opfer von Bossing haben tendenziell noch größere Probleme als solche, die von Mitarbeitern gemobbt werden. Die Chefs verfügen nämlich über mehr Kompetenzen und Handlungsmöglichkeiten, sie können Mitarbeiter ungestraft beschimpfen, in einen Raum fernab von anderen Kollegen setzen, ihnen Verantwortung entziehen und Karrierechancen verbauen.
Das Wertequadrat
Die Motivationsforschung der vergangenen 15 Jahre hat Grundmotive des Menschen zutage gefördert, darunter Freiheit, Wissen, Prinzipientreue, Wettkampf und Ordnung. Darauf aufbauend wurde das so genannte Wertequadrat entwickelt: Stellen Sie sich eine Eigenschaft vor, z. B. Sparsamkeit. Wird sie übertrieben, und damit entwertet, äußert sie sich als Geiz. Das Gegenteil von Geiz ist Großzügigkeit. Ist man allerdings zu großzügig, wird man verschwenderisch. Im Wertequadrat stehen Sparsamkeit und Großzügigkeit in einem positiven Spannungsverhältnis im oberen Bereich. Darunter zeigen Geiz und Verschwendung die negative Übertreibung.
„Besprechen Sie mit den Mitgliedern Ihres Teams auch deren Erwartungen an Sie.“
Ein solches Wertequadrat lässt sich für alle Grundmotive erstellen. Einer idealen Führungskraft gelingt es, sich an positiv besetzte Ausprägungen der Grundmotive zu halten. Interessant ist dabei die Eigen- und Fremdwahrnehmung. So sieht sich der „Macher“ selbst vielleicht als zielstrebig, andere hingegen betrachten sein Verhalten als anmaßend. Augenscheinlich ist, dass bei Bossern die Werte Anerkennung, Wettkampf und Macht stark ausgeprägt sind, während Hilfe, Prinzipientreue und Fürsorge für sie Fremdwörter zu sein scheinen.
Eigencoaching für Bosser
Als Führungskraft müssen Sie sich bewusst machen, wie und warum Konflikte entstehen. Jeder hat seinen eigenen Standpunkt und beurteilt andere Menschen nach seinen Wertvorstellungen. Was für den einen Ordnung ist, heißt für den anderen vielleicht Kleinkariertheit. Der eine sieht das Chaos, der andere die Flexibilität. Versetzen Sie sich in den Gesprächspartner hinein und versuchen Sie nicht krampfhaft, ihn von Ihrer Sichtweise zu überzeugen. Machen Sie ihn nicht klein, nur weil er anderer Meinung ist. Aggressionen helfen nicht weiter. Ergründen Sie, was Sie aggressiv macht und in welchen Situationen Aggressivität bei Ihnen schon mal aufgetreten ist.
„Der typische Bosser ist aggressiv, anerkennungssüchtig und ichschwach, sowie ethisch und moralisch unreif oder zumindest unterentwickelt.“
Überprüfen Sie Ihr Führungsverhalten, indem Sie sich folgende Fragen stellen: Erkundige ich mich bei meinen Mitarbeitern, wie es ihnen persönlich geht und wie sie sich ihre berufliche Zukunft vorstellen? Lobe ich genug? Beziehe ich meine Mitarbeiter bei Entscheidungen ein, vor allem dann, wenn es um Veränderungen in ihrem unmittelbaren Umfeld geht? Führen Sie mindestens einmal jährlich ein persönliches Mitarbeitergespräch mit jedem Einzelnen und reservieren Sie sich einmal pro Woche einen Zeitraum, in dem Sie über sich und Ihr Führungsverhalten nachdenken.
„Der Ordnungsliebende, organisierte Zeitgenosse sieht sich selbst als kontrolliert, planvoll und gründlich. Die Gegenseite, den Flexiblen, sieht er als schlampig, oberflächlich, liederlich und chaotisch.“
Um dem Mobbing unter Mitarbeitern vorzubeugen, sollten Sie sich fragen, wie es um die Atmosphäre im Büro bestellt ist. Herrscht starker Konkurrenzdruck? Ist die Fluktuation hoch? Sind Gerüchte und Klatsch an der Tagesordnung und wird immer wieder beim Chef gepetzt? Wenn ja, herrschen ideale Rahmenbedingungen für Mobbing.
„Hoffnung ist keine reine Gefühlssache, sie hängt ebenso vom Verstand ab.“
Treffen sich dagegen die Kollegen auch privat, wird eigenverantwortliches Handeln gefördert und ist die wirtschaftliche Lage des Unternehmens gut, ist Mobbing unwahrscheinlicher. Glückliche Mitarbeiter mobben nämlich nicht. Fördern Sie Ihre Angestellten und achten Sie darauf, dass sie nicht systematisch unter- oder überfordert werden. Geben Sie Ihnen Feedback, klare Ziele, sinnvolle Aufgaben und ein Gehalt, das ihrem Einsatz und ihrer Verantwortung entspricht und damit fair ist.
Wertemanagement und die soziale Verantwortlichkeit (Corporate Social Responsibility) gewinnen im Unternehmen an Bedeutung. Dazu gehört neben Umwelt- und Arbeitnehmerschutz auch faire Führung. Streben Sie in allem, was Sie tun, eine Win-win-Situation für sich und ihre Mitarbeiter an. Im Lauf der Evolution ist der Mensch mit Kooperation immer besser gefahren als mit Konkurrenz.
Was der Gebosste tun kann
Leider zeigen Studien, dass Bossing- oder Mobbingbetroffene bei ihrer Suche nach einem Ausweg oft die falschen Strategien anwenden. Zwei Taktiken helfen aber wirklich: Hoffen und Notwehr.
Hoffnung ist ein Anker in Stresszeiten. Psychologen haben herausgefunden, dass manche Menschen über eine starke psychische Widerstandskraft – Resilienz genannt – verfügen, die sie schwierige Lebenssituationen meistern lässt. Anstatt zu verzweifeln, tun sie alles, um der Krise zu entkommen. Diese Widerstandskraft ist besonders bei intelligenten Menschen zu finden, und sie ist auch erlernbar.
Was machen resiliente Personen anders? Zum einen suchen sie Halt bei Menschen in ihrer Umgebung. Überlegen Sie, wem Sie sich anvertrauen können und wer Sie in Ihrer Situation unterstützen könnte. Gestehen Sie sich ein, dass Sie es mit einem Problem zu tun haben, denn resiliente Menschen lassen Schmerz zu, anstatt ihm aus dem Weg zu gehen.
Versuchen Sie das Problem proaktiv zu lösen. Hoffen heißt in diesem Fall nicht „positiv denken“, sondern die Vernunft gebrauchen, sich erreichbare Ziele setzen und danach handeln. Lehnen Sie es ab, die Schuld für die Situation auf sich zu nehmen – Sie sind nicht der Täter, sondern das Opfer. Damit diese Ratschläge zu konkreten Handlungsempfehlungen werden, malen Sie sich ein wirklich schlimmes Ereignis aus – z. B. den Verlust Ihres Arbeitsplatzes oder Ihres Partners. Wie würden Sie sich im Falle eines solchen Schicksalsschlages verhalten? Diese Übung hilft Ihnen auch bei der Vorbereitung Ihrer Notwehr.
Planen Sie konkret, was Sie bei der nächsten Grenzüberschreitung Ihres Vorgesetzten tun. Sie könnten sich die Ohren zuhalten, wenn er schreit, ihn ignorieren oder auslachen. Oder ihn verunsichern, indem Sie ihm zeigen, dass Sie im Betrieb Hilfe von anderen Mitarbeitern erwarten können. Machen Sie seine Mobbingaktionen publik und schüchtern Sie ihn ein, indem Sie rechtliche Schritte glaubhaft ankündigen. Lassen Sie aber die Finger von Gegenmobbing.