Demografischer Wandel und veränderte Altersstrukturen
Im Lauf des 20. Jahrhunderts ist die durchschnittliche Lebenserwartung in Deutschland um über 30 Jahre gestiegen. Zugleich haben stark fallende Geburtenraten den Anteil junger Menschen an der Bevölkerung rapide schrumpfen lassen.
Dieser demografische Wandel – Rückgang und gleichzeitige Alterung der Bevölkerung – wird in den kommenden Jahrzehnten tief greifende Veränderungen auf dem Arbeitsmarkt nach sich ziehen:
- Es rückt immer weniger Personal aus der Ausbildung nach. So wird es bis 2020 knapp ein Fünftel weniger Schulabgänger von allgemeinbildenden Schulen geben.
- Die Beschäftigungsquote der 55–64-Jährigen wird weiter steigen. Zurzeit beträgt sie in Deutschland knapp über 50 %.
- Die Anforderungen an die Qualifikation werden noch höher sein als heute.
- Die Sozialsysteme werden an die Grenzen ihrer Belastbarkeit gelangen – oder auch darüber hinaus.
„Seit Anfang der 1970er Jahre ist jede Kindergeneration um etwa ein Drittel kleiner als die Elterngeneration und wird im Schnitt fünf Jahre länger leben.“
Um diesen Herausforderungen wirksam zu begegnen, bedarf es eines neuartigen, lebensereignisorientierten Personalmanagements (LEP). Dieses setzt den Fokus auf die unterschiedlichen Lebensstadien, in denen sich die jeweiligen Mitarbeiter befinden. Damit hat es zugleich eine unternehmerische und eine individuelle Ausrichtung. Eines der zentralen Ziele des LEP ist, dass die Mitarbeiter über ihren gesamten Erwerbszyklus hinweg beschäftigungsfähig bleiben. Eine Firmenkultur, die LEP unterstützt, zeichnet sich durch Altersneutralität und Flexibilität aus. Altersneutralität heißt, dass Mitarbeiter unabhängig von ihrem Alter zu Qualifizierungsmaßnahmen eingesetzt werden. Es kann aber auch bedeuten, dass der Altersaspekt bei der Zusammenstellung von Arbeitsteams eine wichtige Rolle spielt, z. B. indem man gemischte Teams bevorzugt.
„Die Mitarbeiter erwarten zunehmend, dass das Unternehmen ihre spezifische Lebenssituation berücksichtigt. Gerade von diesem Punkt hängt die wahrgenommene Attraktivität eines Arbeitgebers entscheidend ab.“
Die Personalstrategie des Unternehmens muss dafür nicht zwangsläufig neu erfunden werden. Wichtig ist, dass Sie sich den Herausforderungen des demografischen Wandels stellen und sich – im Streben nach den optimalen Voraussetzungen für den unternehmerischen Erfolg – an den Möglichkeiten unterschiedlicher Altersklassen in der eigenen Belegschaft orientieren.
Lebensereignisse und Reaktionen darauf
Nicht nur die Ansprüche des Unternehmens gilt es zu berücksichtigen; auch die Erwartungen des Personals werden sich immer weiter dahin gehend entwickeln, dass individuelle Lebenssituationen bei der Arbeit berücksichtigt werden. Dazu gehört z. B., dass die Mitarbeiter in die Bewertung ihrer Leistung einbezogen werden, dass versucht wird, Arbeitszeit und Arbeitszeitbedürfnis in Einklang zu bringen und dass größere Entscheidungsspielräume gewährt werden. Der erhöhte Druck, gute Fachkräfte zu halten, führt letztlich dazu, dass viele Unternehmen sich den gestiegenen Ansprüchen ihrer Mitarbeiter in stärkerem Maß verpflichtet fühlen müssen.
„Der Erhalt der eigenen Beschäftigungsfähigkeit liegt insbesondere in der Verantwortung jedes einzelnen Mitarbeiters selbst und muss von ihm maßgeblich vorangetrieben werden.“
Wie sieht das in der Praxis aus? Bei der Lebenssituation „Eintritt in ein Unternehmen“ steht eine rasche und reibungslose Integration an erster Stelle. Gleiches gilt für einen Standortwechsel. Die Phase der Qualifikation dagegen ist längst nicht mehr ein punktuelles Lebensereignis. Vielmehr erfordert sie von Unternehmen wie Mitarbeitern permanente Anstrengung. Bei Lebensereignissen, die die persönliche Karriere betreffen, kann anders als früher nicht mehr zwangsläufig von einem permanenten Aufstieg ausgegangen werden. Die erhöhte Lebensarbeitszeit kann durchaus auch mit einem Verlust an Kompetenz und Macht einhergehen. Einer damit verbundenen Frustration gilt es rechtzeitig entgegenzuwirken. Ein weiterer Faktor sind Veränderungen durch private Umstände, auf die sich Unternehmen einstellen müssen – an erster Stelle sind dies natürlich die Gründung einer Familie und die damit verbundene eingeschränkte Mobilität.
Externe und interne Einflussfaktoren
Eine Reihe von äußeren und inneren Faktoren kann die Möglichkeiten des LEP in der unternehmerischen Anwendung begrenzen. Zu den externen Einflussfaktoren gehören die Bereiche Politik, Recht und Gesellschaft, wobei vor allem neue gesetzliche Richtlinien den Gestaltungsraum des LEP begrenzen oder auch erweitern können. Beispielsweise hat die Anwendung des Altersteilzeitgesetzes mit Sicherheit in vielen Fällen ein Burn-out verhindert. Ein ähnlicher Zusammenhang besteht zwischen Bildung und Bildungspolitik. So hat die Bologna-Erklärung (ein Ende der 90er Jahre von 29 Staaten unterzeichnetes Abkommen) zu erheblichen Fortschritten bei der Vergleichbarkeit von Studienabschlüssen geführt und es den Unternehmen erleichtert, ihren Nachwuchs im Ausland zu rekrutieren.
„Eine praktizierte Altersneutralität ist die Grundvoraussetzung und gleichzeitig auch das Ziel von LEP.“
Leichter zu beeinflussen sind die internen Faktoren. Dazu gehören vor allem die Bildung und Pflege der Unternehmenskultur bzw. deren glaubwürdige Integration in der Firmenkommunikation. Auch für individuelle psychologische Faktoren gilt: Das LEP muss sich – auf ökonomisch sinnvolle Weise – an den Bedürfnissen der Mitarbeiter orientieren. Um dieser Aufgabe gerecht zu werden, muss es vom Management der Firma voll und ganz mitgetragen werden.
Instrumente des LEP
Durch die Einführung eines lebensereignisorientierten Personalmanagements werden Ihrem Unternehmen zusätzliche Möglichkeiten an die Hand gegeben, in einem sich ausdünnenden Arbeitsmarkt hoch qualifizierte Arbeitskräfte zu rekrutieren und die Bindung der Belegschaft ans Unternehmen zu festigen. Für viele, vor allem technisch orientierte Unternehmen wird das wirtschaftliche Überleben davon abhängen, inwieweit sie in der Lage sind, erstklassig ausgebildete Ingenieure und IT-Spezialisten einzustellen. Verschiedene Studien haben gezeigt, dass Unternehmen, die Aspekte des LEP in ihrem Personalmanagement berücksichtigen, von Jobsuchenden als zukünftige Arbeitgeber bevorzugt werden. Ein wichtiges Kriterium für Bewerber ist die Möglichkeit, ihre Arbeitszeit lebensereignisorientiert zu gestalten.
„Der leitende Grundsatz bei der lebensereignisorientierten Arbeitszeitgestaltung ist, die Regelarbeitszeit so zu liberalisieren, dass Mitarbeiter in Zeiten hoher Leistungsfähigkeit und -bereitschaft mehr arbeiten (und damit auch mehr verdienen) können als in Zeiten einer lebensereignisbedingten geringeren Leistungsfähigkeit und -bereitschaft.“
In der deutschen Unternehmenslandschaft gibt es mittlerweile eine Vielzahl erfolgreicher Beispiele. So setzt der Versicherungsverbund Die Continentale schon seit 1970 flächendeckend gleitende Arbeitszeitmodelle ein, die über einen langen Zeitraum größtmögliche Flexibilität gewährleisten und damit dem Personal ein Maximum an persönlicher Freiheit bieten.
„Die Frage einer individualisierten Personalpolitik lautet nicht, ob eine Individualisierung gebraucht wird, sondern wie viel und in welcher Form Individualisierung sinnvoll ist.“
Gleichermaßen hoch im Kurs stehen zusätzliche Qualifikationen, die ein Unternehmen bietet. Ein Beispiel dafür liefert die SICK AG, die zur Verbesserung der eigenen Personalentwicklung eine Kooperation mit einem nahe gelegenen IHK-Bildungszentrum eingegangen ist. Der Versicherer ASSTEL wiederum verfügt über ein lebensereignisorientiertes Gesamtvergütungssystem mit einer intelligenten Unterteilung der Vergütung in fixe und variable Bestandteile.
„Ein Unternehmen, das sich vornimmt, seine Unternehmenskultur bewusst zu verändern, steht sicher vor einer größeren Herausforderung als eines, bei dem durch externe Auslöser die Notwendigkeit unmittelbar nachvollziehbar ist.“
Der Clou: Liegt der erreichte Grad der Zielvorgabe bei über 100 %, wird jeder zusätzliche Prozentpunkt überproportional honoriert. Ein Mitarbeiter, der seine Vorgabe um 30 % und mehr übertrifft, kann dadurch sein Gehalt glatt verdoppeln. Ein Beispiel für ein ausgezeichnetes Gesundheitsmanagement bietet die Daimler AG. Dort werden nicht nur regelmäßig Fitnesschecks für Auszubildende durchgeführt, sondern auch Mittel bereitgestellt, um Mitarbeiter nach langwierigen Erkrankungen wieder in die Firma zu integrieren.
Weiterbildung und Change
Was können Unternehmen tun, um neuen Mitarbeitern den Eintritt zu erleichtern? Wie können sie in ihnen das Bedürfnis nach permanenter Qualifizierung wachhalten und so den steigenden Anforderungen des Markts genügen? Eine gute Möglichkeit bietet das Verbundstudium, eine Fachhochschulausbildung, die parallel zum Beruf absolviert werden kann. Ebenfalls beliebt, vor allem bei Unternehmen ohne eigene Personalentwicklung, sind so genannte Weiterbildungsbörsen, bei denen die Mitarbeiter selbst Anbieter und Nachfrager von Weiterbildung sind. Diese Börsen sind ein geradezu ideales Instrument, um die Qualifikation innerhalb der Firma zu fördern, denn jeder kann dabei von den Fähigkeiten anderer Mitarbeiter profitieren.
„Mitarbeiter, die das Unternehmen verlassen, sind ein Potenzial an Arbeitskräften, die eine Beziehung zum Unternehmen haben und zu denen das Unternehmen im Bedarfsfall einen guten Zugang haben kann.“
Ein weiteres Lebensereignis, das die Personalentwicklung eines Unternehmens stark fordert, ist der gesamte Bereich des „Change“, der Veränderung, sei es durch neue Eigentümer des Unternehmens, neue Strukturen oder neue Aufgaben infolge von Innovationen. Change-Situationen sind insofern schwer zu begleiten, als sie fast immer von außen in eine Firma hineingetragen werden und daher vom Management kaum zu kontrollieren sind. Anders ist die Situation, wenn z. B. ein Wandel der Unternehmenskultur eingeleitet werden soll. Hier kann das Unternehmen selbst massiv steuernd eingreifen.
„Eine Unternehmenskultur, die die Einführung und das Funktionieren eines lebensereignisorientierten Personalmanagements (LEP) unterstützt, ist vor allem durch die Eigenschaften Altersneutralität und Flexibilität charakterisiert.“
In jedem Fall sollten Unternehmen den Ausstieg von Mitarbeitern richtig begleiten. Ehemalige bergen ein viel zu wertvolles Potenzial, als dass man sie einfach so ziehen lassen sollte. Sinnvoller ist es, sie in Netzwerke zu integrieren oder sie als Mentoren für die nachrückende Mitarbeitergeneration zu nutzen.
Private Lebensereignisse
Sind Unternehmen tatsächlich in der Lage, auf die Privatsphäre einzelner Mitarbeiter einzugehen und diese ggf. zu unterstützen? Zumindest gibt es erfolgreiche Beispiele dafür. So hat die Daimler AG mit dem Programm „Elder Care“ ein Bündel von Maßnahmen geschnürt, das Mitarbeiter mit pflegebedürftigen Angehörigen unterstützt. Dazu zählen u. a. kostenfreie Beratungsleistungen, die Abnahme lästiger administrativer Pflichten und die Vermittlung von Pflegekräften. Eine besondere Serviceleistung für Eltern bietet die Deutsche Bahn AG an: Sollte einmal die regelmäßige Kinderbetreuung ausfallen, wird dem Mitarbeiter eine Servicenummer zur Verfügung gestellt, unter der er rasch und unkompliziert Ersatz einfordern kann.
Einführung von LEP
Um die künftigen Auswirkungen des demografischen Wandels auf die Personalsituation Ihres Unternehmens zu untersuchen, bietet es sich an, eine Simulation durchzuführen. Mittels eines Abgleichs von Ist- und Sollzustand können Sie spätere Engpässe frühzeitig erkennen und präventiv angehen.
„Die Lebensereignisorientierung führt zu einer deutlichen Individualisierung der Personalarbeit.“
Entscheidend ist dabei, dass Sie die Handlungsfelder erkennen, in denen Sie zukünftig tätig werden müssen. Die Lufthansa AG hat beispielsweise einen Workshop zum Thema eingerichtet und dabei zwölf verschiedene Handlungsfelder definiert. Das daraus entstandene Koordinatensystem aus Handlungsfeldern und Lebensereignissen mündete schließlich in einen Maßnahmenkatalog, der von der Einführung eines Welcome-Package für neue Mitarbeiter über regelmäßige Gesundheitschecks bis hin zur Zusammenarbeit mit NGOs führte. Bei der Continentale hat eine Simulation zur Einrichtung einer Fachinformatikerausbildung im eigenen Haus geführt, wodurch zukünftige Engpässe vermieden werden sollen.
Verändertes Selbstverständnis
Die Orientierung am LEP zieht zwangsläufig eine stärkere Ausdifferenzierung und Individualisierung der Personalarbeit nach sich. Die Folgen können bis zu einer Neuausrichtung der Human Resources eines Unternehmens reichen. Entscheidend ist dabei, dass die Verantwortlichen mit den erforderlichen Kompetenzen zur Umsetzung der Programme ausgerüstet werden und dass, bei allem Innovations- und Veränderungsdrang, der Blick für das Machbare gewahrt bleibt.
Dr. Sascha Armutat, der Herausgeber dieses Buches, ist seit Mai 2000 Leiter des Referats Arbeitskreise der Deutschen Gesellschaft für Personalführung (DGFP). Er promovierte berufsbegleitend und hat seit 2004 einen Lehrauftrag an der Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Fakultät der Universität Potsdam. Er ist auch Autor des Buches Organisation des Personalmanagements und Koautor von Impat-Management.