Der Untergeher

Buch Der Untergeher

Frankfurt am Main, 1983
Diese Ausgabe: Suhrkamp,


Worum es geht

Brillante Etüde über das Los des Virtuosen

Die Existenz des Künstlers ist hochriskant und lebensgefährlich, in der Musik wie in der Literatur. Wenige bringen es zur absoluten Meis­ter­schaft, unter ihnen der kanadische Pianist Glenn Gould. Diese historische Figur spielt, leicht verfremdet, im Untergeher eine fatale Rolle. Denn bei der Begegnung mit Gould merken der anonyme Erzähler und sein Stu­di­en­fre­und Wertheimer, dass sie in der Kunst das Höchste nicht erreichen können. Sie scheitern an Goulds Genialität und geben beide das Klavier­spiel auf. Wertheimer kommt nicht darüber hinweg und bringt sich um. Der Erzähler indes flüchtet sich in die Philosophie und droht auch da zu scheitern. Doch als er nach Wertheimers Beerdigung dessen Nachlass aufspüren will, reflektiert er die Beziehung der drei Künstlertypen und erhält die leben­sret­tende Erkenntnis. Der Untergeher ist ein be­rauschen­der innerer Monolog, atemlos und praktisch ohne Absätze – typisch Thomas Bernhard. Dieser variiert darin kunstvoll Bachs Gold­berg-Vari­a­tio­nen: eine virtuose Fingerübung eines großen Meisters.

Take-aways

  • Irritierend und fesselnd: Der Roman Der Untergeher zählt zu Thomas Bernhards bekan­ntesten Werken.
  • Inhalt: Ein namenloser Erzähler erfährt vom Selbstmord seines ehemaligen Stu­di­en­fre­un­des Wertheimer, eines gescheit­erten Pianisten. Er erinnert sich an die Begegnung mit dem Klavier­ge­nie Glenn Gould bei einem Meisterkurs in Salzburg. Auf dem Weg zu Wertheimers Jagdhaus erkennt er, dass dieser an der Un­err­e­ich­barkeit Goulds zerbrach – er selbst überlebt als „Weltan­schau­ungskünstler“.
  • Im Untergeher dreht sich alles um Kunst, Genie und Scheitern in der Musik.
  • Es ist der Auftakt der Künstler­trilo­gie, zu der auch die Romane Holzfällen und Alte Meister gehören. In diesen the­ma­tisiert Bernhard Literatur und Malerei.
  • Der Untergeher ist typisch für Bernhards reife Prosa der 1980er Jahre: eine ex­is­ten­zphilosophis­che Erzählung, deren Handlung sich nur im Kopf abspielt.
  • Historische Fakten und fiktive Details werden vermischt und kunstvoll auf drei Zeitebenen verwoben.
  • Der Text ist lediglich in vier Absätze unterteilt.
  • Er gleicht formal einem barocken Musikstück, in dem das Leitthema x-fach variiert wird.
  • Der Untergeher bezieht sich ins­beson­dere auf die Gold­berg-Vari­a­tio­nen von Johann Sebastian Bach und deren In­ter­pre­ta­tion durch den kanadischen Meister Glenn Gould.
  • Zitat: „Wenn wir dem Ersten begegnen, müssen wir aufgeben, dachte ich.“
 

Zusammenfassung

Ein fataler Meisterkurs

Der Erzähler betritt ein Gasthaus in Oberösterreich und denkt dabei an seine Ju­gend­fre­und­schaft mit Wertheimer und Glenn Gould, dem berühmtesten Klaviervir­tu­osen des 20. Jahrhun­derts. Die drei haben vor 28 Jahren gemeinsam als junge Klavier­stu­den­ten in Salzburg einen Meisterkurs bei Horowitz besucht.

„Auch Glenn Gould, unser Freund und der wichtigste Klaviervir­tu­ose des Jahrhun­derts, ist nur einundfünfzig geworden, dachte ich beim Eintreten in das Gasthaus.“ (S. 7)

Während eines verregneten Sommers wohnten sie zusammen in einem Haus auf dem Land, weil sie das schädliche Klima der Stadt Salzburg nicht aushielten. Das Studium beim berühmten Meister Horowitz war sehr intensiv. Irgendwann realisierte der Erzähler, dass Glenn Gould am Piano sogar noch besser war als Horowitz selbst. Wertheimer und er waren gleich gut. Die beiden lernten im Umgang mit dem Genie Gould mehr als in den täglichen Kursen bei Horowitz, obwohl der Meister um Welten besser war als ihre Musiklehrer zuvor.

„Wenn wir dem Ersten begegnen, müssen wir aufgeben, dachte ich.“ (S. 12)

Die Klavier­stu­den­ten waren grund­ver­schieden: Wertheimer stand immer ganz früh auf und verriegelte den ganzen Tag die Fenster. Glenn dagegen spielte nachts, bei offenen Fenstern, und schlief dafür morgens lange. Glenn war durchaus sportlich: Einmal fällte er eigenhändig eine Esche, weil sie ihn beim Spielen störte. Er war nicht nur der begabteste Klavier­spieler, sondern auch der Natürlichste und Bodenständigste der drei: In seiner amerikanis­chen Art konnte er unbändig lachen. Gerade deshalb war er für den Erzähler so ernst zu nehmen. Auch in der Kun­stauf­fas­sung waren Wertheimer und Glenn vollkommen gegensätzlich: Wertheimer stellte dauernd Fragen, Gould niemals. Wertheimer war ein ängstlicher Theoretiker, Glenn furchtlos und pragmatisch. Zwei Jahre nach dem Meisterkurs saßen die beiden Freunde im Publikum, als Glenn Gould bei den Salzburger Festspielen die Gold­berg-Vari­a­tio­nen spielte.

Scheitern am Genie

Inzwischen ist der Erzähler der einzige Überlebende der drei: Wertheimer nahm sich 28 Jahre nach dem ersten Zusam­men­tr­e­f­fen das Leben, kurz nachdem er von Glenns Tod erfahren hatte. Dieser starb mit 51 Jahren mitten im Klavier­spiel an einem Schla­gan­fall. Nur der Amerikaner hatte als Klaviervir­tu­ose reüssiert. Angesichts seiner Genialität erkannten seine Kollegen, dass sie niemals das höchste Niveau in der Kunst erreichen würden. Beide zerbrachen an dem Gedanken, dass sie nie so gut sein würden wie Gould, und gaben das Klavier­spie­len auf. Der Erzähler hörte von einem Tag auf den anderen radikal auf. Er verschenkte seinen Steinway noch im gleichen Sommer an eine unbegabte Schülerin, die das kostbare Instrument binnen kürzester Zeit ruinierte. Er wurde Philosoph und versuchte, ein Buch über Glenn Gould zu schreiben. Wertheimer spielte noch etwas länger, wandte sich dann aber auch den Geis­teswis­senschaften zu und ließ seinen Bösendor­fer-Flügel versteigern.

Dreifache Flucht

Weder Wertheimer noch der Erzähler wurden auf ihrer Flucht in die Wis­senschaften glücklich. Für beide war der Besuch des Horowitz-Kurses letztlich fatal: Sie gingen am Genie Gould zugrunde. Dieser aber zog sich nach wenigen Jahren ruhmvoller Existenz als Klaviervir­tu­ose nach Amerika zurück. Er gab keine öffentlichen Konzerte mehr – im Unterschied zu seinen zwei Kameraden aus freien Stücken. Vor zwölf Jahren besuchten ihn Wertheimer und der Erzähler in der selbst gewählten Einsamkeit in den USA. Sie verbrachten mehrere Monate bei ihm. Gould spielte praktisch un­un­ter­brochen Klavier, Tag und Nacht, und immer die Gold­berg-Vari­a­tio­nen von Johann Sebastian Bach. Glenn zeichnete sich auch durch seine Men­schenken­nt­nis aus: Er bezeichnete Wertheimer zuerst treffend als „Untergeher“, während der Erzähler für Gould schlicht der „Philosoph“ war.

„Nicht Glenn war der Schwierig­ste von uns, Wertheimer war es. Glenn war stark, Wertheimer war unser Schwächster.“ (S. 29)

Am Anfang seiner später abge­broch­enen Klavier­lauf­bahn war der Erzähler zu einer kom­pro­miss­losen Künstlerex­is­tenz entschlossen. Trotzdem nahm er sein Scheitern als Klaviervir­tu­ose weniger tragisch als Wertheimer. Er bewunderte Glenns Rück­sicht­slosigkeit und dessen Pub­likumsver­ach­tung.

Der Erzähler kennt das Gasthaus von früher. Hier ist er immer abgestiegen, wenn er Wertheimer besuchte, weil dieser keinen Gast über Nacht ertrug. Wertheimer lebte nach dem Tod seiner Eltern 20 Jahre lang mit seiner Schwester zusammen in Wien. Er tyran­nisierte und quälte sie. Als sie mit 46 Jahren ihren Bruder verließ und in Zizers bei Chur einen sehr vermögenden Schweizer namens Duttweiler heiratete, schwor der Bruder ihr ewigen Hass und Rache und zog sich in das Jagdhaus des Vaters nach Traich zurück.

Verzwei­flung nach 50

Das Gasthaus kommt dem Erzähler jetzt un­ap­peti­tlich und geschmack­los vor. Die Luft ist schmutzig und feucht. Er bereut, dass er nach dem Tod Wertheimers noch einmal in dessen Jagdhaus ging, um dort nach dem Nachlass seines Freundes zu sehen. Im Gegensatz zu Glenn hat Wertheimer sein Leben lang geschrieben, Hunderte von Zetteln und viele Hefte voll. Sowohl Wertheimer als auch Glenn starben kurz nach ihrem 51. Geburtstag. Glenn hatte das Glück, an seinem Flügel zusam­men­zubrechen, mitten in den Gold­berg-Vari­a­tio­nen. Der Erzähler selbst fühlt sich, seit er 50 ist, gemein und charak­ter­los. Er erkennt weitere Gemein­samkeiten der drei Musik­er­fre­unde: Alle haben sich verzweifelt eingeschlossen, Glenn in seinem Musikstudio in der Wildnis, Wertheimer in Österreich und der Erzähler im spanischen Exil. Er schaut sich im Gastzimmer um und erinnert sich daran, wie Glenn auf Anhieb Wertheimer durchschaut hatte, als er ihn den „Untergeher“ nannte.

Selbstmord als Rache

Wertheimer floh sein Leben lang vor seiner Familie, die er hasste. Er hätte Kaufmann werden sollen, strebte aber eine Karriere als Musiker an. Nicht nur seine reichen Eltern hasste Wertheimer, sondern auch seine Schwester, die er als Hilfskraft miss­brauchte. Dass sie ihn vor einigen Wochen im Stich ließ und wegzog, war wohl der Auslöser für seinen Selbstmord. Doch der eigentliche Grund, der Anfang vom Ende, war der bereits zuvor einge­tretene Tod Glenns: In dem Moment, in dem er die Nachricht erhielt, wurde Wertheimer sein Scheitern bewusst. Der Erzähler fragt sich, warum dieser zu Tode verzweifelte, er selbst dagegen nicht. Vielleicht, weil ihm früh die Flucht aus Österreich gelang. Bei seinen Reisen wurde er zum „Weltan­schau­ungskünstler“. In Portugal kam ihm die Idee, über Glenn Gould und dessen Kunst zu schreiben.

„In dieser Stadt haben wir uns den Tod geholt, indem wir bei Horowitz studiert und Glenn Gould ken­nen­gel­ernt haben.“ (S. 31)

Wertheimer erhängte sich in der Nähe von Chur, 100 Schritte vom Haus seiner Schwester entfernt. Das war pure Berechnung, typisch für Wertheimer: die Höchststrafe für seine Schwester, damit sie lebenslang Schuldgefühle habe. Wertheimer hatte ein Buch schreiben wollen, erinnert sich der Erzähler. Aber er strich das dicke Manuskript so oft zusammen, dass am Schluss nur noch der Titel übrig blieb: Der Untergeher. Der Erzähler befürchtet, dass alle Notizen Wertheimers vernichtet sind.

Triste Beerdigung bei Chur

Der Erzähler ist kürzlich zu Wertheimers Begräbnis nach Zizers gereist. Vor der Abreise in Wien hat er sich eine Aufnahme von Glenns Einspielung der Gold­berg-Vari­a­tio­nen angehört: Sie klangen genau gleich wie 28 Jahre zuvor live – genial. Von dem Begräbnis seines Freundes hatte er nur zufällig erfahren. Er weilte gerade in Wien, wo er seine Wohnung verkaufen will. Doch kein Käufer ist ihm gut genug. Dort erreichte ihn ein Telegramm mit der Todesnachricht, von Wertheimers Schwester aus Chur. Zunächst glaubte er noch an ein Unglück, nicht wissend, dass es Selbstmord war. Die Beerdigung dauerte nicht länger als 20 Minuten. Niemand hatte Blumen mitgebracht. Neben der Schwester und ihrem Mann war der schlecht gekleidete Erzähler der einzige Gast. Er schlug die Einladung zum Leichenmahl aus, schlich sich stattdessen davon und nahm den Zug Richtung Wien. Später bereute er es, die Duttweilers so kaltherzig am Grab stehen gelassen zu haben. Obwohl er ganz in der Nähe von Wertheimers Jagdhaus, in Desselbrunn, ein eigenes Haus besitzt, kam es ihm zunächst nicht in den Sinn, dort vor­beizuschauen. Desselbrunn ist für ihn das Symbol seiner Selb­stauf­gabe, weil er dort mit dem Klavier­spie­len aufgehört hat. Mindestens zehn Jahre will er nicht mehr dorthin zurück. Der Gedanke an die Rückkehr macht ihn krank.

Strategien von Gescheit­erten

Große Kunst kann man nach Meinung des Erzählers nicht nur mit Fleiß und Ehrgeiz erreichen, so wie Wertheimer es wollte. Man kann sich nicht vornehmen, berühmt zu werden. Seine Schrift über Glenn Gould ist bisher nie gelungen. Immer wieder hat auch der Erzähler seine Skizzen vernichtet. Insgesamt achtmal hat er neu angesetzt. Er nimmt sich vor, nach seiner Rückkehr nach Madrid das fertige Buch erneut zu zerstören. Und er will nach den Ereignissen der letzten Wochen noch einmal neu anfangen, diesmal noch konzen­tri­erter. Plötzlich wird er zornig: Er fühlt eine Solidarität mit Wertheimer, weil sie beide von Glenn missbraucht worden sind. Wenn sie Gould nicht getroffen hätten, wären sie wohl beide er­fol­gre­iche Klaviervir­tu­osen geworden. Doch das Genie Glenn war sogar dem Meister Horowitz überlegen. Glenn hat Wertheimer auf dem Gewissen. Mit ein paar Takten hat er jegliche Illusion und Ambition seiner Mit­stu­den­ten zerstört. Im Gegensatz zu Wertheimer hat der Erzähler diese Demütigung besser verkraftet. Er wurde nicht tödlich getroffen. Er konnte sich einfacher vom Traum des Erfolgs als Künstler ve­r­ab­schieden, als er erkannte, dass er nicht der Beste sein konnte. Er wollte lieber gar niemand sein und verschenkte seinen Steinway-Flügel vom Fleck weg. Für den Erzähler war der Meisterkurs mit Glenn nicht so katas­trophal wie für Wertheimer, weil er stärker ist. Der ehrgeizige Wertheimer aber tappte damit in seine Lebensfalle. Er eiferte Gould nach und beneidete ihn, während der Erzähler einen Ausweg fand und sich trotz seines Scheiterns als einmalig erkannte.

Unglückliches Schicksal

Seit der Rückfahrt vom Begräbnis geht dem Erzähler sein ver­stor­bener Freund Wertheimer nicht mehr aus dem Kopf: als unglücklicher Mensch geboren, mit einer de­prim­ieren­den Kindheit, mutlos und ängstlich im Klavier­spiel. Er macht sich selbst Vorwürfe, dass er Wertheimer geschadet hat, dass er ihm nicht hat helfen können. Innerhalb kurzer Zeit verlor Wertheimer seine ganze Kun­st­fer­tigkeit. Sein Klavier­spiel verkam zur Klimperei, sodass es peinlich war, ihm zuzuhören. Wertheimer litt darunter, der Erzähler rettete sich, indem er sich abgrenzte. Er erkannte selber, dass eine Konzerttätigkeit nicht mehr sinnvoll war; Wertheimer wurde zu dieser Einsicht gezwungen.

„Wir fliehen aus dem einen in das andere und zerstören uns, so er.“ (über Wertheimer, S. 42)

Die Wirtin des Gasthauses betritt den Raum. Die Begegnung mit ihr ekelt den Erzähler. Die zwei unterhalten sich darüber, wer jetzt das leere Haus in Traich erbt. Sie erzählt ihm, wie verwahrlost Wertheimer in den letzten Wochen gewesen sei. Er habe das Haus komplett auf den Kopf gestellt und plötzlich ganz viele Gäste aus der Stadt eingeladen, alles Künstler. Sie will alles über die Beerdigung wissen.

Wahnsinn im Jagdhaus

Die Wirtin ist seit einigen Jahren Witwe. Wertheimer hat einige Male mit ihr geschlafen, erinnert sich der Erzähler, während sie von dem Toten spricht. Der Erzähler bleibt noch einen Moment sitzen und macht sich dann auf nach Traich. Auf dem Fußweg zum Anwesen fällt ihm die scheußliche Landschaft auf. Hier muss man ja verrückt werden, denkt er. An­der­er­seits waren es letztlich die Gold­berg-Vari­a­tio­nen, die Wertheimer umgebracht haben. Plötzlich kommt dem Erzähler die zündende Idee: Wenn er noch einmal mit seinem Buch über Glenn beginnt, will er Wertheimer als Gegenstück mitein­beziehen. Das Genie Glenn scheint ihm durch die gegensätzliche Existenz Wertheimers fassbarer zu werden. Plötzlich findet er, dass der traurige Gang nach Traich vielleicht doch nicht so zwecklos ist, ob jetzt ein Nachlass da ist oder nicht.

„Wir begegnen einem Menschen wie Glenn und sind vernichtet, denke ich, oder gerettet, in unserem Fall hat uns Glenn vernichtet, dachte ich.“ (S. 69 f.)

Das Tor zum verlassenen Jagdhaus steht offen. Der Holzknecht Franz begrüßt ihn. Dieser erzählt, wie Wertheimer ein verstimmtes, wertloses Klavier her­beis­chaffte und darauf der Künst­lerge­sellschaft Bach und Händel vorgespielt habe, dauernd, bis zur Be­wusst­losigkeit, wohl um sie wahnsinnig zu machen. Wertheimers Zettel sind tatsächlich ausnahmslos vernichtet: Er warf sie in den Ofen, bevor die Gäste kamen. Der Erzähler will allein sein und sieht sich Wertheimers Zimmer an. Er spielt Glenns Gold­berg-Vari­a­tio­nen ab, die noch auf dem Plat­ten­teller liegen.

Zum Text

Aufbau und Stil

Der Untergeher ist typische Thomas-Bern­hard-Prosa, einzigartig in Form und Stil. Der Text weist keine Gliederung in Kapitel auf und ist lediglich in vier Absätze unterteilt, wobei die drei ersten aus nur einem Satz bestehen und insgesamt weniger als eine halbe Seite beanspruchen. Diese drei Sätze setzen inhaltlich die wichtigsten Pfähle; ihre Aussagen werden immer weiter aus­ge­spon­nen. Dies erinnert an ein musikalis­ches Motiv, das in der Folge in Variationen aufge­grif­fen wird. Die eigentliche Handlung ist eher unbedeutend: Der namenlose Ich-Erzähler betritt ein Gasthaus, sieht sich dort um und geht dann zum verlassenen Jagdhaus eines ver­stor­be­nen Freundes. Der ganze Rest ist innerer Monolog. In Gedanken und Erin­nerun­gen des Erzählers werden die letzten Tage sowie die Begegnungen aus der Jugendzeit vor 28 Jahren aufgerollt. Diese drei Zeitebenen sind fein verstrickt, die Erzählstränge komplex verwoben. Die Technik kann mit einer kunstvollen Klavieretüde verglichen werden. Der Autor formuliert gern bewusst sperrig und setzt im Monolog des Erzählers gezielt monotone Formen ein. So folgt ähnlich einer Kadenz in einem Musikstück immer wieder die For­mulierung „sagte er, dachte ich“.

In­ter­pre­ta­tion­sansätze

  • In Der Untergeher variiert Thomas Bernhard virtuos charak­ter­is­tis­che Stilmittel seiner un­ver­wech­sel­baren Prosa: indirekte Selb­st­darstel­lung, egozen­trische Schreib­weise, Mischung von Dichtung und Fakten, Monologe am Abgrund des Irrsinns.
  • Der kanadische Pianist Glenn Gould ist eine historische Person. Thomas Bernhard verwendet ihn als lit­er­arische Figur und vermischt Tatsachen und Fiktion. Einige Details werden gezielt verfremdet und für die Dramaturgie der Erzählung in­stru­men­tal­isiert, so etwa die Lebensdaten des Pianisten oder dessen Todesart. Auch die Figur Horowitz spielt auf einen Pianisten des 20. Jahrhun­derts an.
  • Der Untergeher ist der erste Teil der Künstler­trilo­gie Bernhards. Während er sich hier der Kun­st­gat­tung Musik widmet, setzt er sich in Holzfällen (1984) mit der Literatur und in Alte Meister (1985) mit der bildenden Kunst auseinander.
  • Johann Sebastian Bachs Komposition Gold­berg-Vari­a­tio­nen diente Bernhard als Vorlage für die Textstruk­tur. Wie in dem Musikstück wird das Hauptmotiv in den ersten drei Sätzen eingeführt und danach immer wieder anders aufgenommen. Der Untergeher nimmt vielfach auf die barocke musikalis­che Ikone Bezug: Sie wird im Text 32 Mal erwähnt. Und die Neben­fig­uren der Wirtin und des Holzfällers können als lit­er­arische Entsprechun­gen der zwei Volkslieder, die im Quodlibet des Klavier­w­erks vorkommen, gesehen werden.
  • Der Untergeher ist ein Essay über das Künstler­schick­sal: Die Künstler wollen und wagen das Außeror­dentliche, aber nur das wirklich Beste zählt und wird belohnt. Das Genie Glenn Gould und der gescheit­erte Ehrgeizling Wertheimer sind die Extreme, der nur halb gescheit­erte und letztlich gerettete Erzähler steht vielleicht für den goldenen Mittelweg. In den drei Typen werden drei Formen der Lebensbewältigung reflektiert.
  • So kommt im Text auch die Leben­sphiloso­phie des Autors zum Ausdruck: Der Erzähler legt sich denkend eine Überlebensstrate­gie zurecht und söhnt sich mit der eigenen Existenz aus.

His­torischer Hintergrund

Bachs Gold­berg-Vari­a­tio­nen und Glenn Gould Die Gold­berg-Vari­a­tio­nen gelten als das schwierig­ste Klavierstück des barocken Leipziger Starkom­pon­is­ten Johann Sebastian Bach (1685–1750). 1741 wurde das Werk in Nürnberg erstmals gedruckt. Auf dem Titelblatt widmet der Komponist die um­fan­gre­iche „Clavier-Übung“ den „Liebhabern zur Gemützs-Er­get­zung“.

Die Gold­berg-Vari­a­tio­nen (diesen Titel erhielt das Werk erst im 19. Jahrhundert) sind ein Höhepunkt der rigiden und durch­dachten Kom­po­si­tion­skunst des Barocks, die sich durch einen klar struk­turi­erten Aufbau und sys­tem­a­tis­che Zusammenhänge der einzelnen Sätze auszeichnet. So können die meisten Variationen auf eine fun­da­men­tale Basslinie aus 32 Noten in 32 Takten zurückgeführt werden.

Da das Stück für die damals üblichen Cembalos mit zwei Manualen komponiert wurde, ist es auf einem modernen Konzertflügel besonders schwierig zu spielen. Entsprechend beliebt ist es als Meis­ter­probe im Repertoire von Starvir­tu­osen. Bis heute gelten die Aufnahmen des Pianisten Glenn Gould (1932–1982) als Benchmark. Der kanadische Musiker wurde mit seinen Bach-Auf­nah­men berühmt und spielte die Gold­berg-Vari­a­tio­nen zweimal in einem Studio ein, 1955 und 1982, nur wenige Monate vor seinem Tod. Auf den Schallplat­ten ist ein Kuriosum zu hören, das als Marken­ze­ichen der In­ter­pre­ta­tio­nen Goulds gilt: Er summt zwis­chen­durch vernehmbar mit. Gould spielte übrigens, wie im Roman, einmal live in Salzburg (1959), bevor er sich in die Einöde zurückzog.

Entstehung

Eine Aufnahme von Glenn Goulds Gold­berg-Vari­a­tio­nen befand sich auch in Thomas Bernhards Schallplat­ten­samm­lung. Im Oktober 1982 schnappte der exzessive Zeitungsleser die Nachricht vom Tod des Aus­nah­mepi­anis­ten auf. Sie inspirierte ihn zu dem Roman. Bernhard sah im exzen­trischen Gould das musikalis­che Pendant zum Philosophen Ludwig Wittgen­stein, mit dem er sich im Zuge der soeben pub­lizierten Erzählung Wittgen­steins Neffe beschäftigt hatte.

Bernhard war mit­tler­weile einer der bekan­ntesten und er­fol­gre­ich­sten Literaten Europas und wie der plötzlich verstorbene Pianist Gould um die 50. Er hatte einige durch gesund­heitliche Probleme geprägte Jahre überstanden und wieder zu lit­er­arischer Produktivität zurückgefunden. 1982 hatte Bernhard sogar mehr geschrieben als nötig: Er konnte es sich leisten, den fertigen Roman Auslöschung quasi als Al­tersvor­sorge zurückzuhalten, indem er ihn erst 1986 erscheinen ließ.

Der Untergeher wurde der Auftakt zum Spätwerk des Autors. Bernhard beendete das Manuskript im April 1983. Zuerst trug es den Titel Chur, dann Der As­phalt­ge­her, schließlich Der Untergeher. Das Buch erschien im Herbst des gleichen Jahres in einer ersten Auflage von 10 000 Exemplaren. Sie war nach wenigen Wochen ausverkauft.

Wirkungs­geschichte

Angesichts der enormen Strahlkraft von Thomas Bernhards Gesamtwerk ging Der Untergeher vorerst fast ein bisschen unter. Der Auftakt der Künstler­trilo­gie wurde von der Presse ver­gle­ich­sweise verhalten rezensiert. Der folgende, skan­dalumwit­terte Roman Holzfällen (1984) wurde im Vergleich dazu viel schneller als Meisterwerk gefeiert. Der Rezensent der Stuttgarter Nachrichten las beim Untergeher wenig Neues, wähnte sich einmal mehr „in einem lin­guis­tis­chen Tollhaus“ und fühlte sich „von Wortwellen erschlagen“. Der Untergeher sei „ein faszinierend schlechtes Buch“, hieß es gar. Die Kritik schließt mit den Sätzen: „243 Seiten Leere. Bernhard hat es geschafft.“

Auch die Süddeutsche Zeitung nahm den Vorwurf auf, Bernhard spinne seine Geschichten stets nach dem gleichen Muster. Aber scheinbar aus­tauschbaren Kon­stel­la­tio­nen zum Trotz bringe eben doch jeder Text etwas prinzipiell Neues. Die Welt zog schwärmerisch den Vergleich mit dem Rei­fung­sprozess zwischen Goulds erster und der zweiten Aufnahme der Gold­berg-Vari­a­tio­nen. Die FAZ schließlich meinte im Untergeher einen neuen Bernhard zu erkennen, der sich von komödiantischen Clownereien ve­r­ab­schiedet habe und sich „energisch und unbeirrt in die Weltlit­er­atur einschreibe“.

Wegen seines eher leicht ver­daulichen Stoffs und seiner Zugänglichkeit hat sich Der Untergeher mit­tler­weile als eines der bekan­ntesten Werke Thomas Bernhards etabliert. So steht es etwa in der Reihe der „50 großen Romane des 20. Jahrhun­derts“ der Süddeutschen Zeitung.

Über den Autor

Thomas Bernhard wird am 9. Februar 1931 in den Nieder­lan­den als unehelicher Sohn öster­re­ichis­cher Eltern geboren. Den Vater lernt er nie kennen. Die Mutter, eine mittellose Haushalt­shilfe, gibt den Sohn zunächst in Pflege. Das Ver­lassen­sein prägt Bernhard und sein späteres Werk tief. 1932 kehrt die Mutter nach Österreich zurück, sie lebt mit dem Kind bei ihren Eltern. Bernhards Großvater Johannes Freumbich­ler ist ein verarmter Heimatschrift­steller, der dem Enkel bald als Vaterersatz gilt. Die Schulzeit empfindet Bernhard als Qual. 1945 misslingt ein Selb­st­mord­ver­such. Armut und schlechte Noten veranlassen ihn 1947 zur Aufgabe der Schule und zum Beginn einer Lehre. 1949 kommt er aufgrund einer Rip­pen­fel­lentzündung ins Krankenhaus und entgeht nur knapp dem Tod. Dann wird Tuberkulose di­ag­nos­tiziert. Bernhard verbringt knapp zwei Jahre in Krankenhäusern und Sanatorien; dort beginnt er zu schreiben und lernt auch seinen „Lebens­men­schen“, die 35 Jahre ältere Hedwig Stavianicek kennen. Im Anschluss arbeitet er als Journalist, später studiert er Schauspiel. 1957 veröffentlicht er seinen ersten Gedichtband Auf der Erde und in der Hölle. Doch erst der Roman Frost (1963) bringt den Durchbruch. Bernhard gilt bald als einer der wichtigsten Autoren deutscher Sprache. Auch sein zweiter Roman Verstörung (1967) wird gefeiert. 1970 inszeniert Claus Peymann Bernhards erstes langes Theaterstück Ein Fest für Boris. Damit beginnt eine fruchtbare Zusam­me­nar­beit, denn Peymann wird etliche von Bernhards abendfüllenden Stücken auf die Bühne bringen. Bernhard setzt sich unter Schreib­druck, sei es wegen seiner Immobilienkäufe oder seiner sich ver­schlechtern­den Gesundheit. Er veröffentlicht oft mehrere Werke pro Jahr, bis ihn Mitte der 80er Jahre Atemnot und Herzschwäche langsam in die Knie zwingen. 1984 rüttelt der Roman Holzfällen die Wiener Künstlerszene auf, 1986 erscheint sein Prosa-Meis­ter­w­erk Auslöschung, und Ende 1988 erlebt Bernhard mit Heldenplatz eine letzte Skan­dal­premiere. Am 12. Februar 1989 stirbt Thomas Bernhard in Gmunden an Herzver­sagen.