Ein fataler Meisterkurs
Der Erzähler betritt ein Gasthaus in Oberösterreich und denkt dabei an seine Jugendfreundschaft mit Wertheimer und Glenn Gould, dem berühmtesten Klaviervirtuosen des 20. Jahrhunderts. Die drei haben vor 28 Jahren gemeinsam als junge Klavierstudenten in Salzburg einen Meisterkurs bei Horowitz besucht.
„Auch Glenn Gould, unser Freund und der wichtigste Klaviervirtuose des Jahrhunderts, ist nur einundfünfzig geworden, dachte ich beim Eintreten in das Gasthaus.“ (S. 7)
Während eines verregneten Sommers wohnten sie zusammen in einem Haus auf dem Land, weil sie das schädliche Klima der Stadt Salzburg nicht aushielten. Das Studium beim berühmten Meister Horowitz war sehr intensiv. Irgendwann realisierte der Erzähler, dass Glenn Gould am Piano sogar noch besser war als Horowitz selbst. Wertheimer und er waren gleich gut. Die beiden lernten im Umgang mit dem Genie Gould mehr als in den täglichen Kursen bei Horowitz, obwohl der Meister um Welten besser war als ihre Musiklehrer zuvor.
„Wenn wir dem Ersten begegnen, müssen wir aufgeben, dachte ich.“ (S. 12)
Die Klavierstudenten waren grundverschieden: Wertheimer stand immer ganz früh auf und verriegelte den ganzen Tag die Fenster. Glenn dagegen spielte nachts, bei offenen Fenstern, und schlief dafür morgens lange. Glenn war durchaus sportlich: Einmal fällte er eigenhändig eine Esche, weil sie ihn beim Spielen störte. Er war nicht nur der begabteste Klavierspieler, sondern auch der Natürlichste und Bodenständigste der drei: In seiner amerikanischen Art konnte er unbändig lachen. Gerade deshalb war er für den Erzähler so ernst zu nehmen. Auch in der Kunstauffassung waren Wertheimer und Glenn vollkommen gegensätzlich: Wertheimer stellte dauernd Fragen, Gould niemals. Wertheimer war ein ängstlicher Theoretiker, Glenn furchtlos und pragmatisch. Zwei Jahre nach dem Meisterkurs saßen die beiden Freunde im Publikum, als Glenn Gould bei den Salzburger Festspielen die Goldberg-Variationen spielte.
Scheitern am Genie
Inzwischen ist der Erzähler der einzige Überlebende der drei: Wertheimer nahm sich 28 Jahre nach dem ersten Zusammentreffen das Leben, kurz nachdem er von Glenns Tod erfahren hatte. Dieser starb mit 51 Jahren mitten im Klavierspiel an einem Schlaganfall. Nur der Amerikaner hatte als Klaviervirtuose reüssiert. Angesichts seiner Genialität erkannten seine Kollegen, dass sie niemals das höchste Niveau in der Kunst erreichen würden. Beide zerbrachen an dem Gedanken, dass sie nie so gut sein würden wie Gould, und gaben das Klavierspielen auf. Der Erzähler hörte von einem Tag auf den anderen radikal auf. Er verschenkte seinen Steinway noch im gleichen Sommer an eine unbegabte Schülerin, die das kostbare Instrument binnen kürzester Zeit ruinierte. Er wurde Philosoph und versuchte, ein Buch über Glenn Gould zu schreiben. Wertheimer spielte noch etwas länger, wandte sich dann aber auch den Geisteswissenschaften zu und ließ seinen Bösendorfer-Flügel versteigern.
Dreifache Flucht
Weder Wertheimer noch der Erzähler wurden auf ihrer Flucht in die Wissenschaften glücklich. Für beide war der Besuch des Horowitz-Kurses letztlich fatal: Sie gingen am Genie Gould zugrunde. Dieser aber zog sich nach wenigen Jahren ruhmvoller Existenz als Klaviervirtuose nach Amerika zurück. Er gab keine öffentlichen Konzerte mehr – im Unterschied zu seinen zwei Kameraden aus freien Stücken. Vor zwölf Jahren besuchten ihn Wertheimer und der Erzähler in der selbst gewählten Einsamkeit in den USA. Sie verbrachten mehrere Monate bei ihm. Gould spielte praktisch ununterbrochen Klavier, Tag und Nacht, und immer die Goldberg-Variationen von Johann Sebastian Bach. Glenn zeichnete sich auch durch seine Menschenkenntnis aus: Er bezeichnete Wertheimer zuerst treffend als „Untergeher“, während der Erzähler für Gould schlicht der „Philosoph“ war.
„Nicht Glenn war der Schwierigste von uns, Wertheimer war es. Glenn war stark, Wertheimer war unser Schwächster.“ (S. 29)
Am Anfang seiner später abgebrochenen Klavierlaufbahn war der Erzähler zu einer kompromisslosen Künstlerexistenz entschlossen. Trotzdem nahm er sein Scheitern als Klaviervirtuose weniger tragisch als Wertheimer. Er bewunderte Glenns Rücksichtslosigkeit und dessen Publikumsverachtung.
Der Erzähler kennt das Gasthaus von früher. Hier ist er immer abgestiegen, wenn er Wertheimer besuchte, weil dieser keinen Gast über Nacht ertrug. Wertheimer lebte nach dem Tod seiner Eltern 20 Jahre lang mit seiner Schwester zusammen in Wien. Er tyrannisierte und quälte sie. Als sie mit 46 Jahren ihren Bruder verließ und in Zizers bei Chur einen sehr vermögenden Schweizer namens Duttweiler heiratete, schwor der Bruder ihr ewigen Hass und Rache und zog sich in das Jagdhaus des Vaters nach Traich zurück.
Verzweiflung nach 50
Das Gasthaus kommt dem Erzähler jetzt unappetitlich und geschmacklos vor. Die Luft ist schmutzig und feucht. Er bereut, dass er nach dem Tod Wertheimers noch einmal in dessen Jagdhaus ging, um dort nach dem Nachlass seines Freundes zu sehen. Im Gegensatz zu Glenn hat Wertheimer sein Leben lang geschrieben, Hunderte von Zetteln und viele Hefte voll. Sowohl Wertheimer als auch Glenn starben kurz nach ihrem 51. Geburtstag. Glenn hatte das Glück, an seinem Flügel zusammenzubrechen, mitten in den Goldberg-Variationen. Der Erzähler selbst fühlt sich, seit er 50 ist, gemein und charakterlos. Er erkennt weitere Gemeinsamkeiten der drei Musikerfreunde: Alle haben sich verzweifelt eingeschlossen, Glenn in seinem Musikstudio in der Wildnis, Wertheimer in Österreich und der Erzähler im spanischen Exil. Er schaut sich im Gastzimmer um und erinnert sich daran, wie Glenn auf Anhieb Wertheimer durchschaut hatte, als er ihn den „Untergeher“ nannte.
Selbstmord als Rache
Wertheimer floh sein Leben lang vor seiner Familie, die er hasste. Er hätte Kaufmann werden sollen, strebte aber eine Karriere als Musiker an. Nicht nur seine reichen Eltern hasste Wertheimer, sondern auch seine Schwester, die er als Hilfskraft missbrauchte. Dass sie ihn vor einigen Wochen im Stich ließ und wegzog, war wohl der Auslöser für seinen Selbstmord. Doch der eigentliche Grund, der Anfang vom Ende, war der bereits zuvor eingetretene Tod Glenns: In dem Moment, in dem er die Nachricht erhielt, wurde Wertheimer sein Scheitern bewusst. Der Erzähler fragt sich, warum dieser zu Tode verzweifelte, er selbst dagegen nicht. Vielleicht, weil ihm früh die Flucht aus Österreich gelang. Bei seinen Reisen wurde er zum „Weltanschauungskünstler“. In Portugal kam ihm die Idee, über Glenn Gould und dessen Kunst zu schreiben.
„In dieser Stadt haben wir uns den Tod geholt, indem wir bei Horowitz studiert und Glenn Gould kennengelernt haben.“ (S. 31)
Wertheimer erhängte sich in der Nähe von Chur, 100 Schritte vom Haus seiner Schwester entfernt. Das war pure Berechnung, typisch für Wertheimer: die Höchststrafe für seine Schwester, damit sie lebenslang Schuldgefühle habe. Wertheimer hatte ein Buch schreiben wollen, erinnert sich der Erzähler. Aber er strich das dicke Manuskript so oft zusammen, dass am Schluss nur noch der Titel übrig blieb: Der Untergeher. Der Erzähler befürchtet, dass alle Notizen Wertheimers vernichtet sind.
Triste Beerdigung bei Chur
Der Erzähler ist kürzlich zu Wertheimers Begräbnis nach Zizers gereist. Vor der Abreise in Wien hat er sich eine Aufnahme von Glenns Einspielung der Goldberg-Variationen angehört: Sie klangen genau gleich wie 28 Jahre zuvor live – genial. Von dem Begräbnis seines Freundes hatte er nur zufällig erfahren. Er weilte gerade in Wien, wo er seine Wohnung verkaufen will. Doch kein Käufer ist ihm gut genug. Dort erreichte ihn ein Telegramm mit der Todesnachricht, von Wertheimers Schwester aus Chur. Zunächst glaubte er noch an ein Unglück, nicht wissend, dass es Selbstmord war. Die Beerdigung dauerte nicht länger als 20 Minuten. Niemand hatte Blumen mitgebracht. Neben der Schwester und ihrem Mann war der schlecht gekleidete Erzähler der einzige Gast. Er schlug die Einladung zum Leichenmahl aus, schlich sich stattdessen davon und nahm den Zug Richtung Wien. Später bereute er es, die Duttweilers so kaltherzig am Grab stehen gelassen zu haben. Obwohl er ganz in der Nähe von Wertheimers Jagdhaus, in Desselbrunn, ein eigenes Haus besitzt, kam es ihm zunächst nicht in den Sinn, dort vorbeizuschauen. Desselbrunn ist für ihn das Symbol seiner Selbstaufgabe, weil er dort mit dem Klavierspielen aufgehört hat. Mindestens zehn Jahre will er nicht mehr dorthin zurück. Der Gedanke an die Rückkehr macht ihn krank.
Strategien von Gescheiterten
Große Kunst kann man nach Meinung des Erzählers nicht nur mit Fleiß und Ehrgeiz erreichen, so wie Wertheimer es wollte. Man kann sich nicht vornehmen, berühmt zu werden. Seine Schrift über Glenn Gould ist bisher nie gelungen. Immer wieder hat auch der Erzähler seine Skizzen vernichtet. Insgesamt achtmal hat er neu angesetzt. Er nimmt sich vor, nach seiner Rückkehr nach Madrid das fertige Buch erneut zu zerstören. Und er will nach den Ereignissen der letzten Wochen noch einmal neu anfangen, diesmal noch konzentrierter. Plötzlich wird er zornig: Er fühlt eine Solidarität mit Wertheimer, weil sie beide von Glenn missbraucht worden sind. Wenn sie Gould nicht getroffen hätten, wären sie wohl beide erfolgreiche Klaviervirtuosen geworden. Doch das Genie Glenn war sogar dem Meister Horowitz überlegen. Glenn hat Wertheimer auf dem Gewissen. Mit ein paar Takten hat er jegliche Illusion und Ambition seiner Mitstudenten zerstört. Im Gegensatz zu Wertheimer hat der Erzähler diese Demütigung besser verkraftet. Er wurde nicht tödlich getroffen. Er konnte sich einfacher vom Traum des Erfolgs als Künstler verabschieden, als er erkannte, dass er nicht der Beste sein konnte. Er wollte lieber gar niemand sein und verschenkte seinen Steinway-Flügel vom Fleck weg. Für den Erzähler war der Meisterkurs mit Glenn nicht so katastrophal wie für Wertheimer, weil er stärker ist. Der ehrgeizige Wertheimer aber tappte damit in seine Lebensfalle. Er eiferte Gould nach und beneidete ihn, während der Erzähler einen Ausweg fand und sich trotz seines Scheiterns als einmalig erkannte.
Unglückliches Schicksal
Seit der Rückfahrt vom Begräbnis geht dem Erzähler sein verstorbener Freund Wertheimer nicht mehr aus dem Kopf: als unglücklicher Mensch geboren, mit einer deprimierenden Kindheit, mutlos und ängstlich im Klavierspiel. Er macht sich selbst Vorwürfe, dass er Wertheimer geschadet hat, dass er ihm nicht hat helfen können. Innerhalb kurzer Zeit verlor Wertheimer seine ganze Kunstfertigkeit. Sein Klavierspiel verkam zur Klimperei, sodass es peinlich war, ihm zuzuhören. Wertheimer litt darunter, der Erzähler rettete sich, indem er sich abgrenzte. Er erkannte selber, dass eine Konzerttätigkeit nicht mehr sinnvoll war; Wertheimer wurde zu dieser Einsicht gezwungen.
„Wir fliehen aus dem einen in das andere und zerstören uns, so er.“ (über Wertheimer, S. 42)
Die Wirtin des Gasthauses betritt den Raum. Die Begegnung mit ihr ekelt den Erzähler. Die zwei unterhalten sich darüber, wer jetzt das leere Haus in Traich erbt. Sie erzählt ihm, wie verwahrlost Wertheimer in den letzten Wochen gewesen sei. Er habe das Haus komplett auf den Kopf gestellt und plötzlich ganz viele Gäste aus der Stadt eingeladen, alles Künstler. Sie will alles über die Beerdigung wissen.
Wahnsinn im Jagdhaus
Die Wirtin ist seit einigen Jahren Witwe. Wertheimer hat einige Male mit ihr geschlafen, erinnert sich der Erzähler, während sie von dem Toten spricht. Der Erzähler bleibt noch einen Moment sitzen und macht sich dann auf nach Traich. Auf dem Fußweg zum Anwesen fällt ihm die scheußliche Landschaft auf. Hier muss man ja verrückt werden, denkt er. Andererseits waren es letztlich die Goldberg-Variationen, die Wertheimer umgebracht haben. Plötzlich kommt dem Erzähler die zündende Idee: Wenn er noch einmal mit seinem Buch über Glenn beginnt, will er Wertheimer als Gegenstück miteinbeziehen. Das Genie Glenn scheint ihm durch die gegensätzliche Existenz Wertheimers fassbarer zu werden. Plötzlich findet er, dass der traurige Gang nach Traich vielleicht doch nicht so zwecklos ist, ob jetzt ein Nachlass da ist oder nicht.
„Wir begegnen einem Menschen wie Glenn und sind vernichtet, denke ich, oder gerettet, in unserem Fall hat uns Glenn vernichtet, dachte ich.“ (S. 69 f.)
Das Tor zum verlassenen Jagdhaus steht offen. Der Holzknecht Franz begrüßt ihn. Dieser erzählt, wie Wertheimer ein verstimmtes, wertloses Klavier herbeischaffte und darauf der Künstlergesellschaft Bach und Händel vorgespielt habe, dauernd, bis zur Bewusstlosigkeit, wohl um sie wahnsinnig zu machen. Wertheimers Zettel sind tatsächlich ausnahmslos vernichtet: Er warf sie in den Ofen, bevor die Gäste kamen. Der Erzähler will allein sein und sieht sich Wertheimers Zimmer an. Er spielt Glenns Goldberg-Variationen ab, die noch auf dem Plattenteller liegen.
Zum Text
Aufbau und Stil
Der Untergeher ist typische Thomas-Bernhard-Prosa, einzigartig in Form und Stil. Der Text weist keine Gliederung in Kapitel auf und ist lediglich in vier Absätze unterteilt, wobei die drei ersten aus nur einem Satz bestehen und insgesamt weniger als eine halbe Seite beanspruchen. Diese drei Sätze setzen inhaltlich die wichtigsten Pfähle; ihre Aussagen werden immer weiter ausgesponnen. Dies erinnert an ein musikalisches Motiv, das in der Folge in Variationen aufgegriffen wird. Die eigentliche Handlung ist eher unbedeutend: Der namenlose Ich-Erzähler betritt ein Gasthaus, sieht sich dort um und geht dann zum verlassenen Jagdhaus eines verstorbenen Freundes. Der ganze Rest ist innerer Monolog. In Gedanken und Erinnerungen des Erzählers werden die letzten Tage sowie die Begegnungen aus der Jugendzeit vor 28 Jahren aufgerollt. Diese drei Zeitebenen sind fein verstrickt, die Erzählstränge komplex verwoben. Die Technik kann mit einer kunstvollen Klavieretüde verglichen werden. Der Autor formuliert gern bewusst sperrig und setzt im Monolog des Erzählers gezielt monotone Formen ein. So folgt ähnlich einer Kadenz in einem Musikstück immer wieder die Formulierung „sagte er, dachte ich“.
Interpretationsansätze
- In Der Untergeher variiert Thomas Bernhard virtuos charakteristische Stilmittel seiner unverwechselbaren Prosa: indirekte Selbstdarstellung, egozentrische Schreibweise, Mischung von Dichtung und Fakten, Monologe am Abgrund des Irrsinns.
- Der kanadische Pianist Glenn Gould ist eine historische Person. Thomas Bernhard verwendet ihn als literarische Figur und vermischt Tatsachen und Fiktion. Einige Details werden gezielt verfremdet und für die Dramaturgie der Erzählung instrumentalisiert, so etwa die Lebensdaten des Pianisten oder dessen Todesart. Auch die Figur Horowitz spielt auf einen Pianisten des 20. Jahrhunderts an.
- Der Untergeher ist der erste Teil der Künstlertrilogie Bernhards. Während er sich hier der Kunstgattung Musik widmet, setzt er sich in Holzfällen (1984) mit der Literatur und in Alte Meister (1985) mit der bildenden Kunst auseinander.
- Johann Sebastian Bachs Komposition Goldberg-Variationen diente Bernhard als Vorlage für die Textstruktur. Wie in dem Musikstück wird das Hauptmotiv in den ersten drei Sätzen eingeführt und danach immer wieder anders aufgenommen. Der Untergeher nimmt vielfach auf die barocke musikalische Ikone Bezug: Sie wird im Text 32 Mal erwähnt. Und die Nebenfiguren der Wirtin und des Holzfällers können als literarische Entsprechungen der zwei Volkslieder, die im Quodlibet des Klavierwerks vorkommen, gesehen werden.
- Der Untergeher ist ein Essay über das Künstlerschicksal: Die Künstler wollen und wagen das Außerordentliche, aber nur das wirklich Beste zählt und wird belohnt. Das Genie Glenn Gould und der gescheiterte Ehrgeizling Wertheimer sind die Extreme, der nur halb gescheiterte und letztlich gerettete Erzähler steht vielleicht für den goldenen Mittelweg. In den drei Typen werden drei Formen der Lebensbewältigung reflektiert.
- So kommt im Text auch die Lebensphilosophie des Autors zum Ausdruck: Der Erzähler legt sich denkend eine Überlebensstrategie zurecht und söhnt sich mit der eigenen Existenz aus.
Historischer Hintergrund
Bachs Goldberg-Variationen und Glenn Gould Die Goldberg-Variationen gelten als das schwierigste Klavierstück des barocken Leipziger Starkomponisten Johann Sebastian Bach (1685–1750). 1741 wurde das Werk in Nürnberg erstmals gedruckt. Auf dem Titelblatt widmet der Komponist die umfangreiche „Clavier-Übung“ den „Liebhabern zur Gemützs-Ergetzung“.
Die Goldberg-Variationen (diesen Titel erhielt das Werk erst im 19. Jahrhundert) sind ein Höhepunkt der rigiden und durchdachten Kompositionskunst des Barocks, die sich durch einen klar strukturierten Aufbau und systematische Zusammenhänge der einzelnen Sätze auszeichnet. So können die meisten Variationen auf eine fundamentale Basslinie aus 32 Noten in 32 Takten zurückgeführt werden.
Da das Stück für die damals üblichen Cembalos mit zwei Manualen komponiert wurde, ist es auf einem modernen Konzertflügel besonders schwierig zu spielen. Entsprechend beliebt ist es als Meisterprobe im Repertoire von Starvirtuosen. Bis heute gelten die Aufnahmen des Pianisten Glenn Gould (1932–1982) als Benchmark. Der kanadische Musiker wurde mit seinen Bach-Aufnahmen berühmt und spielte die Goldberg-Variationen zweimal in einem Studio ein, 1955 und 1982, nur wenige Monate vor seinem Tod. Auf den Schallplatten ist ein Kuriosum zu hören, das als Markenzeichen der Interpretationen Goulds gilt: Er summt zwischendurch vernehmbar mit. Gould spielte übrigens, wie im Roman, einmal live in Salzburg (1959), bevor er sich in die Einöde zurückzog.
Entstehung
Eine Aufnahme von Glenn Goulds Goldberg-Variationen befand sich auch in Thomas Bernhards Schallplattensammlung. Im Oktober 1982 schnappte der exzessive Zeitungsleser die Nachricht vom Tod des Ausnahmepianisten auf. Sie inspirierte ihn zu dem Roman. Bernhard sah im exzentrischen Gould das musikalische Pendant zum Philosophen Ludwig Wittgenstein, mit dem er sich im Zuge der soeben publizierten Erzählung Wittgensteins Neffe beschäftigt hatte.
Bernhard war mittlerweile einer der bekanntesten und erfolgreichsten Literaten Europas und wie der plötzlich verstorbene Pianist Gould um die 50. Er hatte einige durch gesundheitliche Probleme geprägte Jahre überstanden und wieder zu literarischer Produktivität zurückgefunden. 1982 hatte Bernhard sogar mehr geschrieben als nötig: Er konnte es sich leisten, den fertigen Roman Auslöschung quasi als Altersvorsorge zurückzuhalten, indem er ihn erst 1986 erscheinen ließ.
Der Untergeher wurde der Auftakt zum Spätwerk des Autors. Bernhard beendete das Manuskript im April 1983. Zuerst trug es den Titel Chur, dann Der Asphaltgeher, schließlich Der Untergeher. Das Buch erschien im Herbst des gleichen Jahres in einer ersten Auflage von 10 000 Exemplaren. Sie war nach wenigen Wochen ausverkauft.
Wirkungsgeschichte
Angesichts der enormen Strahlkraft von Thomas Bernhards Gesamtwerk ging Der Untergeher vorerst fast ein bisschen unter. Der Auftakt der Künstlertrilogie wurde von der Presse vergleichsweise verhalten rezensiert. Der folgende, skandalumwitterte Roman Holzfällen (1984) wurde im Vergleich dazu viel schneller als Meisterwerk gefeiert. Der Rezensent der Stuttgarter Nachrichten las beim Untergeher wenig Neues, wähnte sich einmal mehr „in einem linguistischen Tollhaus“ und fühlte sich „von Wortwellen erschlagen“. Der Untergeher sei „ein faszinierend schlechtes Buch“, hieß es gar. Die Kritik schließt mit den Sätzen: „243 Seiten Leere. Bernhard hat es geschafft.“
Auch die Süddeutsche Zeitung nahm den Vorwurf auf, Bernhard spinne seine Geschichten stets nach dem gleichen Muster. Aber scheinbar austauschbaren Konstellationen zum Trotz bringe eben doch jeder Text etwas prinzipiell Neues. Die Welt zog schwärmerisch den Vergleich mit dem Reifungsprozess zwischen Goulds erster und der zweiten Aufnahme der Goldberg-Variationen. Die FAZ schließlich meinte im Untergeher einen neuen Bernhard zu erkennen, der sich von komödiantischen Clownereien verabschiedet habe und sich „energisch und unbeirrt in die Weltliteratur einschreibe“.
Wegen seines eher leicht verdaulichen Stoffs und seiner Zugänglichkeit hat sich Der Untergeher mittlerweile als eines der bekanntesten Werke Thomas Bernhards etabliert. So steht es etwa in der Reihe der „50 großen Romane des 20. Jahrhunderts“ der Süddeutschen Zeitung.