Erfolgreich nur vor Ort
Emerging Markets oder Schwellenländer wie China oder Indien weisen enorme Wachstumsraten auf. Indiens Wirtschaft beispielsweise wuchs im Jahr 2007 um 15,2 %. In China waren es 11,4 %. Deutschlands Wirtschaft brachte es in dieser Zeit dagegen nur auf 2,5 %. Für westliche Industrieunternehmen stellt sich angesichts dieser Entwicklung nicht nur die Frage, wie sie vom Wachstum in den Schwellenländern profitieren, sondern auch, wie sie sich ihre Vormachtstellung auf den Weltmärkten sichern können.
„Westliche Unternehmen werden in hohem Maße von der erstarkenden Kaufkraft in den Emerging Markets angezogen.“
Im Vergleich zu den Märkten in den industrialisierten Ländern entwickeln sich die Emerging Markets nicht nur dynamischer, sondern verfügen auch über andere Käuferstrukturen. Die Vorlieben der Kunden ändern sich sehr schnell. Die naheliegende Schlussfolgerung: Nur wer vor Ort ist, kann sich flexibel darauf einstellen. Unabdingbar für den Erfolg auf dem lokalen Markt ist eine auf lokalem Wissen basierende Forschung & Entwicklung (F&E). Qualifiziertes Fachpersonal steht vor Ort zur Verfügung. Die Nähe zu wissenschaftlichen Einrichtungen und Fertigungsstätten, der direkte Kontakt zum Kunden und beschleunigte Innovationszyklen sparen Kosten.
Eigene F&E-Einheit oder externer Partner?
Für Unternehmen, die in Schwellenländern tätig sind, empfiehlt sich also eine eigenständige F&E-Einheit vor Ort. Natürlich lässt sich eine solche nicht von heute auf morgen aufbauen. Bis es so weit ist, bedienen sich viele Unternehmen externer Partner: Es müssen keine großen Investitionen getätigt werden, womit diese Variante vergleichsweise kostengünstig ist. Sie birgt aber auch höhere Risiken. Schließlich geben Sie Ihr geistiges Eigentum an Dritte weiter und müssen hoffen, kein Opfer der Produktpiraterie zu werden. Mit einer eigenen Tochterfirma lässt sich das vermeiden. Auf diese Weise können Sie Ihre F&E-Aktivitäten nicht nur besser kontrollieren und steuern, sondern auch strategisch ausbauen. Allerdings ist der Aufbau einer solchen Dependance teuer und kostet viel Zeit. Bis das investierte Geld zurückfließt, brauchen Sie einen langen Atem. Zeit lässt sich sparen, wenn Sie bestehende Infrastrukturen und Ressourcen vor Ort kaufen. Mit einer Hybridstruktur wie einem Joint Venture verbinden Sie die Vorteile eines externen Partners mit denen einer eigenen Niederlassung und schwächen deren Risiken ab.
Starkes Programm- und Personalmanagement
Haben Sie sich für eine eigene F&E-Einheit vor Ort entschieden, kommt es auf ein klares strategisches Konzept, auf transparente Kosten sowie ein stringentes Programm- und Personalmanagement an. Das F&E-Programmmanagement sollte sowohl am Heimat- als auch am Zielstandort präsent sein, direkt an den Vorstand berichten und für die Umsetzung voll verantwortlich sein. Neben den eigentlichen F&E-Aktivitäten kümmert es sich idealerweise auch um die Funktionen Finanzen, Human Resources, IT, Recht und Kommunikation.
„Die Durchdringung des lokalen Marktes kann nur einhergehen mit dem gleichzeitigen Aufbau einer lokalen Entwicklungskompetenz.“
Oft wird der Aufbau neuer Dependancen im Ausland von den Mitarbeitern im Stammland als Bedrohung angesehen. Mit einer von Anfang an offenen Kommunikation, aber auch mit einem Anreizsystem für die Kooperation mit dem neuen Standort lässt sich das vermeiden. Bis Sie genügend Personal vor Ort gefunden haben, sollten Sie für zwei bis drei Jahre eigene operative Mitarbeiter in die Dependance schicken. Das Personalmanagement vor Ort muss durch Entwicklungsmöglichkeiten und eine angemessene Entlohnung Bleibeanreize schaffen. Für einen optimalen Wissenstransfer und interkulturelles Know-how schicken Sie außerdem für vier bis sechs Wochen Trainingspersonal ins Zielland.
Chancen im mittleren Marktsegment
Wegen der hohen Qualität ihrer Produkte haben westliche Unternehmen bislang vorwiegend den Premiummarkt in den Schwellenländern bedient. Die mittleren und unteren Segmente werden noch überwiegend von lokalen Anbietern mit niedrigen Produktionskosten dominiert. Genau sie verfügen aber über die größte Kaufkraft und das stärkste Wachstumspotenzial. Experten rechnen damit, dass bis 2030 ca. 15 % der Weltbevölkerung zur globalen Mittelklasse zählen werden. Schon heute liegt deren Umsatzanteil bei 60 %; er wird weiter wachsen.
„Neben der Beibehaltung einer starken Position im Premiumsegment bietet sich ein Eintritt in das mittlere Marktsegment an.“
Wer diesen Markt nicht bedient, verzichtet nicht nur auf eine große Zahl von Abnehmern, sondern riskiert eine erstarkende Konkurrenz aus den Emerging Markets, die ihr erfolgreiches Engagement auf westliche Märkte ausweitet. Chinesische Unternehmen wie Haier, Huawei oder Lenovo haben mit innovativen Produkten bereits erfolgreich den Sprung in westliche Märkte gewagt. Westliche Unternehmen sind gut beraten, auch für den mittleren Markt zu produzieren, wenn sie ihre Möglichkeiten in den Schwellenländern ausweiten wollen. Gelingen kann das mit einer Low-Cost- und Low-End-Strategie, also mit Kosteneinsparungen durch Produkte, die auf das Wesentliche beschränkt sind.
Fallbeispiel Sartorius
Beim international tätigen Labor- und Prozesstechnologie-Anbieter Sartorius hält man Fertigungs- und Entwicklungsstandorte vor Ort für unumgänglich, um einen möglichst einfachen Eintritt in die Emerging Markets und eine ausreichende Kenntnis der dortigen Kultur zu gewährleisten. Entsprechend hat das Unternehmen Niederlassungen in Indien, China und den USA gegründet, die zusammen das so genannte Global Engineering Network (GEN) bilden. Jede Niederlassung entwickelt und fertigt das, wofür sie die besten Kompetenzen und Standortvorteile besitzt. Um Überschneidungen auszuschließen, sind sämtliche Kompetenzen in einer Matrix aufgeführt. Weil mit der Erstellung dieser Matrix auch eine Umverteilung von Kompetenzen verbunden war, sich aber niemand bevormundet fühlen sollte, wurde die neue Struktur zwischen dem Hauptstandort in Göttingen und den verschiedenen lokalen Standorten gemeinsam erarbeitet. Für eine erfolgreiche Integration aller Einheiten in das Netzwerk wurde ein standortübergreifendes Projektmanagement etabliert. Persönliche Beziehungen sind die Grundlage für eine gute Zusammenarbeit der einzelnen Niederlassungen. Darum gehören regelmäßige gegenseitige Besuche zum Programm des GEN. So lernen beispielsweise Mitarbeiter in den USA, wie Mitarbeiter in China denken, und können mit kulturellen Unterschieden leichter umgehen.
Fallbeispiel Schott
Weil die wachstumsstärksten Märkte in Asien und insbesondere in China liegen, eröffnete der internationale Technologiekonzern Schott im Frühjahr 2007 sein Technical Service Center im chinesischen Suzhou. Begonnen wurde mit zehn Angestellten. Inzwischen beschäftigt die Niederlassung 20 Ingenieure, Wissenschaftler und Techniker. Die Wahl fiel auf diesen Standort, weil sich das Unternehmen hier in einem Technologiepark mit ca. 1500 Unternehmen aus aller Welt ansiedeln konnte, darunter Kunden, Lieferanten und Produktionsbetriebe. Eine wichtige Rolle spielte auch die Zusammenarbeit mit wissenschaftlichen Einrichtungen. Die Planung der neuen Niederlassung nahm etwa ein Jahr in Anspruch, die Implementierung dauerte ebenfalls ein Jahr. Für Aufbau, Weiterentwicklung und Stabilisierung wird mit weiteren drei bis fünf Jahren gerechnet.
„Häufig bildet der Aufbau von eigenen F&E-Kapazitäten in den Emerging Markets die fortgeschrittenste Stufe einer langen Entwicklung des lokalen unternehmerischen Engagements.“
Für erfolgsentscheidend hält man bei Schott eine global gültige Unternehmensvision. Sie soll dafür sorgen, dass jeder Mitarbeiter nach der systematischen Verbesserung der eigenen Leistungsfähigkeit und nach Kundenzufriedenheit strebt. Ebenfalls wichtig war gerade in der Anfangsphase die Unterstützung durch das Topmanagement. Es wurde ein Lenkungsausschuss gebildet, dem sowohl die Konzernführung als auch die Führung der Geschäftseinheit angehörte.
„Chinesische Mitarbeiter, die in Deutschland studiert und gelebt haben, können Multiplikatoren für ein besseres Verständnis der unterschiedlichen Kulturen sein.“
Die rasant wachsenden Märkte in China erfordern Flexibilität und rasche Entscheide. Die Mitarbeiter vor Ort müssen deshalb eigenverantwortlich handeln können und über die nötigen Kompetenzen verfügen. Entscheidungsfreiheit innerhalb gewisser Grenzen ist ein Muss; nicht zuletzt, wenn es gilt, bestehende Prozesse an kulturelle Unterschiede anzupassen. Eine Fernsteuerung durch den Mutterkonzern ist für die Mitarbeiter vor Ort nicht unbedingt motivierend. Die Entscheidungsfreiheit geht allerdings mit der Pflicht zum zeitnahen Berichten an das Mutterhaus einher. Was in der Niederlassung entschieden werden kann und was nicht, ist bei Schott klar festgelegt. Entscheidungen über technische Kundenanfragen können beispielsweise in Suzhou frei gefällt werden.
Fallbeispiel Evonik Degussa
Evonik Degussa unterhält etwa 20 Gesellschaften und Joint Ventures in China. Das Engagement begann mit dem Export von Produkten, wurde weiterentwickelt mit dem Aufbau eines lokalen Marketings und Vertriebs, bis dann die erste Produktionsstätte errichtet wurde. Der letzte Schritt bestand 2003 im Aufbau der Forschung für die Chemiesparte in Shanghai. Bis heute wurden mehr als 20 Millionen Euro in dieses Forschungszentrum investiert. So kann das Unternehmen Produkte entwickeln, die den chinesischen Bedürfnissen gerecht werden.
„Ein absolutes Muss für eine erfolgreiche Rekrutierung sind hervorragende Kontakte zu den führenden Hochschulen des Landes.“
Bei Evonik Degussa schätzt man das gute lokale Fachpersonal, weist aber darauf hin, dass Unternehmen die kulturellen Unterschiede unbedingt berücksichtigen müssen. So denken z. B. Chinesen hierarchischer als Deutsche. Um lokales Personal auf die westliche Arbeitsweise einzuschwören, empfehlen sich Trainings in Deutschland. Die lokale F&E-Einheit dient Evonik Degussa nicht nur als Brücke zwischen Unternehmen und Markt, sondern auch zwischen Unternehmen und Forschung.
„Es ist wichtig, dass die F&E-Mitarbeiter ihren Beitrag zum Gesamterfolg des übergeordneten Projektes wie auch GE insgesamt sehen.“
Attraktiv ist China nämlich nicht nur wegen seiner Marktgröße, sondern auch wegen der Qualität seiner wissenschaftlichen Einrichtungen und seines wissenschaftlichen Personals. Persönliche Beziehungen sind die Grundlage jeder Partnerschaft in China. Deshalb schuf Evonik Degussa ein so genanntes Scientific Advisory Board mit namhaften Professoren. Einmal im Jahr veranstaltet das Unternehmen die Konferenz „Evonik meets Science“, woran jeweils etwa 30 chinesische Wissenschaftler teilnehmen.
Fallbeispiel General Electric
Der Hauptgrund, weshalb General Electric im indischen Bangalore das John F. Welch Technology Centre (JFWTC) errichtet hat, liegt im großen Angebot an sehr gut ausgebildetem Fachpersonal. Das Unternehmen beschäftigt rund 4200 Mitarbeiter in seiner indischen F&E-Einheit, die multidisziplinär arbeitet: Grundlagenforschung, Maschinenbau, Software, Konstruktion. Der Campus beherbergt Labor- und Bürogebäude, aber auch einen Park und eine Freiluftcafeteria sowie weitere Annehmlichkeiten für die Mitarbeiter.
„Der Hauptgrund für GEs F&E-Engagement in Indien war von Anfang an die hervorragend entwickelte intellektuelle Infrastruktur des Landes, die zahlreich Ingenieurs- und Naturwissenschaftsbereiche umfasst.“
Die Rekrutierung erfolgt u. a. über Kontakte zu den renommiertesten Hochschulen und Universitäten des Landes, aber auch weltweit. So werden außerhalb Indiens potenzielle Mitarbeiter angesprochen, die gerne in ihr Heimatland zurückkehren möchten. Ein Anreiz ist das gute Arbeitsumfeld auf dem JFWTC-Campus. Zudem hilft GE beim Umzug nach Bangalore, sucht Wohnungen, Kinderbetreuungsmöglichkeiten, bietet kostenlose Mahlzeiten und organisiert den Transport zum Arbeitsplatz. Wer in Bangalore einen Vertrag unterschreibt, kommt vom ersten Moment an in den Genuss einer einwandfrei funktionierenden Infrastruktur. Niemand muss tagelang auf seinen Laptop oder E-Mail-Account warten. Und weil nichts so sehr motiviert wie Verantwortung, darf jeder neue Mitarbeiter schnell selbstständig innovative Projekte durchführen.
Prof. Dr. Holger Ernst ist Inhaber des Lehrstuhls für Technologie- und Innovationsmanagement an der Otto Beisheim School of Management und berät zahlreiche Unternehmen auf dem Gebiet des Innovationsmanagements. Anna T. Dubiel und Martin Fischer sind wissenschaftliche Mitarbeiter und Doktoranden am Lehrstuhl von Prof. Ernst und forschen u. a. auf dem Gebiet des internationalen F&E-Managements. Neben diesen drei Herausgebern haben fast 30 weitere Autoren zum Buch beigetragen.