Die Straße der Ölsardinen

Buch Die Straße der Ölsardinen

New York, 1945
Diese Ausgabe: dtv,


Worum es geht

Heitere Geschichte mit sozialem Tiefgang

An der Oberfläche ist es eine ganz lustige Geschichte: Eine Gruppe verkrachter Existenzen rottet sich zusammen, um ein Fest zu feiern, was gewisse Beschaf­fungsak­tivitäten erfordert. Der Versuch geht krachend daneben, aber aller guten Dinge sind zwei, und am Ende schmeißt Mack dem Doc eine zünftige Party. Doch Die Straße der Ölsardinen ist alles andere als eine harmlose Story. Unter der heiteren Oberfläche lauern harte Leben­sre­alitäten. Steinbeck schrieb den Text 1944, nostalgisch und kriegsmüde nach der Rückkehr aus Europa. Ja, das Buch ist lustig, und seine Sit­u­a­tion­skomik ist nicht in die Jahre gekommen. Aber es ist auch voller Tragik und sozialer Härte, die beiläufig daherkommen, wie Selbstverständlichkeiten, mit denen man sich nicht länger aufhält. Steinbeck zeigt das Leben jenseits der Kon­ven­tio­nen und respektiert Armut – bisweilen pathetisch verklärt – auch als selbst gewählte Option außerhalb des kap­i­tal­is­tis­chen Drucksys­tems. Die zentrale Beziehungsachse der Geschichte bilden Doc und Mack, das Lab­o­ra­to­rium und das Palace Hotel, hüben und drüben von Cannery Row: der eine ein funk­tion­ieren­des Element der Gesellschaft, aber einsam, der andere ein Aussteiger und Er­fol­gsver­weigerer, geborgen im bunten Club der Außenseiter.

Take-aways

  • Die Straße der Ölsardinen ist ein humorvoller Roman über Aussteiger aus dem kap­i­tal­is­tis­chen System. Es war einer der er­fol­gre­ich­sten Romane von John Steinbeck.
  • Inhalt: Cannery Row ist die Straße der Ölsar­di­nen­fab­riken in Monterey, Kalifornien. Es ist die Heimat des chi­ne­sis­chen Krämers Lee Chong, der Bor­dell­be­treiberin Dora Flood, des Meeres­bi­olo­gen Doc sowie einer Clique von Außenseitern rund um den Anführer Mack. Letztere schmieden den Plan, Doc zu Ehren eine Party auszurichten, was Schritt für Schritt in eine tragikomis­che Katastrophe führt – und im zweiten Anlauf doch noch zu einem Happy End.
  • Schauplatz ist Monterey, Steinbecks zeitweilige Heimat und Hauptstadt der Ölsardinen. Der Ort hat ihn zu einer Reihe von Werken inspiriert und zählt heute zum „Steinbeck Country“.
  • Unter der leichtfüßig-komis­chen Oberfläche hat der Roman auch Tiefgang, rückt er doch soziale Fragen wie Armut und Ob­dachlosigkeit ins Bewusstsein.
  • Indem er die Perspektive von Außenseitern einnimmt, stellt Steinbeck infrage, was gemeinhin als „normal“ gilt.
  • Als Journalist und Autor widmete sich Steinbeck den Folgen der Großen Depression.
  • Die Figur des Doc ist eine Hommage an Steinbecks Freund Ed Ricketts, der ein anerkannter Meeres­bi­ologe war und sein Labor in der Cannery Row hatte.
  • Zu Ehren des Buches wurde die Ocean View Avenue in Monterey offiziell in Cannery Row umbenannt.
  • Der Roman wurde 1982 mit Nick Nolte als Doc verfilmt.
  • Zitat: „Cannery Row ist mehr als nur eine Straße, es ist die Gegend der Ölsardinen und Konservenbüchsen, ist ein Gestank und ein Gedicht, ein Knirschen und Knarren, ein Leuchten und Tönen, ist eine schlechte Ange­wohn­heit, ein Traum.“
 

Zusammenfassung

Die Bewohner der Cannery Row

In der Cannery Row in Monterey gibt es einen sogenannten leeren Platz, auf dem aber allerlei Gerümpel herumliegt. Auf dessen rechter Seite betreibt der Chinese Lee Chong seinen Krämerladen: Von der mittelprächtigen Old-Ten­nessee-Bren­nung mit dem Spitznamen „Old Tennis Shoes“ bis zu uralten Ladenhütern bietet der alles, was man jemals begehren könnte. Gegenüber steht Dora Floods Freudenhaus, die „Flotte Flagge“. Die Puffmutter behandelt die Mädchen gut und macht das Halbseidene ihres Gewerbes durch phil­an­thropis­ches Engagement wieder wett, teils von Herzen, teils infolge mehr oder weniger subtilen gesellschaftlichen Drucks. Auf der dritten Seite des Platzes befindet sich das Western Biological Laboratory von Doc, der mit lebendem Meeres­getier und bi­ol­o­gis­chen Präparaten handelt. Er liebt Literatur und Kunst und spielt gre­go­ri­an­is­che Choräle auf seinem Grammofon ab, besonders wenn er Damenbesuch hat. Etwas weiter oben, jenseits der Bahngleise, thront das Palace Hotel und Grillroom – trotz des Namens handelt es sich nicht um ein Hotel, sondern um eine aus­rang­ierte Fis­chmehlhalle, die Mack und seine Freunde bezogen und Stück für Stück in ein Zuhause verwandelt haben. Von hier aus blicken sie auf das Treiben der Gesellschaft, während sich die wilden Malven um ihre Beine ranken.

Eine Party für Doc

Mack will seinem melan­cholis­chen Freund Doc zur Freude eine Party ausrichten. Zur Fi­nanzierung der Sause wollen Mack und die Palace-Clique Frösche fangen und diese an Doc verkaufen. Mit Tankgeld von niemand Geringerem als dem nichts ahnenden Doc selbst und einem eigentlich fahruntüchtigen Ford T von Lee Chong machen sie sich auf zur Jagdpartie. Nach einer Pannenfahrt, bei der ihnen ein Cliquen­mit­glied polizeilich ab­han­denkommt, überrollen sie nicht un­ab­sichtlich einen Hahn, der an ihrem Lagerplatz am Carmel-Fluss im Topf landet. Sie verbringen einen lauen Sommerabend am Feuer, mit gutem Essen, Tratsch und Kaffee. Plötzlich unterbricht Mack zerknirscht die beschauliche Ruhe: Sie or­gan­isieren das Fest doch eigentlich nur, um selbst ordentlich feiern zu können! Zur Recht­fer­ti­gung braucht es also zusätzlich auch ein Geschenk für Doc, und was läge da näher als … Whisky.

„Cannery Row ist mehr als nur eine Straße, es ist die Gegend der Ölsardinen und Konservenbüchsen, ist ein Gestank und ein Gedicht, ein Knirschen und Knarren, ein Leuchten und Tönen, ist eine schlechte Ange­wohn­heit, ein Traum.“ (S. 7)

Diese Erwägungen werden jäh gestört, als der Landbe­sitzer aufkreuzt, inklusive Flinte und Hund, und sie vertreiben will. Mack wendet das Blatt mit Witz und Intelligenz: Er sieht, dass die Hündin lahmt, und bietet an, sie zu behandeln. Außerdem sind dem Landbe­sitzer die Frösche hinter seinem Haus eine rechte Plage, die er sich gern abjagen ließe. Er lädt die Clique zu sich nach Hause ein, und als sie bei ihm auch noch hochw­er­ti­gen Whisky abgreifen können, ist die Situation perfekt. Hazel sinniert bewundernd, dass Mack Präsident der USA werden könnte, woraufhin Jones abwinkt: Da hätte er doch nichts davon, das bringt keinen Spaß. Nachts ve­r­anstal­ten sie eine wahre Treibjagd im Bewässerung­ste­ich hinter dem Haus, sammeln die Frösche sackweise ein und haben am Ende 50 Pfund davon. Außerdem sucht sich Mack noch einen Welpen aus, bevor sich die Freunde hochzufrieden auf den Heimweg machen. Die Party scheint gesichert.

Stoßzeit im Puff

Die „eigentliche Stoßzeit“ in der Flotten Flagge ist immer die Sar­di­nen­sai­son im März. Dann sind die Fischer im Ort, außerdem findet ein Reg­i­mentswech­sel in der Garnison statt, dazu Stammkunden, Cowboys, Kies­grube­nar­beiter und Eisenbahner. Wenn aber ein Mädchen Urlaub hat, das andere mit gebrochenem Bein darnieder­liegt und eine Dritte aufgrund eines Gebetsgelübdes nicht einsatzfähig ist, dann kommt selbst Dora Flood ins Schleudern. Zumal sie sich über die Steuererklärung den Kopf zerbricht: Ihr Geschäft ist illegal, versteuern soll sie es aber. Und als wäre all das nicht schon genug, bricht auch noch eine Grippe-Epi­demie aus. Von den Ärzten in Monterey lässt sich niemand in der Cannery Row blicken, denn arme Patienten sind unrentabel. Also springt Doc in die Bresche, der kein Arzt ist und auch keiner sein will. Er leistet Not­fal­lver­sorgung bis zur Erschöpfung; schließlich eilt Dora ihm zu Hilfe, obwohl sie auch am Limit ist. Im Schicht­be­trieb „sowohl in den Betten wie an den Betten“ wechseln die Mädchen zwischen Puff und Kranken­lagern hin und her, bringen warme Suppe, halten die Hände fiebernder Kinder und schlafen bei ihren Wach­di­en­sten vor Müdigkeit ein.

Ein grausiger Fund

Für eine Bestellung Polypen bricht Doc nach Süden auf. Er reist langsam und bei stetem Bierkonsum. In jungen Jahren war er ein Vagabund und lernte damals, dass die Leute die Wahrheit schlecht vertragen. Ehrlichkeit über seine See­len­ver­fas­sung, Neugier und Liebe zur Landschaft machten ihn zum Außenseiter, man sah ihn scheel an. Die Lüge, er vagabundiere aufgrund einer Wette, leuchtete den Leuten dagegen auf Anhieb ein. Doc hat die Lektion gelernt: Die Wahrheit ist eine gefährliche Geliebte. Auf der Fahrt Richtung Los Angeles tut er endlich, was er schon lange vorhatte, aber nie wagte: einen „beer milk shake“ bestellen. Auch hier erspart sich Doc die Wahrheit und verkauft den Spleen als medi­zinis­che Notwendigkeit, alles andere wäre zu peinlich. Morgens um zwei ist er an seinem Ziel in La Jolla und schläft im Wagen. Er steht im Einklang mit den Rhythmen der Natur, darum braucht er trotz seiner Müdigkeit keinen Wecker, denn sein Körper weiß, wann die Gezeiten richtig stehen. Er sammelt die Polypen ein, die er benötigt. Als er eigentlich schon fertig ist, entdeckt er hinter einem Riff die Leiche einer jungen Frau. Schockiert und mit einem hohen Flötenton im Ohr gibt er diese Information an einen Passanten weiter, der sich gern die Prämie für den Fund einsacken darf. Doc macht sich auf die Heimreise.

Feiern, bis der Arzt kommt

Mack und die Jungs kehren von ihrer Froschjagd zurück – und tauschen ihre Beute sogleich bei Lee Chong ein: Für 25 Frösche kriegen sie einen Dollar, denn es ist klar, dass Doc für jeden Frosch einen Nickel bezahlen wird. Da aber kein anderer Laden die Froschwährung akzeptiert, kann Lee mit den Preisen für Whisky und Lebens­mit­tel nach Belieben wuchern, und so schwindet der Froschvor­rat, der doch Docs Party finanzieren soll, rapide dahin. Eddie, dessen wichtigste Rolle es sonst ist, von seinem Tresenjob alle Getränkereste in einem großen Krug gemixt mit ins Palace zu bringen, versucht sich mit zweifel­haftem Erfolg an einem Kuchen für das Fest. Da die größte Freude für Doc – so überlegt Mack – doch die erbeuteten Frösche sind, müssen diese auch mitten im Zimmer platziert werden. Gesagt, getan. Die ganze Zeit über fließt der Whisky und die Stimmung wird immer festlicher. Passanten gesellen sich dazu, die laute Musik lockt weitere Leute an. Als manche Besucher meinen, das Lab­o­ra­to­rium sei eine Filiale des Freuden­hauses, wird dieses Missverständnis mit Fausthieben aufgeklärt, wobei die Eingangstür, Fen­ster­scheiben und Geschirr zu Bruch gehen. Ein kleiner Zimmerbrand hinterlässt ebenfalls Spuren. In den frühen Mor­gen­stun­den stopft Mack einem Betrunkenen, der über Doc lästert, mit einem Fausthieb das Maul, woraufhin dieser ins Gefäß mit den Fröschen stürzt. Irgendwer zerstört noch den Saphir von Docs geliebtem Plat­ten­spieler, dann ist das Fest aus. Ein erster mutiger Frosch wagt die Flucht, andere folgen ihm, und bevor der Morgen anbricht, sind alle Frösche weg. Das Labor steht hell erleuchtet, still und leblos da.

„Die Bewohner? Huren, Hurensöhne, Kuppler, Stromer und Spieler, mit einem Wort: Menschen; man könnte mit gleichem Recht sagen: Heilige, Engel, Gläubige, Märtyrer – es kommt nur auf den Standpunkt an.“ (S. 7)

So verwüstet findet Doc sein Heim vor, als er vollkommen übernächtigt von seinem Trip zurückkehrt. Sogleich steht Mack auf seiner Schwelle und versucht zu erklären, wie ihm der Abend so entgleiten konnte. Doc bebt vor Wut und will keine Erklärungen. Noch ehe Mack einen vollständigen Satz her­vor­brin­gen kann, hat er einen Faustschlag im Gesicht, der ihn einen Zahn kostet. Er hält dem Doc das Gesicht noch einmal hin und empfängt weitere Schläge. Dass er sich nicht einmal wehrt, stachelt Docs Zorn weiter an, dann aber erlischt er abrupt. In seinem Innern hört Doc plötzlich die Musik Monteverdis, und es ist, als höre Mack sie auch. Diese Klänge sind Klage und Entsagung zugleich. Sie lassen Doc verstehen und akzeptieren. Alles wird ruhig. Mack wäscht sich das Blut aus dem Gesicht, und die beiden trinken ein Bier. Mack will Doc den Schaden ersetzen; der lehnt es ab im Wissen, dass Mack eine so große Summe niemals wird aufbringen können. Mack seinerseits weiß, dass aus seiner Zerknirschung kein langfristiger Lerneffekt entsteht. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis ihm Ähnliches erneut passieren wird.

Die Jungs werden geächtet

Alles, was Mack in seinem Leben angepackt hat, seine Ehe inbegriffen, endete in einer Katastrophe. Immer war alles verpfuscht. Irgendwann hat er sich darauf verlegt, den Clown zu spielen. Das ist die Rolle, die er sich zugelegt hat, und wenn er seine Jungs zum Lachen bringen kann, ist ihm das Lohn und Ehre genug. Erst einmal brechen aber harte Zeiten für ihn an: In Monterey kursieren die wildesten Gerüchte über die Party, und selbst Leute, die es besser wissen, stimmen in die Ver­leum­dun­gen ein. Niemand findet ein gutes Wort für die Jungs, die nun gesellschaftlich geächtet werden. Mack verkriecht sich mit seinen seelischen und körperlichen Wunden im Bett, Hazel lässt sich aus Reue absichtlich verprügeln. Hughie und Jones suchen sich tatsächlich eine Arbeit. Ihre Reaktion auf die Ächtung ist der Rückzug. In der kleinen, abgeschiede­nen Welt des Palace gehen sie liebevoll miteinander um, sie halten ihr Heim in Ordnung, dank Hughie und Jones haben sie sogar mal Geld. Lee Chong meiden sie und kaufen ihre Lebens­mit­tel lieber woanders. Doc, der überhaupt nicht mitbekommt, welche soziale Ausgrenzung seine Freunde trifft, hält sie für die „größten Philosophen“. In Unkenntnis ihres Lei­dens­drucks bewundert er die Lockerheit, mit der sie sich der allgemeinen Hektik und Habsucht und allen gesellschaftlichen Zwängen entziehen.

Die Genesung

Die Situation erstarrt in einem Patt: Doc weiß nichts von der Traurigkeit der Jungs und diese ahnen nicht, dass er ihnen weiter zugetan ist und vor der Welt für sie eintreten würde. Ihr Unglück überträgt sich auf den ganzen Ort. Ehen geraten in die Krise. Unfälle geschehen. Unwetter richten Schaden an. Der Rausschmeißer der Flotten Flagge haut zu kräftig zu und kommt vor Gericht, der Puff gerät ins Visier von Sittenwächtern und muss für eine Weile schließen. Doc braucht einen Kredit, um den Schaden der Party zu beheben. Und zu allem Übel wird Macks Welpe ster­ben­skrank. Die Jungs überwinden sich und erbitten Hilfe von Doc. Der gibt ihnen einen Rat, wie sie den Hund kurieren können. Die Krisis des Welpen ist auch die Krisis des Ortes, und sowie es ihm besser geht, ist der Bann gebrochen. Ganz Cannery Row kann genesen. Doc hört wieder Musik und hat Damenbesuch, Lee Chong bittet die Jungs, zu ihm zurückzukehren. Glücksgefühl breitet sich im Quartier aus wie ein Gas. In dieser Hochstim­mung sucht Mack Doras Rat, wie eine Wiedergut­machung für den Doc aussehen könnte. Die weise Puffmutter muss nicht lange nachdenken: eine Party. Diesmal eine, die er tatsächlich bekommt.

Eine ganze Stadt im Partyfieber

Die Vor­bere­itun­gen für das Fest laufen in aller Heim­lichkeit an. Mit einer Finte versucht Mack, Docs Geburtstag her­auszufinden. Doc misstraut Macks Schar­wen­zeln und nennt vor­sicht­shal­ber ein falsches Datum. So wird der 27. Oktober für die „Geburt­stagsparty“ festgelegt. Der Termin kursiert, ohne dass jemand offiziell eingeladen hätte, und die Gästeliste ist kaum kürzer als das Ein­wohn­erverze­ich­nis von Monterey. Alle halten dicht – bis auf einen Betrunkenen, der in Docs Beisein über die tolle Sache schwadroniert. So reimt sich Doc zusammen, was da auf ihn zukommt, und wappnet sich, um die „mörderischen Auswirkun­gen“ des Festes einzuschränken. Er bringt Zer­brech­liches in Sicherheit, und in der korrekten Annahme, dass alle anderen ausschließlich ans Trinken denken, stockt er Essensvorräte auf. Derweil ist die halbe Stadt mit der Herstellung und Beschaffung von Geschenken beschäftigt. Doras Mädchen nähen an einem Quilt aus Sei­den­resten ihrer Gewänder in den schönsten Schat­tierun­gen von Rot, Rosa und Violett. Frankie aber, ein sensibler lern­be­hin­derter Junge, dem Doc zum Mentor wurde, bricht für sein Geschenk in ein Juwe­liergeschäft ein. Nachdem ihm das Labor und die Gemein­schaft in der Cannery Row bislang eine Art Schutzraum bieten konnten, gerät er mit dieser Straftat aus Liebe in die Fänge des Systems und wird in die Psychiatrie eingewiesen – Doc kann nichts dagegen tun.

Ein rauschendes Fest im zweiten Anlauf

Am 27. Oktober baden Mack und die Jungs zur Feier des Tages. Die Flotte Flagge operiert an diesem Tag im Schicht­sys­tem. Doc selbst glüht allein schon mal ein wenig vor und erwartet voller Vorfreude, was da auf ihn zukommen mag. Sowie die Gäste herbeiströmen, nimmt das Fest an Fahrt auf. Bald kommt es zum ersten mustergültigen Handgemenge. Doc serviert Steaks, die schnell verputzt werden und alle ein wenig träge machen, er spielt Musik von Monteverdi und liest ein langes Gedicht vor. Als die Party schon in süßer Melancholie einzuschlum­mern droht, bäumt sie sich dank einer Handvoll hereindrängender Fis­ch­er­sleute doch noch mal zu einem prachtvollen Gefecht auf. Nur zwei Fenster gehen zu Bruch, bevor sich die Schlacht nach draußen auf den leeren Platz verlagert. Die her­beigeeilte Polizei wird in die Party integriert, ebenso die Besatzung des Thun­fis­chdampfers. Doc spielt auf seinen Knien ein imaginäres Klavier, und ein Gast zündet zum fulminanten Abschluss in der Bibliothek eine Ladung Böller. Am Morgen danach liegt die Cannery Row in tiefer Ruhe. Doc legt eine Platte mit gre­go­ri­an­is­cher Musik auf und macht sich ans Aufräumen.

Zum Text

Aufbau und Stil

Die Straße der Ölsardinen ist mit rund 150 Seiten ein kurzer Roman Steinbecks. Nach einer Ouvertüre, die einen typischen Tag in der Cannery Row beschreibt und die wichtigsten Charaktere einführt, folgt eine lineare und dichte Ro­man­hand­lung. Sie wird un­ter­brochen von Einschüben philosophisch-po­et­is­cher Art, die Welt­be­tra­ch­tung, Naturbeschrei­bun­gen, Kuriositäten des Alltags und kleine Lebens­geschichten von Randfiguren bieten. Die eigentliche Story steht in der Ver­gan­gen­heits­form, die Einschübe häufig im Präsens. Geradlinig steuert die Geschichte auf den ersten Höhepunkt der gescheit­erten Party und schließlich auf den Schlusspunkt der gelungenen Party zu. Hinter der Geschichte steht ein Ich-Erzähler, der Wertungen vornimmt, sich im Innenleben aller Figuren auskennt und weiß, was los ist in der Cannery Row. Die Perspektive ist stets bei jener Person, die gerade die Handlung voranbringt. Steinbeck erzählt mit Fab­u­lier­lust, glänzt mit großartigen Charak­ter­isierun­gen und bietet lebhafte Dialoge voller Slang und Straßenjargon. Der Stil ist witzig und geistreich, mit einem guten Schuss sarkastis­cher Ironie und großer Sit­u­a­tion­skomik. Das Werk hat ein gut aus­bal­anciertes Verhältnis zwischen Dialog, Action und der Beschrei­bung von Umgebung und den ewigen Gesetzen des Lebens.

In­ter­pre­ta­tion­sansätze

  • Die Straße der Ölsardinen stellt gesellschaftliche Standards infrage. Die Charaktere bilden eine Riege zer­broch­ener oder schwieriger Lebenswege. Da finden sich Armut, gescheit­erte Lebensentwürfe, psychische Handicaps, Migration und soziale Ächtung. Steinbeck nimmt mit großer Zuneigung die Perspektive dieser Außenseiter ein. Durch deren Blick und Logik wird umgekehrt und neu definiert, was „normal“ ist. Es geht Steinbeck um Respekt für aufrichtige Lebensentschei­dun­gen und die Würde einer jeden Lebensweise.
  • Die Figur des Doc, eine Hommage an Steinbecks Freund Ed Ricketts, ist ein modernes Beispiel des Uni­ver­sal­gelehrten. Doc ist ein In­tellek­tueller inmitten einfach gestrickter Leute. Mitten im Ölsar­di­nenkap­i­tal­is­mus hat er eine Pri­vat­bib­lio­thek aufgebaut, sein Labor beherbergt die Instrumente der Wis­senschaft, seine Vorliebe für gre­go­ri­an­is­che Choräle und die Musik Monteverdis öffnet ein Fenster zur Religiosität.
  • In Mack, einem an­ti­ma­te­ri­al­is­tis­chen Er­fol­gsver­weigerer, findet Doc seinen Gegenpart. Die Clique im Palace Hotel und Grillroom bildet eine funk­tion­ierende Par­al­lelge­sellschaft. Allenfalls arbeiten sie, um zu leben, nicht andersherum; sie sind äußerst ein­fall­sre­ich und voller Ressourcen dafür, ihre Ziele zu erreichen – oder in Würde zu scheitern. Der in­tel­li­gente Mack hat ein untrügliches Gespür für Docs Melancholie und Einsamkeit – er will helfen, und seine Medizin sind Partys.
  • Steinbeck hat Monterey auf der lit­er­arischen Weltkarte platziert. Die Stadt ist nicht nur der Schauplatz von Straße der Ölsardinen, sondern auch von Tortilla Flat und Wonniger Donnerstag, außerdem erwähnt er sie in Die Reise mit Charley und Logbuch des Lebens; letzterem Buch lag ein Recherchetrip mit Ricketts zugrunde. Kein anderer Ort hat Steinbeck zu so vielen Geschichten inspiriert.
  • Die Handlung spielt Ende der 1930er-Jahre, als die Auswirkun­gen der Großen Depression noch zu spüren waren. Dank seiner Recherchen für Früchte des Zorns war Steinbeck bestens über die sozialen Fragen im Bilde, die hier eher leichtfüßig verhandelt werden. Komik und Melancholie, Le­ichtigkeit und soziale Härte halten sich die Waage.

His­torischer Hintergrund

Monterey, die Sar­di­nen­haupt­stadt der Welt

Die Geschichte der Ölsardinen hat ihren Ursprung nirgendwo anders als in der Cannery Row. 1895 gründete Frank E. Booth hier die erste Fabrik für Fis­chkon­ser­ven. Dieses Produkt bot alle Zutaten für eine weltweite Er­fol­gsstory: ein billiger Rohstoff, gute Lagereigen­schaften, hoher Nährwert. Die Gegend um Monterey ist eines der ältesten Sied­lungs­ge­bi­ete in Kalifornien. Ab 1850 ließen sich dort viele Chinesen nieder. Ital­ienis­che Einwanderer brachten aus Sizilien neuartige Netze mit und ebneten damit den Weg für die Sar­di­nen­fis­cherei, die Monterey zur „Sardine Capital of the World“ machen sollte. Die Ar­beits­be­din­gun­gen in den Fabriken waren miserabel, der Gestank unerträglich und das Hantieren mit scharfen Messern gefährlich. Ins­beson­dere in den Kriegen des 20. Jahrhun­derts waren Ölsardinen ein wichtiges Handelsgut, entsprechend erreichte die Produktion während des Ersten Weltkriegs einen Höhepunkt. Danach folgte der Einbruch der Großen Depression, der längsten, schwersten und am weitesten ver­bre­it­eten Wirtschaft­skrise des 20. Jahrhun­derts. In den USA der 1930er-Jahre verbanden sich die Auswirkun­gen des Börsencrashs von 1929 mit lang anhaltenden Dürren, die den Mittleren Westen in eine „Staubschüssel“ („dust bowl“) ver­wan­del­ten. Hun­dert­tausende Farmer zogen auf der Suche nach einem Auskommen in Richtung Kalifornien. Barack­en­sied­lun­gen schossen aus dem Boden. Der 1933 ins Amt gewählte Präsident Franklin D. Roosevelt erhöhte bis 1939 die Regierungsaus­gaben massiv; seine Wirtschafts- und Sozial­re­for­men sind als New Deal in die Geschichte eingegangen. Das Trauma der Großen Depression hinterließ auch seine Spuren in der kulturellen Produktion der USA. Wie kein anderes Werk steht John Steinbecks Roman Früchte des Zorns für die lit­er­arische Au­seinan­der­set­zung mit dieser ein­schnei­den­den Erfahrung. Iro­nis­cher­weise war es der Zweite Weltkrieg, der zumindest in dieser Hinsicht Er­le­ichterung brachte: Die Ausgaben für die Kriegsin­dus­trie beschle­u­nigten die Erholung und reduzierten die Ar­beit­slosigkeit. Im Zweiten Weltkrieg nahm auch die Ölsar­di­nen­pro­duk­tion wieder massiv Fahrt auf, um ab den 1950er-Jahren aufgrund von Überfischung zu einem Ende zu kommen.

Entstehung

John Steinbeck verbrachte quasi die kompletten 1930er-Jahre in un­mit­tel­barer Nach­barschaft der Cannery Row in Monterey. Während des Zweiten Weltkriegs war er in Europa und doku­men­tierte den mühsamen Vormarsch der Alliierten im Mit­telmeer­raum, eine trau­ma­tis­che Erfahrung. Wie er später in einem Essay schrieb, soll ihn eine Gruppe kriegsmüder Soldaten aufge­fordert haben, etwas Lustiges zu schreiben, das nicht vom Krieg handelt. Das Ergebnis war Die Straße der Ölsardinen. Dass Steinbeck für Früchte des Zorns fundiert und ausführlich über die Große Depression recher­chiert hatte, merkt man jedoch auch der leichteren Kost noch an: Themen wie Verarmung, Ob­dachlosigkeit, gesellschaftliche Ausgrenzung und die sozialen Folgen eines er­bar­mungslosen Kap­i­tal­is­mus tragen auch diese eher hu­moris­tis­che Geschichte und geben ihr Tiefe. Steinbeck selbst nannte sie eine „nos­tal­gis­che Sache“. Die versunkene Welt des Monterey der Vorkriegszeit lebt darin nochmals auf. Mit der Figur des Doc setzte Steinbeck seinem Freund Ed Ricketts ein lit­er­arisches Denkmal; ihm hat der Autor auch das Buch gewidmet mit den Worten „er weiß warum, vielleicht auch nicht“. Ricketts war ein anerkannter Meeres­bi­ologe und betrieb seine Pacific Biological Lab­o­ra­to­ries in der Cannery Row bis zu seinem Unfalltod 1948, als sein Wagen von einem Zug erfasst wurde.

Wirkungs­geschichte

Eine halbe Million Stück des 1945 er­schiene­nen Werks wurde an Soldaten verteilt, und laut Steinbeck „gab es keine Klagen“. 1954 legte Steinbeck mit Wonniger Donnerstag einen Folgeroman nach, der ins­beson­dere die Geschichte von Doc nach seiner Rückkehr aus dem Zweiten Weltkrieg weit­er­en­twick­elt. Der Film Cannery Row (1982) mit Nick Nolte als Doc integriert mehrere Elemente und Erzählstränge aus diesem Folgewerk. Cannery Row war ursprünglich nur der um­gangssprach­liche Name für Montereys Ocean View Avenue, entlang derer die „canneries“ standen. Infolge des Ro­man­er­folgs wurde sie 1958 offiziell in Cannery Row umbenannt – zu einer Zeit, da die Ölsar­di­nen­pro­duk­tion infolge radikaler Überfischung längst zurückging. Gefragt, wo die Sardinen geblieben seien, soll Ed Ricketts geantwortet haben: „Sie sind in Dosen.“ Die letzten Fabriken schlossen in den 1970ern. Der Lit­er­atur­touris­mus auf Steinbecks Spuren – er selbst hatte sich längst in New York niederge­lassen – brachte für das ganze Quartier die Wende, denn mit dem Frem­den­verkehr erschloss sich eine neue Einkom­men­squelle. Heute wirbt die Website canneryrow.​com damit, das „populärste Urlaubsziel entlang Kali­forniens zentraler Küste“ zu sein und sinnbild­haft für Kultur und Schönheit von Monterey Bay zu stehen, die wiederum als Teil von „Steinbeck Country“ vermarktet wird, das von Santa Cruz im Norden der Bucht über Steinbecks Geburtsort Salinas bis nach Big Sur im Süden reicht. Die Straße der Ölsardinen ist mehrfach fürs Theater adaptiert worden. In dem Roman Monterey Bay von Lindsay Hatton (2016) treten Steinbeck und Ricketts als Haupt­fig­uren auf.

Über den Autor

John Steinbeck wird am 27. Februar 1902 im kali­for­nischen Salinas geboren. Er ist deutsch-irischer Abstammung. 1919 schreibt er sich an der Eli­te­u­ni­ver­sität Stanford in San Francisco für die Fächer Literatur und Jour­nal­is­mus ein, kann mit dem Stu­den­ten­leben aber nichts anfangen. Wichtiger sind ihm die Gele­gen­heit­sjobs, mit denen er sich sein Studium finanziert. Wie viele seiner späteren Ro­man­fig­uren arbeitet er als Farmer, auf Baustellen und in Fabriken. Um als freier Schrift­steller leben zu können, bricht er 1925 sein Studium ab und zieht nach New York, kehrt allerdings bald nach Kalifornien zurück. Seine ersten drei Romane werden von Kritik und Publikum ignoriert. Erst mit dem Schel­men­ro­man Tortilla Flat gelingt ihm 1935 der Durchbruch. Steinbeck ist in der Folge als Journalist tätig und beschreibt das Schicksal der Wan­der­ar­beiter während der Großen Depression. Seine Eindrücke aus dieser Zeit fließen in die beiden Romane Von Mäusen und Menschen (Of Mice and Men, 1937) und Früchte des Zorns (The Grapes of Wrath, 1939) ein. Letzterer wird zu einem gewaltigen Erfolg und macht Steinbeck vorübergehend zum bekan­ntesten Autor des Landes. Wegen der im Buch geäußerten Kap­i­tal­is­muskri­tik wird er aber von kon­ser­v­a­tiver Seite als Kommunist angefeindet. Während des Zweiten Weltkriegs ist er als Kriegsre­porter in Italien, in den Jahren danach reist er durch Europa, Nordafrika und Russland. Mit dem Roman Jenseits von Eden (East of Eden, 1952) landet er noch einmal einen großen Erfolg. Steinbeck, mit­tler­weile zum dritten Mal verheiratet, reist mit seinem Pudel Charley in einem umgebauten Kleinlaster durch die USA und schreibt darüber eine Ar­tikelserie, die er 1962 unter dem Titel Die Reise mit Charley (Travels with Charley) veröffentlicht. Im selben Jahr wird ihm der Nobelpreis für Literatur verliehen. Am 20. Dezember 1968 stirbt er in New York an Herzver­sagen.