Alte Führungsmethoden haben ausgedient
Mit Zuverlässigkeit, Exaktheit, Schnelligkeit, Gehorsam und Anpassung können die westlichen Industrieländer in der globalisierten Wirtschaft ihre Führungsposition nicht länger behaupten. Denn Produkte und Dienstleistungen, die im Wesentlichen auf diesen Sekundärtugenden basieren, bekommt man inzwischen auf dem Weltmarkt viel billiger als bei uns, weil sich nicht nur Produktionen, sondern auch viele Serviceleistungen mittlerweile problemlos auslagern lassen. Herkömmliche Organisationssysteme, die Führungsaufgaben mithilfe von „Tools“ in einen seelenlosen, vorwiegend von Zahlen gesteuerten Werkzeugkasten zerlegen, motivieren niemanden. Diese Systeme halten den Herausforderungen der Globalisierung und der Zukunft nicht stand.
Der Messwahn der Führungskräfte
Kennzahlensysteme zur Messung von Mitarbeiterleistungen, Balanced Scorecards und Benchmarking sind sehr beliebt. Der bürokratische Aufwand, der mit diesen Methoden betrieben wird, stellt einen erheblichen Kostenfaktor dar und bindet wertvolle Zeit und Arbeitskraft. Das Ergebnis sind Scheingenauigkeit und Demotivation. Scheingenauigkeit, weil die Zahlenwerke zu sehr von den konkreten Umständen abstrahieren, unter denen eine Leistung erbracht wurde, und oftmals Unvergleichbares in ein Verhältnis gebracht wird. Demotivation, weil solche Vorgaben nur noch zu „Dienst nach Kennzahl“ führen und nicht zu echtem Engagement in der Sache. Vor allem aber verwässern Kennzahlen das eigene Urteilsvermögen. Führungsaufgaben lassen sich nicht mechanisieren.
Misstrauen als Anreizinstrument
Wie steht es um Firmen, die strikte Arbeitszeitkontrollen und Boni sowie weitere Anreizsysteme brauchen, damit die Mitarbeiter ihre Leistung erbringen? Solche Unternehmen trauen ihren Mitarbeitern offensichtlich nicht zu, die Arbeit gerne und aus eigenem Antrieb zu tun. Sie haben ein Führungs- und Motivationsproblem. Die Anreizspirale führt dazu, dass nicht mehr die eigentliche Arbeitsleistung im Mittelpunkt steht, sondern interne Rangeleien um die „gerechte“ Verteilung der Anreize entstehen und das Anspruchsniveau immer höher geschraubt wird: „Müller bekommt mehr als ich, obwohl ich das Gleiche geleistet habe“. Und für die Arbeitszeitkontrolle gilt: Ist eine Stechuhr erst einmal eingerichtet, finden sich auch Wege, sie zu umgehen.
Mitarbeiterbeurteilung und -entwicklung
Zielvereinbarungsgespräche als Druckmittel, jährliche Beurteilungsrunden des Personals durch die Vorgesetzten, 360-Grad-Beurteilungen (die anonymisierte Beurteilung der Führungskraft durch Mitarbeiter, Kollegen und Vorgesetzte), Kundenbefragungen mit Notenerteilung – dieses ganze Beurteilungsarsenal mit seiner Scheingenauigkeit führt ebenfalls in die Sackgasse. Warum? Weil Beurteilungen immer unscharf und subjektiv sind; das liegt einfach in der Natur der Sache. Und auch der Reparaturzirkus, den Personalentwickler betreiben, ist nichts weiter als Zeit- und Geldverschwendung. Denn die für die Arbeitsleistung notwendigen Voraussetzungen wie Verantwortungsbewusstsein oder Kommunikationsfähigkeit müssen bereits vorgeprägt sein. Ist doch klar: Wer nicht lächeln und reden kann, kann kein Vertriebler werden. Da nutzt keine Personalentwicklungsmaßnahme der Welt.
Leitbilder und Handbücher
Kiloschwere Organisationshandbücher, Reisekostenverordnungen und dergleichen gehören in den Müll. Sie bringen keinen einzigen Kunden oder Auftrag und drücken nur das Misstrauen den Mitarbeitern gegenüber aus. Gleiches gilt für die Arbeitszeiterfassung. Stellenbeschreibungen sind bürokratisch-formalistisch, statisch und nicht an den sich ändernden Aufgaben orientiert. Sie vernachlässigen das tatsächliche Marktgeschehen, wo sich die Kunden und Konkurrenten tummeln, und sind daher schlicht irrelevant. Selbstverständlich gilt dies auch für all die Unternehmensleitbilder mit ihren wachsweichen Formulierungen und Allgemeinplätzen, die keinerlei Konsequenzen haben.
Die größten Talente auswählen
Gute Führung verzichtet auf all die genannten Instrumente. Fangen Sie damit an, Ihre besten Mitarbeiter sorgfältig auszuwählen. Vermeiden Sie grundlegende Fehler in diesem Auswahlprozess. Lassen Sie sich Zeit, gehen Sie nicht zu allgemein und schematisch vor. Pressen Sie den Bewerber nicht einseitig aus, sondern führen Sie ein Gespräch, entscheiden Sie rasch und vermeiden Sie falsche Anreize.
„Der Messwahn zerstört die individuelle Urteilskraft.“
Exzellente Mitarbeiter dürfen keine Mitläufer und Ja-Sager sein. Richten Sie Ihr Augenmerk weniger auf die vorhandenen Sachkenntnisse als vielmehr auf Führungsfähigkeiten, individuelle Stärken und Talente, die Fähigkeit zur Kommunikation und zur Zusammenarbeit. Außerdem müssen Sie bei der Mitarbeiterauswahl realistisch bleiben: Die ideale Kombination aus Oberst, Nobelpreisträger und Showmaster, wie sie fast in jeder Stellenanzeige gefordert wird, gibt es nicht.
„Benchmarking soll von der eigenen Ideenlosigkeit ablenken.“
Entscheiden Sie sich im Zweifel gegen einen Kandidaten und gehen Sie keine Kompromisse ein, nur um etwa eine Einstellungsvorgabe zu bedienen. Kein Orchester könnte es sich leisten, kompromisshalber inkompetente Musiker einzustellen. Suchen Sie so lange, bis Sie die richtigen Leute gefunden haben. Dabei müssen die Kompetenz und die zu erledigende Aufgabe im Mittelpunkt stehen, nicht die Stelle und ihre Definition.
„Niemand bewegt wirklich etwas mit ‚Dienst nach Kennzahl‘.“
Aufgrund der internationalen Arbeitsteilung in der globalisierten Wirtschaft wird es in Zukunft immer mehr darauf ankommen, das Individuelle, Mutige, Kreative und die Eigeninitiative zu fördern, weil sich nur so der Wettbewerbsvorsprung halten lässt. Diese Anforderungen setzen voraus, dass Sie die Einstellung eines Bewerbers erkennen, sein Verhalten, sein Verantwortungsgefühl. Exzellenten Mitarbeitern müssen Sie Spielräume zur Entfaltung und zur Eigenmotivation geben, indem Sie ihnen Freiraum bieten. Die Talente und Führungskräfte der Zukunft suchen bereits jetzt nach Tätigkeiten, die ihnen wirklich und direkt den Sinn ihres Tuns vermitteln – auf indirekte Anreizsysteme kommt es dann gar nicht mehr an. Ansonsten bekommen Sie eine Horde habgieriger Schnösel, die nur an ihren eigenen Vorteil denken, oder antriebslose Aussitzer, die nicht weiter auffallen und vor allem die Arbeitsplatzsicherheit im Auge haben.
Sich auf das Individuum konzentrieren
Ist der richtige Mitarbeiter gefunden, dann betrauen Sie ihn sofort mit einer konkreten Aufgabe, für die er die Verantwortung übernehmen soll. Das ist der Sinn der Probezeit. Das eigenverantwortliche Handeln muss in der Zukunft wieder verstärkt in den Mittelpunkt unternehmerischer Aktivitäten gerückt werden. Es erhöht die Motivation, die Gestaltungsspielräume und auch die Flexibilität, weil notfalls umgesteuert werden kann. Das Sozialisieren von Risiken ist eine typische Konsequenz des grassierenden Team-Unwesens und hat nicht nur in die Finanzkrise geführt, sondern wird auch noch zu einer wahren Systemkrise führen.
„Die typischen Anreiz- und Belohnungsinstrumente erinnern an Hundedressur.“
Indem Sie Aufgaben und Erwartungen konkret definieren und sie direkt und persönlich kommunizieren, übertragen Sie Verantwortung. Wenn Sie Teams bilden müssen, halten Sie diese klein und funktionsorientiert. Ordnen Sie die Verantwortung klar dem Teamleiter zu. Teams als Proporz- und Kuschelveranstaltungen lähmen den Betrieb.
Leistungsträger fördern
Eine erfolgreich bewältigte Aufgabe kann – muss aber nicht – eine Empfehlung für eine Beförderung sein. Vor allem wenn sich die neue Aufgabe stark von der alten unterscheidet, zählen die Erfolgsparameter der Vergangenheit wenig. Ein erfolgreicher Sachbearbeiter ist als Abteilungsleiter nicht unbedingt ebenfalls erfolgreich, weil er ganz andere Aufgaben hat. Auch die Beförderung bloß nach Zeitablauf ist nicht leistungsgerecht.
„Mitläufer müssen wir aussortieren.“
Beförderungen sollen der Effektivitätssteigerung (Qualität) dienen, nicht der Effizienzsteigerung (Quantität). Das erreichen Sie, indem Sie den Querdenker, den Ungenormten fördern – und befördern – anstelle des stromlinienförmigen Managers. Die im Wettbewerb notwendige Kreativität und Flexibilität erwachsen nicht daraus, alles genauso zu machen wie alle anderen oder wie der Vorgänger. Künstler fertigen auch keine Kopien ihrer eigenen Arbeiten. Allerdings erwächst auch Neues nicht notwendig daraus, als Neuer mit der Brechstange alles anders machen zu wollen.
„Ihre individuellen Stärken liegen dort, wo Ihnen etwas leichtfällt.“
Aufgabe der Führung ist es, Stärken zu stärken. Individuelle Stärken entdecken Sie am besten mit der Frage: „Was fällt Ihnen leicht?“ Stärken sind der beste Motivations- und Leistungsträger – bis hin zur Leidenschaft. Und Leidenschaften ziehen wirtschaftlichen Erfolg nach sich, nicht Lohnsklaverei.
Vertrauen und Verantwortung
Vertrauen und Verantwortung sind die Schlüsselbegriffe der Führung der Zukunft. Vertrauen können Sie nur in einem individuellen und durchaus risikobehafteten Prozess schaffen, nicht durch Reglementierung und Kontrolle. Vertrauen setzt Freiheiten und Wahlmöglichkeiten voraus, die Möglichkeit, eigene Entscheidungen zu treffen, ohne Einmischung von außen und Überfürsorglichkeit von oben. Das ist die stärkste Motivation zur Leistungs- und Ideenerbringung.
„Werden Sie nicht von der Führungskraft zur Fürsorgekraft.“
Die Kehrseite des Vertrauens ist die Verantwortung. Zur vertrauensvollen Zusammenarbeit gehören selbstverständlich das sachorientierte Arbeiten ohne Rollen- oder Ränkespiele, Machtdemonstrationen, Selbstinszenierungen, Eitelkeiten oder Statussymbole. Natürlich darf man nicht die Erfolge anderer für sich beanspruchen. Und man muss zuhören können: Wir haben zwei Ohren, aber nur einen Mund.
Begleiten und Feedback geben
Vertrauensvolle Zusammenarbeit erreichen Sie, wenn Sie Ihre Mitarbeiter einzeln begleiten, mit ihnen im Gespräch bleiben, Erfahrungen austauschen und Feedbacks geben („walk the talk“). So gleichen Sie ganz natürlich die gegenseitigen Erwartungen ab, ein Kernstück der begleitenden, vertrauensvollen Führung. Die Erwartung an den Mitarbeiter soll konkret sein (z. B. „Machen Sie XY zu einem wichtigen Kunden“ statt „Hängen Sie sich rein“), sie muss aber nicht unbedingt beziffert sein. Der Erwartungsabgleich vollzieht sich durchaus auf Augenhöhe. Antwort des Mitarbeiters: „OK, wenn Sie mir das und das zur Verfügung stellen.“
„Leidenschaften ziehen wirtschaftlichen Erfolg nach sich.“
Nennen Sie neben dem Ziel, dem „Was“, auch den Grund, das „Warum“. Die Mitarbeiter wollen den Sinn ihres Tuns verstehen. Auch das motiviert. Schrauben Sie Ihre Erwartungen nicht zu hoch, sondern bleiben Sie realistisch. Jede Führungsaufgabe ist eine Gratwanderung zwischen der Eröffnung von Gestaltungsspielräumen und der Orientierung an Vorgaben. Sie kann nur individuell und an der konkreten Aufgabe vollzogen werden, nicht mit pauschalen Systemen. Es kommt darauf an, die Mitarbeiter wirklich persönlich kennenzulernen, zu begleiten und ihnen substanzielles Feedback zu geben.
Dr. Torsten Schumacher hat Betriebswirtschaft in Mannheim und Köln studiert und einen MBA in Barcelona absolviert. Er hat in großen internationalen Beratungsfirmen gearbeitet, darunter als Partner und Geschäftsführer bei Accenture. 2009 hat sich Schumacher mit einer eigenen Beratungsfirma selbstständig gemacht. Er ist auch Autor des Buches Wenn du viel erreichen willst, tue wenig.