Ein Teufelskreis
Seit 2007 beherrscht ein Thema Welt: die Finanz- und Wirtschaftskrise. Nicht dass es die erste Krise in der Geschichte der Menschheit wäre, und auch die schlimmste ist es noch nicht. Aber um eine besondere Situation handelt es sich zweifellos. Denn schuld sind weder ein schlechter Dollarkurs noch billige Marktteilnehmer aus anderen Ländern.
„Wenn die Umsätze um 30 oder 40 % einbrechen, geht es um das blanke Überleben.“
Vielmehr besteht die Krise zu einem großen Teil darin, dass die Kunden einfach nicht mehr kaufen. Ergebnis: Die Absatzmengen und die Umsätze sind eingebrochen. Und das in fast allen Branchen. Das Ausmaß der Krise ist also äußerst umfassend. In Deutschland und Europa wurde alles, was man in der Industrieproduktion seit 2004 aufgebaut hatte, innerhalb von sechs Monaten vernichtet. Nicht ganz unerwartet: Es wäre utopisch gewesen, anzunehmen, dass es immer weiter so steil aufwärtsgehen würde wie in den Jahren zuvor oder dass sich das hohe Niveau wenigstens halten ließe.
„Das Problem liegt nicht nur in der Krise, sondern auch in der Wahrnehmung und im Umgang mit ihr.“
Die Krise kam also nicht überraschend. Sie ist die langfristige Folge einer falschen Geldpolitik seit den 1970er Jahren unter US-Präsident Nixon. Jede Krise, die die USA seither hatte, wurde mit einer noch größeren Geldmenge und noch niedrigeren Zinsen bekämpft. Die Folge davon war die Subprime-Krise, die langsam begann und immer schneller andere Länder mit in den Strudel riss.
„Angesichts der katastrophalen Umsatzeinbrüche haben Kostensenkungen in der Krise oberste Priorität.“
Die Verweigerung der Käufer ist verständlich: Sie wollen ihr Geld nicht ausgeben, weil sie befürchten, es künftig dringend zu brauchen. Schließlich haben viele durch die Achterbahnfahrt an den Börsen große Summen verloren. Wer jetzt Geld spart, baut für die Zukunft vor, so scheint die Devise zu lauten. Darum wird der Kauf von Produkten und Dienstleistungen, die man nicht sofort benötigt, verschoben. Und was man eigentlich nicht braucht, sondern nur gerne hätte, wird entweder gar nicht mehr oder nur in einer Billigvariante gekauft.
„Die Absatzkrise bedeutet, dass man zum gleichen Preis weniger verkauft. Sie bedeutet aber keineswegs, dass sich zu einem niedrigeren Preis die gleiche Menge wie bisher absetzen lässt.“
Die Folgen für die Unternehmen sind dramatisch: Kaufen die Bürger beispielsweise keine Autos, so bekommen auch die Zulieferer der Autoindustrie keine Aufträge. Diese wiederum kaufen dann keine Maschinen, Rohstoffe oder Zwischenprodukte ein. So pflanzt sich die Krise fort, bis schließlich Leute entlassen werden. Und die haben dann weniger Geld zur Verfügung, der Konsum geht weiter zurück – ein Teufelskreis.
Gewinner und Verlierer
Niemand weiß, wann diese Krise zu Ende ist und wie sie weiter verlaufen wird. Folgt auf den Absturz ein steiler Anstieg? Wird es einen Bodensatz geben und dann eine langsame Erholung? Oder wird lange gar kein Anstieg erkennbar sein? Was wenn der Absatzeinbruch über Jahre anhält? In die Kristallkugel kann niemand schauen. Einige Gewissheiten gibt es dennoch.
- Sicher ist z. B., dass Restaurants und alle anderen Betriebe, die Essen außer Haus anbieten, Krisenverlierer sind. Derzeit isst man lieber billiger zu Hause.
- Nicht klagen kann die Bildungsbranche: Sie hat in Krisenzeiten Zuwachs, weil junge Menschen mit schlechten Jobaussichten jetzt lieber länger oder zusätzlich studieren oder sich anderweitig ausbilden.
- Auch Fahrradhändler, Baumärkte oder Billigwerkstätten laufen zurzeit gut, denn Sparzwänge führen dazu, das Auto öfter stehen zu lassen oder selbst als Heimwerker aktiv zu werden.
- Lebensmittelhersteller, Energielieferanten und Telekom-Dienstleister müssen sich ebenfalls wenig Sorgen machen: Was zum täglichen Leben gehört, wird gekauft, solange es möglich ist.
- Zwiespältig ist die Situation bei den Finanzdienstleistern: Sichere Produkte wie Bundesanleihen sind gefragt, Zertifikate und Fonds dagegen gelten derzeit als eher riskant und komplex und werden kaum noch gekauft.
- Auch Hersteller von Industriegütern ohne so genannten Aftermarket tun sich schwer: Ohne Autos gibt es z. B. keine Bestellung von Autoaußenspiegeln.
- Schwierig ist die Lage auch in der Gesundheits- und Kommunikationsbranche sowie im Tourismus. Dort werden günstigere Produkte jetzt bevorzugt.
- Richtig hart getroffen hat es die Bauindustrie und die Autoindustrie. Letztere reduzierte zwar schnell Kosten und Kapazitäten, doch damit ist es nicht getan: Man hätte gleichzeitig mehr Marketing machen und den Vertrieb zusätzlich ankurbeln müssen.
Wie schlimm ist die Krise?
Erstaunlich: Schrumpft das Bruttoinlandsprodukt um 2–5 %, so liegt es etwa auf der Höhe von 2005/06. Damals hat jedoch niemand von einer Krise gesprochen. 2008 lagen die deutschen Warenexporte um 32 % höher als 2006. Im Vergleich zu 2005 waren es sogar über 50 %. Das Problem bei solchen Statistiken: Wenn das Bruttoinlandsprodukt beispielsweise um 5 % sinkt, gibt es Branchen, die 20 % Wachstum haben, und andere, die um 24 % einbrechen. Die Folgen für die Letztgenannten sind natürlich gravierend: Sind die Mitarbeiter nicht ausgelastet, gibt es Kurzarbeit. Produkte, die nicht verkauft werden, stapeln sich in den Lagerhallen. Preisdruck entsteht, weil die Kunden weniger zahlen wollen und die Konkurrenz nachgibt. Zum Umsatzeinbruch kommt verstärkend hinzu, dass die Banken derzeit nur ungern Kredite verleihen. Für Unternehmer heißt das im Klartext: Bei Umsatzeinbrüchen um 40 % sind Kostensenkungen notwendig, aber allein nicht ausreichend. Das hat sich bei der Automobilindustrie gezeigt. Zweites Problem: Wer jetzt rationalisiert, wird die Auswirkungen erst einige Zeit später bemerken. Vielleicht zu spät. Gefragt sind darum Maßnahmen, die sofort greifen.
Wie können Unternehmen sofort sparen?
Multipliziert man die Absatzmenge mit dem Preis, erhält man den Umsatz. Zieht man davon die Kosten ab, bleibt der Gewinn übrig. Das heißt, es gibt genau drei Faktoren, an denen Sie arbeiten können, um eine sofortige Wirkung zu erzielen: Kosten, Absatzmenge und Preis. In der Krise muss man also scharf rechnen können. Ein Beispiel: 10 000 Mitarbeiter, die an fünf Tagen in der Woche acht Stunden arbeiten und 25 € pro Stunde bekommen, führen zu einer wöchentlichen Lohnsumme von zehn Millionen Euro. Bricht der Umsatz um 20 % ein, können nur noch acht Millionen pro Woche ausgegeben werden. Das heißt, es müssen 2000 Mitarbeiter entlassen werden – oder man kürzt den Stundenlohn um 5 € auf 20 €. Alternativ kann man auch die Arbeitszeit auf 6,4 Stunden am Tag heruntersetzen oder die Belegschaft nur noch an vier statt an fünf Tagen arbeiten lassen. Alle vier Maßnahmen führen zur gewünschten Einsparung von zwei Millionen Euro.
„Zum ersten Mal sind wir, die Kinder der Nachkriegszeit, herausgefordert, mit allen Kräften gegen eine Jahrhundertkrise zu kämpfen.“
Allerdings hat sich gezeigt, dass eine Kombination mehrerer Maßnahmen deutlich sinnvoller ist als Einzellösungen. Besonders wirkungsvoll ist es, wenn Sie als Arbeitgeber mit Ihrer Belegschaft langfristig planen und beispielsweise flexible Arbeitszeitregelungen einführen. So hat der Landmaschinenhersteller Claas schon vor Längerem eine Wochenarbeitszeit von 24–51 Stunden vereinbart. Mit solchen Regeln lässt sich deutlich flexibler auf eine Krise reagieren.
Kreativität ist gefragt
Wer in der Krise Geschäfte machen will, muss sich etwas einfallen lassen. So wie beispielsweise Hyundai. Der Autohersteller bietet in den USA an, dass Käufer, die arbeitslos werden und somit ihr Einkommen verlieren, den finanzierten oder geleasten Wagen zurückgeben können. Ein ähnliches Modell ist für Maschinenbauer sinnvoll, deren Produkte häufig teuer sind: Wenn sie ihre Maschinen nicht verkaufen, können sie sie verleihen. Das baut die Lager ab und bringt immerhin monatliche Einnahmen. Zusätzlicher Pluspunkt: einen Wartungsservice für die Maschinen anbieten und damit einen Aftermarket erzeugen.
„In jedem Fall sind Vertriebseinsätze unterbeschäftigter Innendienstler sinnvoller als unproduktives Herumsitzen im Betrieb.“
Dem Kunden können Sie auch mit Finanzierungshilfen entgegenkommen. Die Messe Frankfurt z. B. räumt verlängerte Zahlungsziele ein, akzeptiert Teilzahlungen oder verzichtet auf Zusatzleistungen. Der Vorteil: Man muss keine Gewinneinbußen durch Preisnachlässe hinnehmen und bietet Kunden mit angespanntem Budget einen besonderen Service. Ähnliche Wege geht der Heizungshersteller Vaillant in den USA: Kunden können die neue Heizung mit dem Geld bezahlen, das durch die so erzielte Energieeinsparung übrig bleibt.
„Erhöhen Sie ausgewählte Preise unter dem Radar der Kunden!“
In Krisenzeiten kann es auch helfen, den Vertrieb zu stärken. Sind Teile der Belegschaft unterbeschäftigt, gibt es zwei Ansatzpunkte: Innendienstler können sich im Außendienst versuchen – das hat bei einem Designmöbelhersteller Erfolge gebracht. Oder unterbeschäftigte Mitarbeiter könnten die Vertriebsexperten chauffieren. Das hat den Vorteil, dass diese ausgeruht beim Kunden ankommen und ggf. die Fahrt dorthin sogar noch zur intensiveren Vorbereitung nutzen können. Möglicherweise hat dies wiederum Auswirkungen auf die Zahl der Geschäftsabschlüsse. Mit viel Fahrerei hat auch die Lösung eines kleinen Bauunternehmens aus der Eifel zu tun: Es dehnte seinen Einsatzradius aus und zog so mehrere Aufträge an Land. Nun fahren die Arbeitnehmer zwar täglich weit, müssen aber nicht entlassen werden.
„Niemand kann heute sagen, welchen Verlauf die Krise nimmt, wie lange sie dauern wird und was nach ihr kommt.“
Eine andere Möglichkeit: Zubehör verkaufen. Das tun die Mitarbeiter eines Foto- und Videohandels in München. Sie haben eine Checkliste erarbeitet, die anzeigt, was ein Kunde noch benötigt, wenn er ein neues Gerät kauft. Dieses Zubehör wird jetzt strategisch angeboten. Folge: Durch die Nebenprodukte konnte der Absatz deutlich gesteigert werden. Ähnlich funktioniert die selektive Preiserhöhung von Ryanair: Der Billigflieger setzte bereits vor längerer Zeit durch, dass Passagiere eine erhöhte Gepäckgebühr bezahlen müssen. Damit lässt sich zusätzlicher Gewinn erzielen: Lag die Gebühr 2006 noch bei 3,50 € pro Gepäckstück, beträgt sie heute 10 €.
Niedrige Preise helfen selten weiter
Zu Preisnachlässen gibt es häufig sinnvollere Alternativen. Ein Beispiel: Ein Produkt kostet 10 000 €. Ein Kunde kauft fünf und bekommt das sechste gratis dazu. Das entspricht einem Preisnachlass von 16,7 %. Gäbe der Händler diesen Preisnachlass direkt auf die 50 000 €, bekäme er nur 41 650 € überwiesen und hätte überdies ein Gerät mehr im Lager stehen. Außerdem ließe sich der Preis nach der Krise nur schwer wieder erhöhen. Das Ganze gilt natürlich auch für niedrigere Preise. Bekommt der Kunde etwas geschenkt, nimmt er den Kaufpreis des Gratisprodukts wahr, beispielsweise 100 €. Den Verkäufer hat das Stück aber nur 60 € gekostet. Gäbe er dem Kunden direkt 100 € Rabatt, würde ihn das 40 € mehr kosten. Wer einfach den Preis für den Kunden senkt, zahlt also am Ende drauf. Denn nur weil der Preis niedriger ist, heißt das noch nicht, dass Sie die gleiche Menge wie früher oder sogar mehr verkaufen werden. Trotzdem können Preisnachlässe in einigen Situationen sinnvoll sein. Wenn Sie sich dafür entscheiden, sollten Sie das richtig kommunizieren. Schließlich müssen Sie deutlich mehr Ware verkaufen, um bei niedrigeren Preisen den Gewinn stabil zu halten.
Die Krise weitergedacht
Die Krise ist eine Absatzkrise, doch sie ist auch mehr als das: Sie führt zu sozialen Spannungen innerhalb der einzelnen Länder und schließlich auch zwischen ihnen, beispielsweise zwischen Ost und West. So steigt die Nachfrage nach Sicherheitsprodukten derzeit – genauso wie die Diebstähle in den Unternehmen. Wie es weitergeht, weiß niemand. Wird es Deflation oder Inflation geben? Eine Währungsreform oder eine Rückkehr zum Goldstandard? Die jeweiligen Folgen würden sehr unterschiedlich sein. Was an der Krise gut ist: Sie bereinigt den Markt. Das ist natürlich nicht zum Vorteil aller. Machen Sie das Beste daraus!
Prof. Dr. Hermann Simon ist Vorsitzender der Unternehmensberatung Simon-Kucher & Partners. Er ist auch Autor der Bücher Hidden Champions des 21. Jahrhunderts, Der gewinnorientierte Manager und Unternehmenskultur und Strategie.