Keynes für jedermann

Buch Keynes für jedermann

Die Renaissance des Krisenökonomen

Frankfurter Allgemeine Buch,


Rezension

Kaum eine Zeitung, die in Krisen­zeiten nicht die Rückkehr des Key­ne­sian­is­mus her­auf­beschwört, kaum eine Regierung, die auf Anleihen bei dem um­strit­te­nen Ökonomen verzichtet. Mehr als 60 Jahre nach seinem Tod feiert John Maynard Keynes eine Wieder­aufer­ste­hung, die Fragen aufwirft: Wer war dieser Mann? Was hat er gelehrt? Inwiefern lässt sich seine Theorie in die Gegenwart übertragen? FAZ-Fi­nanzspezial­ist Gerald Braunberger beantwortet diese Fragen, und dies ausführlich und ausgewogen. Er schreibt frisch und lebendig, und was er im Sinn hat, ist Information, nicht Polemik. Braunberger nimmt Keynes zwar immer wieder gegen politischen Missbrauch und verbreitete Fehlin­ter­pre­ta­tio­nen in Schutz, verzichtet aber weitgehend darauf, aus den Lehren der 30er Jahre endgültige Schlüsse für die aktuelle Krise zu ziehen. BooksInShort meint: eine Pflichtlektüre für alle Entscheider in Politik und Wirtschaft, die endlich wissen wollen, was Keynes tatsächlich gesagt hat.

Take-aways

  • Als Großbritannien in den 1930er Jahren in wirtschaftliche Schwierigkeiten geriet, hin­ter­fragte John Maynard Keynes die geltenden ökonomischen Lehren.
  • Er stellte fest, dass Erwartungen und Un­sicher­heiten für drastische Schwankun­gen der In­vesti­tionstätigkeit ve­r­ant­wortlich sind.
  • In Krisen­zeiten wird Geld gehortet statt ausgegeben, wodurch die In­vesti­tio­nen gesenkt werden (Sparpara­doxon).
  • Nach Keynes sollen Zinssenkun­gen die In­vesti­tionstätigkeit ankurbeln.
  • In der Nachkriegszeit wurde Keynes’ Lehre allgemein anerkannt.
  • Die kon­junk­tur­poli­tisch wirkungslosen finanz- und geld­poli­tis­chen Exzesse der Industrieländer in den 1970er Jahren schienen die Theorie aber zu widerlegen.
  • Tatsächlich gehen viele Ideen, die in Keynes’ Namen umgesetzt wurden, gar nicht auf ihn zurück oder wurden missbräuchlich in­ter­pretiert.
  • Dem Prinzip des Deficit Spending (schulden­fi­nanzierte Ausweitung der Staat­saus­gaben) stand er selbst skeptisch gegenüber.
  • Keynes propagierte keine hohen In­fla­tion­sraten oder hohe Löhne zur Kon­junk­tu­rankurbelung.
  • Er trat aber für einen „gemanagten“ Kap­i­tal­is­mus anstelle eines „Laisser-faire-Kap­i­tal­is­mus“ ein.
 

Zusammenfassung

Wieder­aufer­ste­hung eines Ökonomen

Mit Blick auf die Politiker schrieb John Maynard Keynes einmal: „Praktiker, die sich ganz frei von in­tellek­tuellen Einflüssen glauben, sind gewöhnlich die Sklaven irgendeines verblich­enen Ökonomen.“ Jetzt, in Zeiten der globalen Wirtschaft­skrise, sind die Praktiker dieser Welt vor allem Sklaven eines einzigen Ökonomen – nämlich von Keynes. Der 1946 verstorbene Brite, dessen Lehren viele bereits als veraltet angesehen haben, erlebt ein großes Comeback, und das nicht nur in akademis­chen Schreib­stuben. Zahlreiche Politiker entdecken seine Werke neu und befolgen seine Hand­lungsempfehlun­gen. Keynes entwickelte seine Ideen zur Wirtschaft­sankurbelung vor dem Hintergrund des britischen Niedergangs nach dem Ersten Weltkrieg und der Großen Depression der 1930er Jahre und gilt daher als der Krisenökonom schlechthin.

Keynes in Cambridge

John Maynard Keynes wurde 1883 in der englischen Universitätsstadt Cambridge geboren. Sein Vater lehrte dort Politische Ökonomie. Keynes’ sozial engagierte Mutter war die erste Bürg­er­meis­terin der Stadt. Das elitäre und sozial­lib­erale Elternhaus färbte auf ihn ab.

„Die Bere­itwilligkeit, mit der selbst jahrzehn­te­lange ‚Anti-Key­ne­sianer‘ in der aktuellen Krise eine Wirtschaft­spoli­tik vertreten, die sich mit dem Namen des Briten verbindet, ist be­merkenswert.“

An der Eliteschule Eton und später am renom­mierten King’s College reizte ihn das Debattieren; Philosophie lag ihm mehr als Mathematik. Statt einer akademis­chen Karriere wählte er zunächst den Staats­di­enst, womit er allerdings un­ter­fordert war. Als er seine Dok­torar­beit zur Wahrschein­lichkeit­s­the­o­rie einreichte, erhielt er von der Universität ein Stel­lenange­bot. Obwohl er nur während weniger Wochen Ökonomievor­lesun­gen besucht hatte, sollte er nun selbst welche halten. So wurde er Dozent in der noch jungen Disziplin und blieb dies viele Jahre. Gle­ichzeitig arbeitete er als Vermögensver­wal­ter, Publizist und Berater der britischen Regierung.

Regierungsver­ant­wor­tung

Während des Ersten Weltkriegs berief die britische Regierung Keynes ins Schatzamt. Sein Interesse für Geldpolitik und Währungs­fra­gen zahlte sich hier aus, und seine guten Um­gangs­for­men führten ihn nach Feierabend in höchste Londoner Kreise. Keynes’ Karriere nahm keinen Schaden, als er sich aufgrund seiner liberalen Auf­fas­sun­gen gegen die 1916 eingeführte Wehrpflicht stellte. Als Regierungs­ber­ater drohte ihm zwar keine Einberufung, wohl aber seinen Freunden aus der Künstlerszene im Londoner Stadtteil Bloomsbury.

„Da er politischen Extremismus ablehnte, sah er die einzige Möglichkeit in einem nach wie vor mark­twirtschaftlichen System, das aber einer Prise staatlichen Managements bedurfte, um zu überleben.“

Bei den Friedensver­hand­lun­gen in Versailles, an denen er teilnahm, befürwortete er Repa­ra­tio­nen von Deutschland, wollte aber den Ruin des Kriegsver­lier­ers vermeiden. Von der kurzsichti­gen Rachsucht der Sieger erschüttert, verließ er die britische Delegation und schrieb ein viel beachtetes Buch über die Fehler des Versailler Vertrags – und die Risiken, die ein ökonomisch geknebeltes Deutschland mit sich bringe.

Künst­lerisches Interesse und ruinöse Arbeitswut

Der streitbare Zwei-Me­ter-Mann Keynes beein­druckte auch mit seiner sprach­lichen Gewandtheit. Er konnte seine Mitmenschen sowohl charmant umschwärmen als auch bissig schmähen. Allerdings zeigte er sich mit seinen veröffentlichten Ansichten immer wieder als Opportunist und zog damit das Interesse von Karika­tur­is­ten auf sich. In seiner Studienzeit hatte Keynes ho­mo­sex­uelle Beziehungen, bis er schließlich an Frauen Geschmack fand und 1925 eine russische Tänzerin heiratete. In London pflegte er Kontakte zu vielen Künstlern und ließ sich von deren Gedanken bee­in­flussen.

„Das ist eine nicht überall bekannte Eigentümlichkeit seiner Laufbahn: Keynes wurde einer der ein­flussre­ich­sten Ökonomen aller Zeiten, aber er war niemals Professor.“

Seine Gesundheit litt unter seiner Arbeitswut: Nach einem Zusam­men­bruch 1937 erholte er sich nie mehr vollständig, blieb aber deswegen nicht untätig. Er widmete sich dem Landleben und arbeitete, als der Zweite Weltkrieg ausbrach, wieder für die britische Regierung. So verhandelte er z. B. mit den USA über die Konditionen der fi­nanziellen Hilfen für Großbritannien. 1942 wurde er auf Churchills Vorschlag als Lord geadelt. Als er 62-jährig nach einem Herzanfall starb, verstreute sein Bruder die Asche in der Landschaft, statt Keynes’ Wunsch nach einer Beisetzung in einer Kapelle an der Uni Cambridge zu folgen. Der Grund dafür ist unklar.

Ökonomisches Hauptwerk mit 52 Jahren

Viele Ökonomen beginnen ihre berufliche Laufbahn mit the­o­retis­cher Arbeit und erwerben sich akademische Meriten, ehe sie – wenn überhaupt – als Berater oder Unternehmer Geld verdienen. Bei Keynes war es andersherum: Er begann als Praktiker und entwickelte erst relativ spät seine Theorien. Das erklärt einige Brüche zwischen seinen frühen, wirtschaft­slib­eralen Ansichten und den späteren – und weitaus bekannteren –, die er in seinem Stan­dard­w­erk Allgemeine Theorie der Beschäftigung, des Zinses und des Geldes vertritt. Als das Buch erschien, war er bereits 52 Jahre alt.

Die Ker­naus­sagen von Keynes’ Allgemeiner Theorie

Keynes’ Werk ist anfällig für vielfältige In­ter­pre­ta­tio­nen – un­ter­schiedliche Sichtweisen können sich durch Keynes bestätigt fühlen. Einige zentrale Punkte:

  1. Kap­i­tal­is­mus: Keynes war kein Kap­i­tal­is­mus­geg­ner. Seine Vorstellung von Mark­twirtschaft war aber eine andere als die von Laisser-faire-Ökonomen. Wie diese fürchtete er zwar einen allmächtigen Staat, teilte jedoch nicht den gren­zen­losen Glauben an die Selb­s­theilungskräfte des Marktes. Marx und die sowjetische Wirk­lichkeit schreckten ihn ab – Letztere lernte er auf seiner Hochzeit­sreise selbst kennen. Statt Sozialismus befürwortete er einen staatlich „gemanagten“ Kap­i­tal­is­mus.
  2. Erwartungen und Un­sicher­heiten: Sie spielen bei Keynes – anders als in der klassischen Ökonomik – eine große Rolle, da er erkannte, dass sie zu schweren Krisen führen können. Um ein entsprechen­des Risiko zu minimieren, hielt Keynes eine staatliche Kon­junk­tur­poli­tik für nötig, die – ebenfalls eine Neuerung – nicht nur die Ange­bots­seite einer Volk­swirtschaft, sondern auch die Nachfrage im Auge behielt. Das heißt: Der Staat soll investieren und somit für Wachstum sorgen, wenn die private Wirtschaft in Pessimismus verharrt.
  3. Staatlicher In­ter­ven­tion­is­mus: Keynes wandte sich vom Say’schen Theorem ab, nach dem sich jedes Angebot seine Nachfrage schafft. Die Große Depression lehrte Keynes, dass dieses Gesetz in der Geld­wirtschaft nicht automatisch gilt: In Krisen­zeiten fangen die Menschen an, Bargeld zu horten. Diese steigende Sparneigung kann In­vesti­tio­nen senken, statt sie zu erhöhen (Sparpara­doxon). Mit geld­poli­tis­chen Maßnahmen wie Zinssenkun­gen lassen sich Angebot und Nachfrage bee­in­flussen.
  4. In­vesti­tio­nen: Ihnen weist Keynes eine zentrale Rolle für die Volk­swirtschaft zu, da sie eine Mul­ti­p­lika­tor­wirkung haben: Mit jeder Investition steigt das Brut­toin­land­spro­dukt (BIP) um einen höheren Betrag als nur um die Höhe der Investition. Das gilt leider auch umgekehrt: Das BIP schrumpft überpro­por­tional, wenn die In­vesti­tio­nen einbrechen.
  5. Pla­nungs­fehler und Missbrauch: Keynes war sich durchaus bewusst, dass staatliche Macht fehlerhaft sein oder missbräuchlich genutzt werden kann. Im Gegensatz zu vielen Kritikern, unter ihnen der öster­re­ichis­che Ökonom Friedrich August von Hayek, hielt er diese Gefahr aber für be­herrschbar. Er stellte sich nämlich ve­r­ant­wor­tungs­be­wusste liberale Politiker und kluge Berater an den Schalt­stellen der Macht vor – nicht in­ter­ven­tions­freudige Linkspop­ulis­ten, die am liebsten eine Gle­ichverteilung der Einkommen erzwingen würden. Keynes befürwortete moderate Steuersätze von höchstens 25 % und ungleiche, leis­tungs­fre­undliche Einkommen.
  6. Deficit Spending: Der schulden­fi­nanzierten Ausweitung der Staat­saus­gaben zur Kon­junk­tu­rankurbelung, einem Konzept seines Jüngers Abba Lerner, stand Keynes skeptisch gegenüber. Er betrachtete die Idee nicht als prax­is­tauglich.
  7. Löhne: Viele Gew­erkschafter berufen sich auf Keynes, wenn sie hohe Löhne fordern. Doch sie unterliegen damit einer Fehlin­ter­pre­ta­tion. Bei Keynes findet sich das so genannte Kaufkraftar­gu­ment nicht, demzufolge hohe Löhne mehr Konsum, mehr In­vesti­tio­nen und damit ein Sinken der Ar­beit­slosigkeit bewirken. Wie die Klassiker glaubt Keynes daran, dass Lohn­steigerun­gen in Krisen Arbeitsplätze vernichten.

Kritiker halten Keynes nicht auf

Die Kritik an Keynes’ makroökonomischer Theorie ist vielfältig: Diese sei kurzfristig orientiert, unvollständig und vernachlässige Ange­bots­be­din­gun­gen. An der London School of Economics agitierte Friedrich August von Hayek als in­tellek­tueller Gegner Keynes’. Dies stand einer Fre­und­schaft der beiden aber nicht im Weg.

„Die ide­olo­gielastige The­o­rieferne wäre ihm ebenso fremd gewesen wie die Mod­ellschreinerei der modernen Makroökonomik.“

Die Debatte machte Keynes populär, auch unter Hayeks Studenten. Manche Autoren schreiben es der Wirkung von Keynes’ Lehren zu, dass der Durchmarsch des Marxismus im Westen aufgehalten wurde.

Keynes konnte noch miterleben, wie einige seiner Ideen zur Welt­fi­nan­zar­chitek­tur in die Tat umgesetzt wurden, wenn auch nicht eins zu eins: Er leitete einen Ausschuss auf der Bret­ton-Woods-Kon­ferenz, auf der 1944 die Weichen für die Nachkriegswährung­sor­d­nung gestellt wurden. Zudem verfolgte er 1946 die Gründung des In­ter­na­tionalen Währungsfonds und der Weltbank persönlich mit, die – zumindest teilweise – auf seiner Initiative beruhen.

Keynes in den USA, Deutschland und der Schweiz

In der Nachkriegszeit wurde eine an­tizyk­lis­che Geld- und Fi­nanzpoli­tik in westlichen Ländern zur Regel. Erst in den 1970er Jahren kamen Zweifel daran auf. Die staatlichen Defizite und die In­fla­tion­sraten wuchsen und wuchsen, ohne Wachstum zu erzeugen. Das damalige Versagen der Wirtschaft­spoli­tik ist allerdings nicht Keynes anzulasten. Die weltweite Verbreitung seiner Ideen beruhte u. a. auf der so genannten „neok­las­sis­chen Synthese“, die klassische mikroökonomische Annahmen mit Keynes’ Makroökonomik verknüpfte. Letztere sollte im Fall einer Störung des Gle­ichgewichts sozusagen wieder Schwung in den Laden bringen. Die steigende Rechen­leis­tung von Computern verleitete die Politik dazu, das geld- und fi­nanzpoli­tis­che In­stru­men­tar­ium nicht nur im Krisenfall, sondern auch zur Fein­justierung einzusetzen – eine eklatante Selbstüberschätzung.

„Der Key­ne­sian­is­mus zeigt eine be­merkenswerte Überlebensfähigkeit.“

In Deutschland fand das key­ne­sian­is­che Gedankengut während der 60er Jahre Eingang in die Wirtschaft­spoli­tik, u. a. durch das Stabilitäts- und Wach­s­tums­ge­setz. In der Schweiz gibt es mit dem Artikel 100 der Bun­desver­fas­sung einen Kon­junk­tu­rar­tikel, der in Krisen eine expansive Fi­nanzpoli­tik gestattet. Allerdings ist deren Wirksamkeit in dem kleinen, offenen Land begrenzt; der Effekt verliert sich schnell im Ausland. Von den 1980er Jahren bis zur aktuellen Krise lösten andere Ökonomen Keynes’ Vorherrschaft ab, so die Mon­e­taris­ten um Milton Friedman in den USA.

Keynes heute

Für mark­twirtschaftliche Demokratien besteht auch in der Krise Grund zum Optimismus – wenn angepackt statt zugesehen wird. Die Erholungsfähigkeit der Märkte ist enorm, erst recht wenn der Staat in unsicheren Zeiten in die Bresche springt und durch billiges Geld und erhöhte Staat­saus­gaben Vertrauen schafft. Unter Un­sicher­heit neigen die Menschen sonst dazu, ihre Erwartungen an den Status quo zu klammern, also die Möglichkeit drastischer Veränderungen zu ignorieren. Mangels sachlicher In­for­ma­tio­nen orientieren sie sich an anderen und folgen dem Herdentrieb – oder ihren eigenen Instinkten, ihren „animal spirits“, wie Keynes es ausdrückte. Der Mensch ist kein Homo oeconomicus, und die Wirtschaftswis­senschaft sollte nicht nur aus Mathematik bestehen. Dass die Ökonomen­zunft in der Vorhersage der aktuellen Finanzkrise versagt hat, beruht auf der von Keynes beklagten Praxisferne.

Über den Autor

Gerald Braunberger leitet das Fi­nanz­mark­tres­sort der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Der Volkswirt ist Autor und Mither­aus­ge­ber mehrerer Wirtschaftsbücher, u. a. Airbus gegen Boeing.