Der psychologische Arbeitsvertrag
Bevor Sie an Ihrem neuen Arbeitsplatz das erste Mal den Computer hochfahren, wissen Sie scheinbar alles, was künftig wichtig sein wird: wie viele Tage Sie urlaubsbedingt die Beine hochlegen dürfen, welches Gehalt regelmäßig auf Ihr Konto überwiesen wird, welche Sekretärin Ihnen den Kaffee kocht und wie groß Ihr Büro sein wird. Was aber nirgends steht, sind die Erwartungen, die Sie an Ihren Chef haben, und jene, die er an Sie hat. Das ist brisant, denn: Wenn einer von ihnen diesen geheimen Wunschkatalog, den so genannten psychologischen Arbeitsvertrag, nicht erfüllt, wird der andere instinktiv nachziehen, und schon wabert Unzufriedenheit durch die Gänge. Der Arbeitsalltagsärger ist meist hausgemacht. Wo Chef und Mitarbeiter frustfrei miteinander klarkommen möchten, braucht es eine neue Sichtweise, und zwar die der jeweils anderen Position. Solange Ihnen egal ist, was der andere denkt oder erwartet und welche Motive es für sein Handeln gibt, bleibt die glückliche Chef-Mitarbeiter-Beziehung Utopie. Überlegen Sie mal: Sie verbringen eine Menge Zeit mit dem anderen. Da ist es doch von Vorteil, wenn die gegenseitigen Erwartungen kein Buch mit sieben Siegeln sind, sondern eine Gebrauchsanleitung für Friede, Freude und Gerechtigkeit. Ein Schritt in diese Richtung sind die folgenden zehn Gebote:
1. Gebot: Geben und nehmen
Viele fühlen sich im Arbeitsleben ungerecht behandelt. Die Mitarbeiter, weil ihr Chef nur mit Mehrarbeit, Kritik und Desinteresse auf sie zukommt, nicht aber wegen Lob, freundlichem Small Talk oder einer Gehaltserhöhung. Und die Chefs, weil ihre Angestellten sich nie für ihr pünktliches Gehalt bedanken, weil sie Abteilungsziele ignorieren, den Firmencomputer als privaten Chatroom nutzen und stapelweise Kopierpapier mit nach Hause schleppen – ohne je einen Gedanken daran zu verschwenden, wie der Chef das alles stemmen muss und unter welchem Druck er mit seiner Firma steht. Jeder empfindet die Situation als ungerecht. Seine eigene natürlich.
„Die gegenseitigen Erwartungen hängen einfach lautlos im Raum.“
Der Knackpunkt schlechthin ist das Gehalt. Dem Mitarbeiter ist es zu wenig, dem Chef zu viel. Die Arbeitnehmer halten sich in der Regel für unglaublich unentbehrlich, wogegen den meisten Chefs nur die „High Potentials“ ihr Geld wert sind. Gerechtigkeit sieht anders aus, und zwar auf beiden Seiten. Es wäre nur fair, die Gehälter offenzulegen und entsprechend zu interpretieren: „A kriegt mehr als B, weil …“ Eine gerechte Bezahlung durch den Brötchengeber bedingt aber auch eine gerechte Arbeitsleistung seitens der Beschäftigten: Während der Arbeit wird gearbeitet – nicht gesurft, nicht privat telefoniert, nicht gebummelt. Gegenseitige Gerechtigkeit ist das erste der zehn Gebote für den Joballtag.
2. Gebot: Teilen und herrschen
Das zweite ist, dass Sie als Chef Ihre Schäflein in relevante Entscheidungen einbinden sollen, anstatt immer raushängen zu lassen, wie klug und toll Sie selber sind. Allerdings müssen sich diese Schäflein auch in die Herde einfügen und nicht immer mähen, sobald etwas nicht nach ihrem Kopf geht. Wenn jemand das Gefühl hat, nicht mitspielen zu dürfen, ist er nicht nur beleidigt, er kündigt auch schnell, zumindest innerlich. Aber natürlich sind Sie nicht der einzige Mitarbeiter Ihres Chefs, auch der Kollege hat manchmal gute Ideen und will genau wie Sie ebenfalls mitreden und mitbestimmen dürfen. Sie sind nun mal Teil des Ganzen und das bedeutet: Selbstdisziplin üben und die Egozentrik in die Wüste schicken.
3. Gebot: Klartext reden
Sie kennen vermutlich diese kurzen, knappen und überaus aussagekräftigen Anweisungen von oben im Stil von: „Stellen Sie mir noch die Zahlen zusammen!“ Prompt geht das Rätselraten los, und Sie können drauf wetten, dass Sie dem Chef die falschen Zahlen liefern, denn Zahlen gibt es in Ihrem Unternehmen jede Menge – welche genau er haben will, bleibt sein Geheimnis. Der Chef denkt, Sie werden es schon wissen, sonst würden Sie fragen. Und Sie denken, es ist nicht so wichtig, sonst würde der Chef es Ihnen schon sagen. Das Orakel von Delphi hätte seine helle Freude an der Situation, im Arbeitsalltag aber führt sie zu nichts, weil keiner weiß, was der andere will.
„Sie machen sich keine Vorstellung davon, wie es jeden Funken Antrieb im Keim erstickt, wenn Ihre Mitarbeiter den Eindruck haben, ungerecht bezahlt zu werden.“
Das lässt sich vermeiden, wenn Sie als Chef erst mal überlegen, was Ihr Mitarbeiter Ihnen genau liefern soll. Das sagen Sie ihm dann auch, mit allen notwendigen Informationen, und lassen sich Ihre Anweisung von ihm kurz wiederholen. So merken Sie, ob er alles richtig verstanden hat, und können ggf. gleich nachbessern. Das kostet weniger Zeit, als hinterher die Marschrichtung um 180 Grad zu korrigieren. Und als Mitarbeiter sollten Sie sich angewöhnen, Fragen zu stellen, wenn Ihnen etwas nicht klar ist. Mitunter ist allerdings Eigeninitiative angesagt, denn auch Ihr Chef ist nicht allwissend.
4. Gebot: Berechenbar sein
Gebot Nummer vier verlangt von Chefs wie von Mitarbeitern, sich nicht unberechenbar wie eine Lottokugel zu zeigen. Ihre Launen dürfen Sie zu Hause ausleben, im Arbeitsalltag möchte man sich auf Sie verlassen und es Ihnen auch mal recht machen können. Gute Chefs halten sich an die drei „E“: Engagement (Mitarbeiter in Entscheidungen einbinden), Expectation Clarity (klare Spielregeln) und Explanation (nachvollziehbare Entscheidungen). Und Mitarbeiter zeigen Zuverlässigkeit, sonst kann der Chef die drei „E“ nämlich gar nicht anwenden.
5. Gebot: Feierabend und Urlaub
Ihr Leben gehört weder Ihrem Chef noch Ihrer Firma, sondern nur Ihnen. So banal diese Erkenntnis ist, wird sie doch ständig missachtet. Vorgesetzte nageln ihre Mitarbeiter mit Blicken an die Wand, wenn diese sich erdreisten, schon um 21 Uhr das Büro verlassen zu wollen, sie rufen hemmungslos auch am Wochenende oder nach 22 Uhr aufs Handy an und empfinden es als persönliche Beleidigung, Überstunden auch noch bezahlen zu müssen. Wen wundert’s, dass die Brötchennehmer sich holen, was ihnen nach ihrem Dafürhalten zusteht: Sie erscheinen morgens zu spät, schieben Entschuldigungen vor und feiern krank. Dazwischen toben sich die Workaholics aus und irgendwann treffen sich alle auf der Intensivstation oder beim Psychiater. Das fünfte Gebot lautet darum: Feierabend und Urlaub sind heilig; Ihre Arbeit ist nicht Ihr Lebensinhalt, sondern nur ein Job.
6. Gebot: Anerkennung und Lob
Nur ein Job – aber der kann durchaus Spaß machen, dann nämlich, wenn hin und wieder ein kleines Lob für die geleistete Arbeit herausspringt. Ein ehrliches Lob schmeckt wie ein süßes Karamellbonbon. Der gebauchpinselte Angestellte will mehr davon und tut natürlich genau das immer wieder, wofür es das Bonbon gibt. Psychologen nennen diesen Vorgang Konditionierung, eine sehr einfache, aber hocheffiziente Art der Leistungssteigerung. Die Sache hat nur einen Haken: In einem Betrieb mit z. B. 300 Mitarbeitern kann der Chef nicht jeden Tag jedem persönlich die Hand schütteln und ihm für seinen tollen Beitrag danken. Und abgesehen davon: Wann haben Sie zuletzt Ihren Chef gelobt? Er braucht nämlich ebenfalls Anerkennung, und sei es nur dafür, dass er Ihnen jahrelang regelmäßig und pünktlich Ihr Gehalt überweist.
„Der Chef hat keinen Freibrief, alle immer platt zu walzen, alle Ideen abzubügeln und über alle Köpfe hinweg alles im Alleingang zu entscheiden.“
Gebot Nummer sechs lautet also für den Chef: Loben ist Pflicht. Für eine Drei-Sekunden-E-Mail als Rückmeldung und Anerkennung ist immer Zeit. Als Mitarbeiter erwarten Sie aber bitte nicht für jeden Handgriff eine Belobigungsurkunde samt Ansprache – und bedanken Sie sich ruhig auch mal bei Ihrem Chef.
7. Gebot: Ehrlichkeit ist die Basis
Manchmal ist es ausgesprochen praktisch, die Dinge ein wenig umzuformulieren. Dem Mitarbeiter, der kündigen will, wird eine attraktive Beförderung in Aussicht gestellt, und wenn er erwartungsfroh dem Unternehmen treu bleibt, weiß der Chef bald nichts mehr vom schönen neuen Posten. Lügen ist schlimmer als gar nichts zu sagen, denn damit missbrauchen Sie das Vertrauen Ihres Gegenübers. Die schonungslose Wahrheit verträgt allerdings auch nicht jeder. Es gibt durchaus Situationen, in denen es besser ist, ein wenig zu schummeln – man nennt das dann soziale Lüge –, um jemandem nicht unnötig wehzutun. Das gilt aber nur bei eher unwichtigen Dingen. Was anderen schadet, fällt nicht unter die soziale Lüge.
„Die allen anderen übergeordnete Regel ist, sich empathisch in die ‚Gegen‘-Seite hineinzudenken und zu -fühlen, ‚in den Schuhen des anderen zu gehen‘.“
Ganz ohne Flunkerei kommt kein Mensch durchs Leben, weder Chef noch Mitarbeiter. Es ist einfach unangenehm, Fehler zu machen und die dann auch noch zugeben zu müssen. Da redet man lieber haarscharf an der Wahrheit vorbei. Trotzdem: Versuchen Sie es mit Ehrlichkeit. Wenn Sie einen Bock geschossen haben, dann stehen Sie dazu; so schnell wird Ihnen der Kopf schon nicht abgehauen. Im Gegenteil, Sie verschaffen sich wahrscheinlich höchsten Respekt von Ihrem Vorgesetzten, wenn Sie Ihre Schuld offen eingestehen.
„Teamplayer zu sein heißt nicht, dass Sie als Mitarbeiter zum ‚Chefversteher‘ mutieren und als Chef nun Ihren Mitarbeitern ständig das Köpfchen kraulen müssen.“
Ehrlichkeit auf beiden Seiten, so lautet demnach das siebte Gebot, und weil Ehrlichkeit auch in alle anderen Gebote hineinspielt, ist sie der Schlüssel zu einer angenehmen Arbeitsatmosphäre im Unternehmen.
8. Gebot: Loyalität
Loyalität kann es nicht geben, solange Ehrlichkeit nicht selbstverständlich ist. Es ist ein bisschen wie in einer Ehe: Sie haben Rechte und Pflichten, und solange Sie dem anderen gegenüber loyal sind, gibt es keine Probleme. Der Vorgesetzte kommt seiner Fürsorgepflicht nach und mobbt seine Mitarbeiter nicht. Und die Belegschaft besinnt sich auf ihre Treuepflicht und zieht den Chef nicht bei jeder Gelegenheit durch den Kakao. Stellt der Chef seinen Mitarbeiter vor Dritten bloß, nur um sich bei einem Stammkunden einzuschleimen, kann er nicht erwarten, dass der Mitarbeiter ihn ins Nachtgebet einschließt. Jedoch kann man es einem Chef nicht übel nehmen, wenn er ein Problem mit Mitarbeitern hat, die nur ihre individuellen Ziele im Blick haben und dafür ohne mit der Wimper zu zucken das Unternehmen schädigen.
9. Gebot: Menschenliebe
Effizienz und Freundlichkeit schließen sich aus – davon sind zumindest viele Chefs überzeugt. Small Talk und Kaffeepause sind Zeitverschwendung, geplauscht wird zu Hause, meinen sie. Es ist schon richtig, dass Sie Ihre Arbeitszeit nicht mit Gequatsche vertrödeln sollen. Menschen sind aber auch hinter einem Schreibtisch immer noch Menschen und freuen sich über ein Mindestmaß an Höflichkeit und Austausch. Dazu gehört eben auch, nachzufragen, wie es geht, die Mitarbeiter mit Namen anzusprechen und sie anzuschauen, wenn man etwas sagt. Gute Umgangsformen gehören einfach zu einem angenehmen Arbeitsklima und sind das neunte Gebot für den Joballtag. Wenn Sie nur noch mit Ihrem Laptop kommunizieren statt mit den Kollegen, arbeiten Sie zwar weitgehend störungsfrei, aber eben auch weitgehend isoliert, und das tut niemandem gut.
10. Gebot: Dankbarkeit
Für den Fall, dass in Ihrem Unternehmen bereits alles butterweich läuft, gibt es trotzdem noch ein letztes Gebot: Dankbarkeit. Es ist leider selbstverständlich geworden, ständig zu meckern und zu maulen: über das Kantinenessen, die schnippische Kollegin, das unfähige PC-Programm und den dämlichen Chef. Ob Mitarbeiter oder Chef: Wenn jeder sich mal bewusst machen würde, wie gut es ihm geht, wie gar nicht selbstverständlich es ist, Arbeit, Aufträge, Essen, Kleidung, ein Dach überm Kopf und Menschen um sich herum zu haben, dann wären wir für jeden Tag dankbar. Stattdessen sind Sie gedanklich schon bei übermorgen, planen und träumen und verpassen so den Augenblick, die Gegenwart und das Glücklichsein.
Dr. Volker Kitz ist Jurist und Psychologe und arbeitet als Anwalt in Köln. Er ist Autor mehrerer Sachbücher und hat Berufserfahrung als Wissenschaftler, TV-Journalist und Lobbyist. Dr. Manuel Tusch führt eine psychologische Praxis und ein Ausbildungsinstitut in Köln. Er hat als Wissenschaftler und Unternehmensberater gearbeitet und zusammen mit Volker Kitz bereits Das Frustjobkillerbuch verfasst.