Alpha- oder Beta-Unternehmen?
In seinem Managementklassiker The Human Side of Enterprise skizzierte Douglas McGregor 1960 zwei Menschenbilder: Der Mensch ist demnach entweder dumm, faul und egoistisch oder von Natur aus motiviert, lernbegierig und kreativ. Beide Auffassungen verlangen radikal unterschiedliche Arbeitsverhältnisse. Die erste nennen wir Alpha-Wirtschaft. Es ist die Ära des Managements, die gerade zu Ende geht. Die zweite ist die Beta-Wirtschaft, in der das Management abgeschafft ist.
„Ich will Management nicht verbessern. Ich will es abschaffen!“
Die Zahl der Beta-Unternehmen wächst unaufhörlich. Sie sind nah am Kunden und am Markt, weil sie alles ablegen, was die natürliche Entwicklung der Mitarbeiter hemmt: Planungswut und Privilegien, Abteilungen, Zielvereinbarungen, Kontrollen und Boni. Eine südamerikanische Verpackungsfirma etwa wagte diesen Schritt, weil nach dem alten System nichts mehr funktionierte: Es gab hohe Fehlerraten, massenhaft Überstunden und regelmäßiges Chaos, wenn Bestellungen kurzfristig geändert wurden. Dann wurde kurzerhand die Produktionsplanung abgeschafft. Kundenorders hingen von nun an in der Produktionshalle. Und plötzlich lief alles wie am Schnürchen.
Verantwortung in Zellen
Haben Sie schon mal zwei Fußballer erlebt, die sich wenige Meter vor dem Tor lauthals darüber streiten, wer Torjäger und wer Vorbereiter zu sein hat? In der Alpha-Wirtschaft passiert das jeden Tag. Mitarbeiter suchen sich ihre Aufgaben nicht danach aus, was zu tun ist, sondern welche Funktion sie bekleiden. Das lähmt und geht am Ziel vorbei: nämlich ein Tor zu schießen. Die funktionale Organisation nimmt die Mitarbeiter aus der Verantwortung. Schließlich lässt sich immer jemand anders finden, der zuständig ist. Die Folge: Die Mitarbeiter verlernen das Denken und verdummen. Wie im Fußball gilt auch im Unternehmen: Die Situation und nicht die Funktion entscheidet, wer in einem Moment die beste Entscheidung trifft und ein Tor schießt.
„Langfristig hat jedes Unternehmen die Mitarbeiter, die es verdient. Ein bürokratisches Unternehmen hat eben die Mitarbeiter, die die Komfortzone suchen.“
Organisieren Sie Ihr Unternehmen als ein Netzwerk aus verschiedenen Zellen. In jeder Zelle arbeitet ein Team von mindestens drei und höchstens 20 Menschen; das ist das Maximum, mit dem Gruppen gut funktionieren. Wenn es mehr werden, müssen sich die Zellen teilen. Unternehmenszellen sind nach Regionen oder Kundengruppen aufgeteilt und konkurrieren niemals untereinander. Jede von ihnen agiert wie ein Mini-Unternehmen selbstständig am Markt. Zusammengehalten wird das Zellnetzwerk durch gemeinsame Werte und Prinzipien, die das genaue Gegenteil leerer Mission-Statements sind, wie man sie aus der Alpha-Wirtschaft kennt. Jede Entscheidung wird auf der Basis dieser Werte getroffen: Ergibt das Sinn für uns? Sind wir das als Unternehmen?
Sinnkoppelung statt Sinnstiftung
Ferdinand Porsche erfand im Jahr 1896 den Elektromotor. 1902 stellte er den ersten Hybridwagen vor. 1902! Es wäre ein leichtes gewesen, Porsches hervorragende Ingenieure um das Ziel herum zu versammeln und einen serienreifen Elektrosportwagen zu konstruieren. Stattdessen verspekulierte sich das Alpha-Management an der Börse. Und die Moral? Manager sollten nichts entscheiden dürfen. Sie sollten auch keine besondere Verantwortung tragen oder gar Sinn stiften.
„Das Humankapital schwappt so rum, mal suppt hier was über die Kante, mal tropft da was nebenraus, aber im Großen und Ganzen bleibt die Masse beisammen und wabbelt mehr oder weniger zähflüssig in Richtung des minimalen Energieniveaus.“
Entweder die Mitarbeiter erkennen im Unternehmen einen Sinn oder nicht. Führungskräfte können bestenfalls dem Einzelnen helfen, sich an diesen Sinn zu koppeln. Sie können gemeinsame Schwingungen erzeugen und alle Mitarbeiter auf die gleiche Frequenz bringen. Das funktioniert nur, wenn es keine Zuständigkeiten gibt, wenn jeder führen darf, sobald es die Situation verlangt.
„Wer die Verantwortung für seine Entscheidung trägt, entscheidet anders, nämlich verantwortlich. Und wer selbst verantwortlich entscheidet, handelt anders, nämlich entschieden.“
Es ist ganz einfach: Der Kunde sagt, was getan werden muss, und der Mitarbeiter entscheidet, wie er es erledigt. In bürokratischen Großunternehmen läuft es andersherum: Sie verplempern mindestens 70 % ihrer Energie mit reiner Nabelschau. Weil sich in Beta-Unternehmen niemand mit dem Einhalten von Regeln und der Verteilung von Statussymbolen abgibt, haben die Mitarbeiter viel mehr Zeit. Nicht zum Faulenzen, sondern für sinnvolle Arbeit.
Der Weg in die Beta-Welt
Schreiben Sie sich selbst einen Brief – einen kollektiven. Das heißt: Bilden Sie eine Koalition aller Mitarbeiter, von den Chefs zu den Malochern. Sie alle schreiben, was ihnen auf den Nägeln brennt, welche Veränderungen nötig sind und was das Wesen des Unternehmens ausmacht. Alle Mitarbeiter müssen den Brief am Ende unterschreiben. Einige werden sich weigern und vielleicht sogar kündigen. Andere gehen, wenn die Beta-Vision Wirklichkeit wird und die Alpha-Gifte ausgeschwitzt werden, von den Privilegien der Manager über die Frauenquoten bis hin zu den Mitarbeiterbeurteilungen. Nicht jeder Mensch ist beta-kompatibel. Es sind aber viel mehr, als Sie glauben. Und so kommen Sie von Alpha zu Beta:
- Schaffen Sie alles ab, was sich „Kultur-“, „Change“ oder „Innovationsmanagement“ schimpft. Nichts davon lässt sich managen. Entweder es passiert oder eben nicht.
- Vergessen Sie die Personalentwicklung und schaffen Sie ein liebevolles Umfeld. Ihre Mitarbeiter sollten ihre Arbeit, ihre Kollegen und ihre Kunden lieben.
- Lassen Sie Mitarbeiter üben und hart arbeiten. Nur so werden sie zu Meistern.
- Assessment-Center oder Interviewleitfäden haben in Beta-Unternehmen keinen Platz. Jeder, der möchte, kann bei Neueinstellungen mitentscheiden.
- Bilden Sie Zellen mit fünf bis 15 Leuten. Jede dieser Zellen hat ihre eigene Gewinnrechnung und wählt einen Vertreter, der sie auf der nächsten Ebene repräsentiert.
- Mehr als drei Ebenen sind nicht nötig.
- CEO, Personaler, Sekretärinnen, IT-Spezialisten usw. bilden einen „Orga-Laden“, aus dem die Businesszellen Leistungen einkaufen können. Der Laden arbeitet kostendeckend, macht aber keinen Gewinn.
Erfolg ist, der beste Arbeitgeber zu sein
Alpha-Unternehmen blähen sich in guten Zeiten auf wie der menschliche Körper zur Weihnachtszeit. Eine Völlerei, die wie die Jojo-Diät nach jedem zyklisch wiederkehrenden Abschwung böse endet: mit Kürzungen, Entlassungen, Pleiten. Beta-Unternehmen wollen dagegen immer schlank sein, egal was auf dem Festtisch steht. Denn Wachstum ist nicht gleichbedeutend mit Erfolg.
„Viele, von denen man glaubt, dass sie nur Alpha denken können, fügen sich verblüffend gut in die Beta-Welt ein. Man wird Überraschungen erleben.“
Vielmehr sollten Sie danach streben, zu den besten Arbeitgebern zu gehören und die besten Leute anzuziehen – der Gewinn stellt sich dann ganz von selber ein. Möglich ist das nur, wenn alle Informationen wirklich frei zugänglich sind. Alpha-Manager verlieren dadurch Macht, und Mitarbeiter gewinnen Kontrolle. Im Beta-Unternehmen kontrollieren sich nämlich alle gegenseitig, aber nicht als Spitzel, sondern um voneinander zu lernen. Empirische Untersuchungen haben bewiesen, dass in solchen Unternehmen deutlich weniger verschwendet, gelogen und betrogen wird.
„Wenn das Licht des Marktes die Organisation durchströmen kann, dann kann ihn jeder sehen. Dann ist der Markt überall im Unternehmen wirksam.“
Ähnlich ist es mit der so genannten „leistungsabhängigen Bezahlung“: Boni und Incentives laden geradezu dazu ein, die Bücher zu frisieren und in die eigene Tasche zu arbeiten. Sie machen Mitarbeiter zu egoistischen Einzelkämpfern und vergiften die Arbeitsatmosphäre. Wieso glauben so viele Manager, ihre Mitarbeiter wie Zirkustiere dressieren zu müssen? Die meisten Menschen wollen arbeiten. Man braucht sie nicht mit einer Karotte vor der Nase und der Peitsche hinter dem Rücken dazu zu zwingen.
„Wenn Prognosen wahr werden, ist das entweder Zufall oder Manipulation.“
Bezahlen Sie faire Gehälter. Dann stellen Sie drei Geldtöpfe auf: In den einen kommen Investitionsmittel, in den zweiten Geld für Rücklagen. Was dann noch übrig ist, kommt in den dritten Topf zum Ausschütten an alle Mitarbeiter. Letzterer ist das Sahnehäubchen, ein willkommener Leckerbissen, aber nicht der Grund, weshalb Menschen zur Arbeit gehen. Verhandeln Sie ruhig mit Ihren Mitarbeitern über das Gehalt: Menschen sind individuell verschieden, deshalb ist es auch völlig legitim, dass sie unterschiedlich verdienen. Aber bezahlen Sie Personen, nicht Positionen.
Ziellos und ohne Plan
Was wären Unternehmen ohne feste Ziele? Vermutlich wären sie deutlich besser dran. An den heutigen Krisenbanken kann man studieren, wohin der Zielwahnsinn führt: Um in Boomzeiten immer ambitioniertere Ziele zu erreichen, fälschten sie Zahlen und ersannen immer haarsträubendere Finanzprodukte, um dann mit Karacho an die Wand zu fahren. „Management by Objectives“ gründet auf der irrigen Annahme, dass Unternehmen statisch sind. Tue ich A, passiert B. Tatsächlich sind Unternehmen komplexe Systeme in einer noch komplexeren Umwelt.
„Wer arbeiten will, nicht muss, der lebt auch während der Arbeitszeit. Work-Life-Balance empfindet er dann als das, was es ist: Schwachsinn.“
Deshalb ergeben nur relative Ziele Sinn, nach dem Muster: „Ich will schneller und innovativer sein als der Wettbewerber.“ Hier können Sie echte Zahlen vergleichen: Nähern Sie sich diesem Ziel an? Oder entfernen Sie sich? Auch interne Vergleiche zwischen Zellen sind hilfreich. Nicht um das eine oder andere Team unter Druck zu setzen, sondern um jeden Einzelnen zu Höchstleistungen zu ermutigen.
„Ein Unternehmen, das Managern Boni zahlt, obwohl kein Gewinn erwirtschaftet wurde, ist eigentlich kommunistisch – oder präziser gesagt: Es nutzt Sowjet-Methoden.“
Wir leben in einer Welt, die so wechselhaft ist wie das Aprilwetter. Unsere einzige Chance liegt darin, uns auf jede mögliche Wetterlage gefasst zu machen. Planen aber bedeutet, Entscheidungen für die Zukunft treffen zu wollen. Das ist genauso unmöglich, wie dem Wetter vorzuschreiben, wie es zu sein hat. Entscheiden Sie so kurzfristig und intuitiv wie möglich. Denn der Markt entscheidet fast immer anders, als es die sorgfältig ausgearbeiteten Unternehmenspläne vorsehen. Geplant waren Geländewagen, CDs und DVDs – doch die Menschen wollen Hybridfahrzeuge, Downloads und Live-Musik.
Jenseits der Budgets
Aus dem gleichen Grund sind auch Budgets nicht zeitgemäß. Sie stammen aus der Steinzeit des Kapitalismus, als Kapital noch nicht so frei verfügbar war. Heute aber sind vor allem menschliches Talent und Ideen knapp, die durch die Budgetierung in enge Käfige gesperrt werden. Ein paar Vorschläge, wie Sie Budgets ein für alle Mal begraben:
- Vertrauen Sie Ihren Mitarbeitern, selbst über Geldmittel zu entscheiden, und schaffen Sie die zentrale Einkaufsabteilung ab.
- Geben Sie Geld kurzfristig aus. Auf Vorrat einstellen oder einkaufen ist Roulette.
- Verzichten Sie auf rückwärtsgewandte Marktforschung. Achten Sie lieber auf die Zeichen der Gegenwart.
- Reduzieren Sie Kosten an der Wurzel des Problems. Sind die Ursachen behoben, wird Qualitätskontrolle überflüssig.
- Führen Sie Target-Costing ein. Entwickeln Sie ein Produkt so, dass es nicht mehr kostet, als der Markt dafür hergibt.
Vertrauen in die Selbstorganisation
In seiner Anfangsphase lebt ein erfolgreiches Start-up-Unternehmen in einem wirtschaftlichen Garten Eden: Eine Gruppe hoch motivierter Menschen versammelt sich um eine Idee. Jeder tut, was er kann, um die Wünsche der Kunden zu erfüllen. Mit der Differenzierung aber kommt der Sündenfall. Abteilungen produzieren Schnittstellen. Diese bilden Dämme und Schleusen für den zunehmend stockenden Wertschöpfungsfluss.
„Kosten managen ist wie: Ich will abnehmen, also hacke ich mir den Arm ab.“
Mithilfe eines komplizierten Prozessmanagements versuchen Manager dann, wieder Bewegung in die Sache zu bringen. Vergeblich. Das einzig verlässliche Steuerungsinstrument ist der Markt, und der einzig sinnvolle Schritt nach vorn ist eine Rückbesinnung auf die Anfänge. Eine Rückintegration hin zu einem Netzwerk aus vielen, innovativen Mini-Unternehmen ist möglich, wenn Sie auf die menschliche Fähigkeit zur Selbstorganisation vertrauen. Der Beta-Kodex liefert nicht das Rezept dazu. Vielmehr ist er der Anfang vom Ende aller Managementrezepte.