Die Triebkräfte menschlichen Verhaltens
Seit es Unternehmen gibt, suchen Manager, Berater und Wissenschaftler nach einer Formel, wie die führenden Köpfe die Motivation ihrer Belegschaften gezielt steigern können.
Auch wenn die Suche nach einem Patentrezept wahrscheinlich vergeblich bleiben wird, gibt es inzwischen zahlreiche Untersuchungen, die darauf hinweisen, wie sich das Arbeitsverhalten von Menschen beeinflussen lässt. Die wohl bekannteste ist der regelmäßig erhobene Gallup-Engagement-Index. Für 2008 ergab die Studie des amerikanischen Beratungshauses, dass sich rund 20 % der Arbeitnehmer nicht mit ihrem Unternehmen identifizieren. Als Folge der „inneren Kündigung” fehlen diese Mitarbeiter nicht nur deutlich häufiger als Kollegen, die sich ihrem Arbeitgeber emotional verbunden fühlen, sondern sie bringen auch bei weitem nicht ihre volle Leistung.
„Unsere Motive werden als Endzwecke des Handelns erfahren – also als Sinn unseres Handelns und Tuns.“
Der wesentliche Grund für diese Entwicklung liegt im mangelhaften Führungsverhalten der verantwortlichen Manager. Ihr blinder Fleck sind die individuellen Stärken der Mitarbeiter. Emotionale Verbundenheit zu einem Unternehmen kann erst dann entstehen, wenn die Angestellten ihre besonderen Talente und Eigenschaften in die Arbeit einbringen können und sich die Vergabe von Aufgaben nach den persönlichen Fähigkeiten ausrichtet.
„Erfolg folgt, wenn man sich selbst folgt.“
Das motivorientierte Führungsverhalten hat genau diese individuelle Behandlung der Mitarbeiter im Sinn. In der Theorie geht es davon aus, dass das menschliche Verhalten von den drei Faktoren Können, Dürfen und Wollen geprägt ist. Das Können umfasst das erworbene Fachwissen und die Fertigkeiten eines Menschen. Unter Dürfen werden alle Regeln und Normen zusammengefasst, nach denen sich eine Person verhält. Und unter dem Wollen versteht man die inneren Ziele und Motive, die die Basis für die eigene Leistung bilden. Dieser letzte Aspekt ist nicht nur zentral für eine erfolgreiche Zusammenarbeit im Unternehmen, er ist auch am schwersten zu beeinflussen. Motivorientiert zu führen heißt, die im Unternehmen festgelegten Ziele mit den individuellen Motiven der Mitarbeiter in Einklang zu bringen.
Individuelle Motive aufdecken
Es klingt nach einem unlösbaren Paradox: Was in den Köpfen der Menschen vorgeht, entzieht sich unserer Kenntnis, aber genau diese individuellen Einstellungen und Motive sind ausschlaggebend für hohes Engagement am Arbeitsplatz. Ihre Kenntnis ist Voraussetzung für erfolgreiche Führung. Wie können Sie dennoch an dieses Wissen gelangen?
„Die Berücksichtigung der zentralen Motive Ihrer Mitarbeiter, also motivorientiertes Führen, kann Ihnen helfen, Ihre Führungsziele schneller und effektiver zu erreichen.“
Psychologen haben zahlreiche Motivationsmodelle entwickelt, etwa die Bedürfnispyramide von Abraham Maslow oder die Zwei-Faktoren-Theorie von Frederick Herzberg. Diese Ansätze liefern zwar wichtige Beiträge für das allgemeine Verständnis der menschlichen Motivation. Sie sagen aber nichts aus über die individuellen Motive, die ganz konkret im Alltag wirken.
„Die Theorie der 16 Lebensmotive ist eine der wenigen Persönlichkeitstheorien, die testtheoretisch vollständig empirisch überprüft wurde.“
Anhand empirischer Studien hat deshalb der amerikanische Psychologie-Professor Steven Reiss in den 90er Jahren des vergangen Jahrhunderts 16 Lebensmotive ermittelt, nach denen seiner Meinung nach alle Menschen ihr Verhalten ausrichten. Die Stärke dieser Motive kann mit Hilfe eines 128 Fragen umfassenden Formulars erhoben werden. Dabei müssen die Teilnehmer bestimmte Aussagen auf einer Skala von –3 (trifft gar nicht zu) bis +3 (trifft völlig zu) selbst bewerten. Das individuelle Ergebnis, das so genannte „Reiss Profile“, ergibt sich aus der unterschiedlichen Ausprägung aller 16 Lebensmotive. Es bildet die Grundlage für die notwendigen Führungsmaßnahmen.
Die 16 Lebensmotive
Nach Steven Reiss handeln Menschen, um Bedürfnisse zu befriedigen. Die Motivation zu einem bestimmten Verhalten resultiert demnach aus dem Zusammenwirken einer Situation und dem individuellen Motiv. Hat ein Mensch das Gefühl, bestimmte Ziele verwirklichen zu können, wird er aktiv (was auch das Unterlassen einer Handlung bedeuten kann). Die Lebensmotive sind also der Kern jedes Verhaltens. Reiss nimmt an, dass diese Motive genetisch bedingt sind und sich mit dem Alter nicht verändern. Wie sie sich allerdings beim Einzelnen ausdrücken, hängt vom Umfeld ab, in dem die Menschen aufwachsen.
„Das ,Reiss Profile‘ entdeckt die Lebensmotive, es erfindet sie nicht.“
Die 16 Lebensmotive sind: Macht, Unabhängigkeit, Neugier, Anerkennung, Ordnung, Sparen/Sammeln, Ehre, Idealismus, Beziehungen, Familie, Status, Rache/Kampf, Eros, Essen, körperliche Aktivität und emotionale Ruhe. Die unterschiedliche Ausprägung der Motive sei an den zwei Beispielen Macht und emotionale Ruhe verdeutlicht:
„Sie können nicht nur den ‚Spreng- und Klebstoff‘ zwischen sich und Ihren Mitarbeitern identifizieren, sondern auch auf mögliche Selbstverliebtheiten in der Mitarbeiterbeurteilung aufmerksam werden.“
Ein stark ausgeprägtes Machtbedürfnis lässt Menschen Herausforderungen suchen. Solche Mitarbeiter übernehmen gerne Verantwortung und wollen führen. Mitarbeiter mit geringem Machtmotiv wollen hingegen eher für andere Menschen arbeiten, halten sich lieber im Hintergrund und treffen nicht gerne Entscheidungen. Für eine Führungsposition können sie sich unter Umständen aber trotzdem eignen – wenn sie das schwache Machtmotiv mit einem anderen kompensieren, z. B. Ehre.
„Ein niedriges Machtmotiv steht einer Führungsposition nicht im Wege! Diese Führungskräfte werden allerdings zur Erfüllung ihrer Führungsaufgabe mehr Energie und Willensstärke aufbringen müssen.“
Unter emotionaler Ruhe wird der Wunsch nach innerer Sicherheit verstanden. Ist dieser stark ausgeprägt, neigen die Menschen dazu, Ungewissheit durch Vorsicht zu vermeiden. Diese Personen streben nach Vorhersagbarkeit und suchen Situationen, die entspannen. Im Gegensatz dazu sind Menschen mit einer niedrigen Ausprägung dieses Motivs nicht so schnell aus der Ruhe zu bringen. Sie empfinden weniger Angst, und Druck spornt sie zu intensiverer Leistung an.
Das „Reiss Profile“ im Firmenalltag einsetzen
Das individuelle „Reiss Profile” zeigt die 16 Lebensmotive und ihre Ausprägung in Kombination. Es liefert nicht nur einen umfassenden Überblick über die innere Ausrichtung eines Menschen, sondern lässt sich auch in zahlreichen Lebenssituationen anwenden. Die Einsatzmöglichkeiten reichen von der Zusammenstellung von Teams in Firmen über die Personal- sowie Berufswahl bis zum Leistungssport, der Ehebegleitung und privaten Entscheidungen – etwa in punkto Feriengestaltung, Wahl des Wohnraums oder der richtigen Ernährung. Bevor Sie als Manager die Theorie der 16 Lebensmotive zur Grundlage Ihres Führungsverhaltens machen, müssen Sie eines verinnerlichen: Sie können das „Reiss Profile“ nur dann erfolgreich bei Mitarbeitern einsetzen, wenn Sie zuvor Ihre eigenen Motive geklärt haben und mit ihnen konsequent umgehen.
„Besitzt eine Mitarbeiterin ein hoch ausgeprägtes Lebensmotiv der Ehre, sollten Sie versuchen, ihr eine Plattform für Leistung durch die Demonstration von Loyalität zu bieten.“
Die Autorin Frauke Ion zum Beispiel erkannte, dass sie sehr stark auf Status ausgerichtet ist. Als Beraterin integrierte sie diesen Aspekt in ihren beruflichen Alltag, indem sie lernte, dass auch das Coaching von Geschäftsführern ihren Wunsch nach Status befriedigt.
Der zweite entscheidende Punkt beim Anwenden des „Reiss Profile“: Verabschieden Sie sich von allgemeinen Führungsregeln und -maßnahmen. Jeder Mensch folgt ganz unterschiedlichen Handlungsmotiven. So ist etwa nicht jeder Mitarbeiter für die Themen Anerkennung, körperliche Aktivität oder Ordnung empfänglich. Wenn doch zwei Mitarbeiter über ähnliche Motive verfügen, so sind diese meist völlig unterschiedlich ausgeprägt.
„Die natürliche Tendenz, andere Personen gemäß den eigenen Wünschen und Interessen wahrzunehmen und ihre eigentlichen Bedürfnisse entsprechend umzuinterpretieren oder sogar misszuverstehen, bezeichnet man nach Steven Reiss als self-hugging (Selbstbezogenheit oder Selbstverliebtheit).“
Wenn Sie das „Reiss Profile“ konsequent einsetzen, werden Sie auch die Grenzen der eigenen Wahrnehmung erkennen. In der Psychologie gilt es längst als Tatsache, dass jeder Mensch über ganz unterschiedliche Sichtweisen verfügt, mit der eigene und auch Aspekte anderer leicht ausgeblendet werden. Nach der Theorie der sich selbst erfüllenden Prophezeiung führt das daraus resultierende Führungsverhalten schließlich dazu, dass die Kollegen so handeln, wie der Vorgesetzte sie einschätzt. Dieses oft automatische und letztlich wenig erfolgversprechende Verhalten sollten Sie aufgeben – mithilfe des „Reiss Profile“. Des Weiteren geben bestimmte Motivkombinationen ganz konkrete Hinweise über die Leistungsfähigkeit von Menschen. So genannte Karrieretreiber sind zum Beispiel die Motive Macht, Status und Rache/Kampf. Ein geringes Ehr- und Ordnungsverständnis weist auf Flexibilität hin. Menschen, bei denen die Motive Anerkennung, emotionale Ruhe sowie Rache/Kampf schwach ausgeprägt sind, gelten als psychisch stabil, was sich in einer hohen Risikobereitschaft wiederspiegelt.
Motive ermitteln
Neben dem Fragenbogen des „Reiss Profile“ ist vor allem das persönliche Gespräch das Mittel der Wahl, um die individuellen Motive der Mitarbeiter aufzudecken. Dabei sollten Sie immer offene Fragen stellen, genau Zuhören und sich die Antworten ausführlich erklären lassen. Darüber hinaus gibt die tägliche Beobachtung der Kollegen Hinweise über ihre Motivstruktur. Sind die individuellen inneren Ausrichtungen bekannt, lohnt sich eine genaue Auswertung in Bezug auf die Ausprägung der Motive innerhalb des Teams oder ein Vergleich der Motivstruktur zwischen Mitarbeiter und Chef.
„Jedes Lob sollte individuell auf den Empfänger zugeschnitten sein, denn nur ein Lob, das wirklich allein die angesprochene Person bekommt, kann auch gut angenommen werden.“
Anhand der Ergebnisse können Sie dann sowohl die Vorzüge als auch die Stolpersteine der Zusammenarbeit ermitteln und für jeden Mitarbeiter gezielte Führungsmaßnahmen entwickeln. Ein hohes Unabhängigkeitsmotiv lässt sich z. B. durch viel Freiraum unterstützen. Einen Mitarbeiter mit stark ausgeprägtem Neugier-Motiv betrauen Sie mit besonders vielfältigen Aufgaben. Ist bei jemandem die Familienbindung besonders stark, sollten Sie diese Person seltener für Dienstreisen aufbieten und ihr vielleicht eine längere Mittagspause gewähren. Und wenn ein Mitarbeiter gerne für sich allein arbeitet, könnte es sich lohnen, ihm ein separates Büro zur Verfügung zu stellen.
Anerkennung: ein zentrales Motiv
Eines der wichtigsten, aber auch schwierigsten Führungsinstrumente ist Lob. Steven Reiss geht in seiner Theorie davon aus, dass jeder Mensch Anerkennung benötigt, um hohe Leistungen zu erbringen. Lob ist demnach einer der zentralen Motivationstreiber. Allerdings müssen Sie sich darauf einstellen, dass nicht jeder Mensch gleich viel Lob braucht. Konkret bedeutet das: Sie sollten als Vorgesetzter von Ihrem eigenen Anerkennungsbedürfnis abstrahieren und genau ermitteln, wie viel und welches Lob Ihre Mitarbeiter brauchen – dann können Sie individuell darauf reagieren. Menschen mit einem niedrig ausgeprägten Anerkennungsmotiv setzen sich z. B. realistische Ziele. Unterstützen Sie dies mit einem Umfeld, das diese Fähigkeit würdigt und weiter fördert. Mitarbeiter mit hoch ausgeprägtem Lobbedürfnis brauchen dagegen viel Kontakt zu Vorgesetzten, da sie sich selbst leicht über- oder unterfordern.
„Natürlich reicht es nicht aus, einen Menschen, der eine sehr gute Leistung erbracht hat, mit einem Leckerli zu belobigen. Vielmehr braucht er die Wertschätzung, welche ein Zusammenspiel aus verschiedenen Faktoren ist.“
Unabhängig davon, wie wichtig Anerkennung ist, sollten Sie Lob sehr überlegt aussprechen. Etwas zu viel davon, und es verliert schnell seine Wirkung. Auch nehmen Menschen spezifisches Lob leichter an als allgemeines. Achten Sie außerdem darauf, dass Sie nicht von oben herab loben, sich leicht verständlich und in der Ich-Form ausdrücken, Kritik nicht mit Lob verbinden, Anerkennung immer persönlich äußern oder Floskeln wie „well done” vermeiden. Durchaus sinnvoll kann es sein, das Lob vor dem gesamten Team auszusprechen. Kritik jedoch sollten Sie immer nur unter vier Augen üben: Ein Gesichtsverlust vor den Kollegen kann sich fatal auf die Leistung auswirken.