Erst denken, dann kaufen
Wenn Sie etwas kaufen, schauen Sie auf den Preis, klar. Was das Ding, das Sie dann mit nach Hause nehmen, aber die Umwelt oder die Gesundheit kostet, steht nicht auf dem Preisschild. Was heute produziert wird, basiert weitgehend auf Entscheidungen, die im Industriezeitalter getroffen wurden. Ob die Produktion, die Verwendung und letztlich die Entsorgung bestimmter Produkte dazu beiträgt, unseren Planeten demnächst kollabieren zu lassen, darüber machen sich viele Nutzer immer noch keine Gedanken. Um das zu ändern, müssen wir erst eine ökologische Intelligenz entwickeln. Das Feld der Industrieökologie, die sich seit den 90er Jahren entwickelt, bleibt bis heute wenigen Spezialisten vorbehalten; ihr Expertenwissen ist nicht allgemein verbreitet. Dabei wäre es doch genial, wenn man beim Einkaufen sofort erkennen könnte, welche Auswirkungen ein Produkt z. B. auf die CO2-Bilanz hat, welche chemisch bedenklichen Substanzen es enthält oder wie die Arbeiter bei der Produktion behandelt wurden. Eine solche „radikale Transparenz“ würde die Kaufentscheidungen massiv beeinflussen. Der Verbraucher könnte vorgehen wie ein Börsenanalyst, der die auf den Finanzmärkten schon üblichen strengen Transparenzkriterien nutzt. Wenn Sie die wirklichen Umweltbelastungen eines Produkts kennen, haben Sie es in der Hand, durch Ihren Kauf oder Nichtkauf Handel und Industrie die Richtung zu weisen.
Ökologisch handeln lernen
Physiker sowie Chemie- und Industrieingenieure haben in den 60er Jahren die Ökobilanzierung entwickelt. Sie liefert für ein Produkt bestimmte Daten – von den Rohmaterialien über die Schadstoffbelastung bis hin zum anfallenden Sondermüll. Ein simples Marmeladenglas etwa benötigt zu seiner Herstellung Hunderte unterschiedlicher Stoffe (u. a. Ethan, Chrom, Gold und Krypton), und der Schmelzofen verbraucht jede Menge Energie. In der langen Kette der Glasherstellung fallen auch krebserregende Substanzen an – nicht in der Glasfabrik, aber bei der Erdölgewinnung, ohne die der Schmelzofen nicht brennt.
„Nur mit ökologischer Intelligenz werden wir die beispiellosen Herausforderungen unserer Zeit bewältigen.“
Viele angeblich grüne Produkte sind in Wahrheit nur ein bisschen umweltfreundlich: Sie haben oft lediglich einen grünen Baustein und werden dennoch als ökologisch hervorragend angepriesen. Dieses „Greenwashing“ funktioniert, weil wir die Zusammenhänge und ökologischen Gefahren nicht erkennen. Prozesse wie die Erderwärmung oder die Luft- und Wasserverschmutzung schreiten so langsam voran, dass sie unter unserer Wahrnehmungsschwelle bleiben. Und weist uns jemand auf die Gefahr hin, verstecken wir uns gern hinter der Maske des Opfers. Es ist viel bequemer, wenn die bösen Produzenten schuld sind und wir weiterhin gedankenlos Lichtschalter und Mikrowellenherd anknipsen können.
„Radikale Transparenz wird ein derartiges Bewusstsein für die Auswirkungen der Dinge schaffen, die wir herstellen, verkaufen, kaufen und wegwerfen, dass die Wirtschaft auch mit unangenehmen Wahrheiten wird herausrücken müssen.“
Ganz anders wäre es, wenn wir tatsächlich eine ausgeprägte ökologische Intelligenz besäßen, die Fähigkeit also, das Wechselspiel zwischen der Natur und unserer Lebensweise zu erkennen. Das Problem dabei ist, dass das kein Einzelner kann, denn das dafür notwendige Wissen hat in unserem Gehirn gar nicht Platz. Wir haben also nur im Kollektiv eine Chance, ähnlich einem Insektenschwarm. Für den einzelnen Menschen würde dies bedeuten, die Konsequenzen seines Handelns zu erkennen, Verbesserungen anzustreben und das Gelernte an andere weiterzugeben. So würden wir die ökologische Intelligenz der gesamten Menschheit ständig erhöhen. Wenn auf dieser Grundlage künftig Produkte untersucht werden, sollte man die Umweltbelastung auf drei Ebenen berücksichtigen: in der Geosphäre (Boden, Wasser, Luft, Klima), in der Biosphäre (menschlicher Körper, Flora und Fauna) und in der Soziosphäre (z. B. Entlohnung oder Arbeitsplatzbedingungen).
Transparenz kontra Wissensdefizit
Mal ehrlich: Sie wissen, wie Ihr CD-Spieler funktioniert und was er gekostet hat. Aber wissen Sie auch, welche und wie viele Schadstoffe bei seiner Produktion freigesetzt worden sind oder ob die Arbeiter an den Produktionsstätten gut behandelt wurden? Hätten Sie die notwendigen Informationen, könnten Sie Ihre Entscheidung zugunsten eines ökologisch einwandfreien Produktes treffen; damit besäßen Sie Marktmacht. Manche Hersteller, speziell jene, die billig produzieren, nutzen die Unwissenheit der Käufer aus und schreiben „Öko“ oder „Bio“ drauf, obwohl das bei genauerem Hinsehen gar nicht gerechtfertigt ist. Als „chemiefrei“ ausgelobtes Pestizid beispielsweise ist schlichtweg Müll, weil es ohne Chemie in Wirklichkeit gar nicht geht.
„Ein Positivzyklus stellt eine Verbindung her zwischen den Käufern, die vor den Supermarktregalen Entscheidungen treffen, und den Unternehmen, die im Markt erfolgreich bestehen wollen.“
Jetzt stellt sich natürlich die Frage, wie Sie an die Informationen gelangen, die eine radikale Transparenz zulassen, eine Transparenz, die den gesamten Lebenszyklus eines Produkts umfasst. Eine Möglichkeit ist die Produktdatenbank der Firma GoodGuide, die Hunderte komplexer Datenbanken auswertet. Hier finden alle möglichen Informationen Eingang: Hinweise zu den einzelnen Bestandteilen eines Produkts, zu Herstellung, Transport, Gebrauch und Entsorgung sowie zu den Produktionsbedingungen. Radikale Transparenz verlangt allerdings nach der vollen Aufmerksamkeit des Verbrauchers, damit die Informationen auch bei ihm ankommen. Immerhin: Die Informationstechnologie, über die sich solches Wissen rasend schnell und an möglichst viele Beteiligte verbreiten lässt, haben wir schon.
Faire Deklaration
Wenn Sie einen Biowein kaufen, erwarten Sie wahrscheinlich, dass er teurer ist als das nicht zertifizierte Produkt nebenan. Aus Untersuchungen weiß man, dass allein das Ökoetikett ausreicht, um ein Produkt doppelt so oft über die Ladentheke wandern zu lassen wie das gleiche Produkt ohne Ökolabel. Oder: Dank des Hinweises auf gute Arbeitsbedingungen waren Verbraucher bereit, 40 % mehr für ein Paar Socken hinzublättern als für die gleichen Socken ohne ethischen Touch.
„Ökologische Transparenz wird radikal, wenn die Ökobilanz eines Produkts seinen gesamten Lebenszyklus und die gesamte Bandbreite seiner Auswirkungen in jeder Phase umfasst und diese Informationen dem Käufer in einer Weise präsentiert werden, die ihm wenig Mühe abverlangt.“
Eine andere Studie in einem großen Warenhaus hat gezeigt, dass ein Viertel der Käufer überhaupt nicht auf ökologische oder ethische Kriterien achtet, wogegen 10 % gezielt danach suchen. Der große Rest würde durchaus gerne ethisch korrekte Produkte kaufen, hat aber keine Lust, umständlich danach Ausschau halten zu müssen. Genau diese Käufer – eine riesige Gruppe – kann man mit einer Strategie radikaler Transparenz erreichen.
„Sobald die Amygdala alarmiert ist, übernimmt das Misstrauen den Verstand und das Gehirn will von Markentreue nichts mehr wissen.“
Momentan glauben viele Verbraucher, was teuer ist, sei auch ökologisch besser. Die Wahrheit sieht anders aus: In einer Liste der zehn giftigsten und zehn ungiftigsten Shampoos ist das billigste zwar tatsächlich das bedenklichste, aber auch das teuerste der 20 Haarwaschmittel findet sich auf der Giftliste. Wenn Sie wissen, was in einem Produkt enthalten ist oder mit welchen Konsequenzen für die Umwelt es hergestellt wurde, können Sie besser auswählen. Und wenn Sie dann auch noch die Möglichkeit nutzen, ein Unternehmen wissen zu lassen, warum Sie sein Produkt kaufen oder nicht, können Sie einen Positivzyklus in Gang setzen: Das Unternehmen reagiert auf das Kundenfeedback – schließlich will es ja nicht im Wettbewerb verdrängt werden.
„Coca-Cola verfolgt das Ziel der ökologischen Transparenz u. a. mithilfe von Wirtschaftsprüfern, die den Wasserverbrauch in Ländern wie Indien berechnen.“
Ob Sie Mikrowellenpopcorn kaufen oder Shampoo, in jedem Fall möchten Sie, dass Ihre Gesundheit nicht beeinträchtigt ist. Aroma- und Geschmacksstoffe sind oft chemischen Ursprungs und können krank machen. Beim Popcorn ist es Diacetyl, das zu einer schweren Lungenerkrankung führen kann; manche Shampoos enthalten das krebserregende Dioxan. Wird so etwas publik, versetzt uns unsere Alarmzentrale im Gehirn, die Amygdala, in Panik, und so mancher macht künftig einen großen Bogen um Popcorn und beäugt skeptisch jedes Shampoo, auch das ungiftige.
Fortschritt unter Druck
Ganz unproblematisch ist die radikale Transparenz natürlich nicht, denn durch sie kommen ja auch alle möglichen Sünden an den Tag, und so mancher Manager gerät bei diesem Gedanken mächtig ins Schwitzen. Diejenigen, denen es nur um den Gewinn geht, sehen in der Transparenz keinen Vorteil für das Unternehmen. In der Öffentlichkeit aber kommt langsam aber sicher ein Umdenken in Gang, und je weiter sich die ökologische Intelligenz ausbreitet, umso weniger können die Unternehmen sie aus ihren Produktionshallen aussperren. Manchmal ist massiver Druck von außen nötig, z. B. durch staatliche Vorschriften oder unerschrockene Aktivisten, die eine ökologische Evolution in einem Unternehmen lostreten. So hat Coca-Cola erst über seinen immensen Wasserverbrauch nachzudenken begonnen, als südindische Bauern vor der Abfüllanlage in Plachimada protestierten und sich der World Wildlife Fund einschaltete. Heute ist die ökologische Transparenz ein Ziel des Brause-Unternehmens, das sich nun sehr genau mit der jeweiligen Wassersituation vor Ort auseinandersetzt.
„Schon in naher Zukunft wird es für jedes Unternehmen riskant sein, nicht auch die sich anbahnende ökologische Markttransparenz zu berücksichtigen.“
Earthster, eine Software für ökologische Transparenz, befindet sich augenblicklich noch in der Entwicklungsphase. Wenn das Programm jedoch eines Tages läuft, soll es alle Daten liefern, um ein Produkt nach seiner Umweltfreundlichkeit und Sozialverträglichkeit auszusuchen. Organisationen und Regierungen können darauf zugreifen und z. B. herausfinden, wie es um die Löhne der Arbeiter steht, die in der langen Lieferkette für eine bestimmte Firma einen Kopierer herstellen. Oder ein Unternehmen könnte dank Earthster feststellen, dass das von ihm verwendete Aluminium bei der Herstellung Dioxin freisetzt, und sich einen anderen Lieferanten suchen. Wenn jeder Zulieferer sein Möglichstes für die Ökobilanz tut und das wiederum in einer für alle zugänglichen Datenbank veröffentlicht wird, können Endverbraucher, Institutionen und B2B-Käufer fundierte umweltbewusste Entscheidungen treffen.
„Wenn man die Unternehmensinteressen über alles andere stellt, sind die globale Schädigung der Umwelt und des Gemeinwohls unvermeidlich.“
Die ökologische Transparenz ist zwiespältig: Sie schenkt Ihnen Wissen – und raubt Ihnen dann den Schlaf. Es zeigt sich nämlich, dass man an allen Ecken etwas tun muss. Damit ist die Menschheit auf Jahrzehnte hinaus gut beschäftigt. Es geht beispielsweise nicht an, dass bei der Glasherstellung Quarzsand in Öfen geschmolzen wird, die noch aus den 1850er-Jahren stammen. Ökologische Intelligenz bedeutet, ständig alles infrage zu stellen, worauf unsere chemische Industrie, unsere Produktionsverfahren, die Prozessketten und die Lebenszyklen der Produkte basieren. Dieses Umdenken stellt aber durchaus auch eine Chance für die Unternehmen dar. Clevere Führungskräfte, die strategisch richtig und vorausschauend denken, werden sich den ökologisch transparenten Markt von morgen rechtzeitig erschließen.
Konsumenten an die Macht
Ist die Schritt-für-Schritt-Entwicklung hin zur ökologischen Intelligenz zu langsam? Manche Experten zweifeln daran, dass wir unseren Planeten noch retten können. Wir haben jetzt zwar Benzin sparende Autos, fahren aber so viele Kilometer mehr, dass das Problem für die Umwelt kein bisschen kleiner geworden ist. Teillösungen sind demnach zu wenig: Wir müssen unser gesamtes Konsumverhalten radikal überdenken, um zu echter Nachhaltigkeit zu gelangen.
„Die Spezies Mensch scheint dringend einen Schub an ökologischer Intelligenz zu brauchen, wenn sie die beispiellosen Herausforderungen der heutigen Zeit bewältigen will.“
Dabei sind wir derzeit noch nicht mal so weit, dass wir diejenigen Unternehmen, deren Produkte im Lauf ihres Lebenszyklus irgendwo Schaden anrichten, zur Kasse bitten. Staatliche Vorschriften sind ein Lösungsansatz, ein anderer ist verändertes Kaufverhalten, und das erreichen wir nur mit radikaler Transparenz. Firmen, die nicht nur nach dem Profit entscheiden, sondern den Schutz der Umwelt und der Gesundheit mit einbeziehen, tun das umso lieber, wenn daraus auch ein Wettbewerbsvorteil entsteht. Der Verbraucher ist das Zünglein an der Waage: Wenn er auch die versteckten Folgen seiner Kaufentscheidung kennt, gibt er sein Geld demjenigen, der ökologisch intelligent produziert. Profit muss sein, aber er muss Hand in Hand gehen mit Umwelt- und Sozialverträglichkeit.