Eugénie Grandet

Buch Eugénie Grandet

Paris, 1833
Diese Ausgabe: Diogenes,


Worum es geht

Verhängnisvolle Lei­den­schaften

„Raubmorde auf der Landstraße erscheinen mir als karitative Akte verglichen mit manchen Fi­nanz­transak­tio­nen“, schrieb Honoré de Balzac Jahrzehnte vor Marx, Brecht und Lehman Brothers. Da wünscht man sich doch, die Banker von heute hätten Literatur studiert statt BWL. Allerdings ist fraglich, ob das etwas geändert hätte, denn auch Balzac selbst hörte als glückloser Spekulant nicht auf die Ratschläge seiner Ro­man­fig­uren, obwohl es ihm an Erkenntnis offenbar nicht mangelte. Als Chronist seiner Epoche war der Urvater des Realismus in allen Gesellschaftss­chichten zu Hause, nichts Men­schliches war ihm fremd. Schließlich lebte er mitten unter den Geizhälsen und Emporkömmlingen, er betrog und wurde betrogen und jagte zeitlebens vergeblich dem Geld und der Liebe hinterher. Mit Eugénie Grandet gelang ihm ein echter Sen­sa­tion­ser­folg: Die Geschichte des armen, reichen Mädchens rührte sein Publikum zu Tränen. Bis heute gilt Balzacs beklemmende Darstellung des Geizes als unerreicht.

Take-aways

  • Eugénie Grandet ist ein Roman über die zerstörerischen Lei­den­schaften der Gier und des Geizes.
  • Inhalt: Der steinreiche Grandet tyran­nisiert seine Familie mit krankhaftem Geiz. Seine Tochter Eugénie verliebt sich in ihren verwöhnten Cousin Charles, dessen bankrotter Vater Selbstmord begangen hat. Bevor Charles von Grandet zum Geld­ver­di­enen nach Ostindien geschickt wird, schwört sich das Liebespaar ewige Treue. Doch Charles, der nichts von Eugénies reicher Erbschaft ahnt, bricht den Schwur. Eugénie flüchtet sich in die Wohltätigkeit.
  • Eugénie Grandet war einer von Balzacs ersten großen Erfolgen.
  • Die Handlung spielt zur Zeit der französischen Restau­ra­tion, als das Bürgertum an Einfluss gewann.
  • Einerseits beklagte Balzac den enthemmten Ma­te­ri­al­is­mus seiner Zeit, an­der­er­seits konnte er sich als – erfolgloser – Spekulant der Verlockung des Geldes nie entziehen.
  • Der Mensch wird laut Balzac wesentlich von seiner Umgebung geprägt.
  • In den 91 Werken seines Romanzyklus Die menschliche Komödie teilte er die Menschen in Sozialtypen ein und schuf so ein einzi­gar­tiges Gesellschaftspanorama.
  • Balzac urteilte: „Molière schuf den Geizhals, ich aber schuf den Geiz.“
  • Heute gilt er als Urvater des Realismus und als einer der größten französischen Romanciers aller Zeiten.
  • Zitat: „Das Haus in Saumur, das Haus ohne Sonne, ohne Wärme, das ohne Unterlass beschattete und schwermütige Haus, war das Abbild ihres Lebens.“
 

Zusammenfassung

Stillleben aus der Provinz

Der Böttcher­meis­ter und Winzer Grandet lebt mit seiner Frau, Madame Grandet, seiner Tochter Eugénie und seinem treuen Dienstmädchen Nanon im französischen Provinzstädtchen Saumur an der Loire. Seit der Revolution 1789 hat Grandet ein beträchtliches Vermögen angehäuft: Zunächst kaufte er zu Spottpreisen Kirchengüter auf, dann ließ er als Bürgermeister auf Kosten der Stadt Straßen zu seinen Besitzungen bauen und verlieh Geld zu Wucherzin­sen. In seiner abschließbaren Dachkammer weidet er sich Abend für Abend am Anblick seines wachsenden Gold­schatzes. Noch größer als sein Reichtum ist jedoch sein Geiz: Er lebt in einem schäbigen, nass­feuchten Haus, lässt sich von armen Pächtern mit Lebens­mit­teln und Brennholz beschenken, trägt seit 25 Jahren die gleichen abgewetzten Sachen und gönnt seiner Frau und seiner Tochter nichts. Wenn sie gerade nicht in der Kirche sind, sitzen die sklavisch unterwürfige Madame Grandet und die bescheidene Eugénie Tag für Tag im dunklen Salon und bessern die Wäsche des Hauses aus.

„Im Übrigen gebrauchte er gewöhnlich vier Sätze exakt wie al­ge­brais­che Formeln, um alle Schwierigkeiten im Leben und Beruf anzupacken und aufzulösen: Ich weiß nicht, ich kann nicht, ich will nicht, das werden wir sehen.“ (über Grandet, S. 18)

Natürlich erregt das Vermögen des Geizhalses die Fantasie seiner Mitbürger. Zwei Familien haben sich in Stellung gebracht, um die vermuteten Goldberge über eine Heirat mit der Erbin Eugénie in die Hände zu bekommen: die Cruchots und die des Grassins. Der alte Cruchot ist Grandets Notar und versucht, seinen hässlichen Neffen Bonfons als Bräutigam einzuführen. Dieser ist Gerichtspräsident in Saumur. Des Grassin ist der Bankier des alten Geizhalses. Dessen Frau, Madame des Grassin, versucht mit allen Mitteln, ihren Sohn Adolphe mit Eugénie zu verbandeln. Wer wird das Rennen machen? Keine Frage bewegt die Bürger von Saumur mehr.

Überraschen­der Besuch

An einem Abend Mitte November 1819 macht Nanon im Saal des kahlen Hauses zum ersten Mal im Jahr Feuer – Grandet wartet immer so lange wie möglich damit, um Brennholz zu sparen. Es ist Eugénies 23. Geburtstag, ihr Vater denkt über eine Ver­heiratung nach, und die Cruchots und des Grassins versuchen, einander mit Schme­icheleien und Geschenken zu übertreffen. An diesem Abend haben Letztere die Nase vorn: Adolphe überreicht dem Geburt­stagskind feierlich ein Nähkästchen mit golden glitzernden Utensilien. Dass es sich um billigen Schund handelt, weiß Eugénie nicht, und so erntet der junge Mann einen seligen Blick, der die Cruchots vor Neid erblassen lässt.

„,Heilige Jungfrau, wie hübsch ist mein Cousin‘, meinte Eugénie zu sich selbst und unterbrach ihr Gebet, das an diesem Abend nicht beendet wurde.“ (S. 74 f.)

Überraschend wird Besuch angemeldet: Es ist Grandets Neffe Charles aus Paris, der Sohn des Bruders, den er seit fast 23 Jahren nicht mehr gesehen hat. Der hübsche, fein her­aus­geputzte Dandy wirkt inmitten der schlichten Gesellschaft wie ein Pfau im Hühnerhof. Er war mit seinen 22 Jahren noch nie in der Provinz und hat seine erlesensten Kleider und den unnötigsten Firlefanz mitgebracht. Umso erstaunter ist er, seine Verwandten in diesem schäbigen Haus inmitten von unan­genehmer Gesellschaft anzutreffen. Hat sein Onkel nicht vor Kurzem noch das Schloss in Froidfond erworben? Oder hat Charles sich etwa in der Adresse geirrt? Während die Geburt­stagsgäste den Neuankömmling mis­strauisch beäugen, eilt Eugénie ins Gästezimmer und gibt sich Mühe, die öde Kammer für ihren zarten Cousin zu verschönern. Sie ersetzt das stinkende Talglicht durch Kerzen – im Haus Grandet der Gipfel des Luxus – und stellt ihm eine Dose Zucker hin.

Un­ver­hofftes Vaterglück

Grandet liest unterdessen den Brief seines Bruders, den dieser dem ah­nungslosen Charles mitgegeben hat: Er kündigt darin seinen Selbstmord an, weil er finanziell ruiniert sei und 4 Millionen Franc Schulden habe. Der Bruder bittet Grandet, sich wie ein Vater um Charles zu kümmern und ihn mit dem nötigen Kapital auszus­tat­ten, damit er sein Glück als Han­del­sreisender in Indien mache. Mit ungerührter Miene steckt der Alte den Brief in die Tasche und ve­r­ab­schiedet seine neugierig glotzenden Gäste. Den Neffen schickt er mit der Warnung ins Bett, er solle sich nicht um das Gerede der Leute kümmern: Zwar würden sie alle behaupten, er sei reich – in Wahrheit habe er aber keinen Sou.

„In Paris kann man einen Menschen erledigen, indem man von ihm sagt: Er hat ein gutes Herz. Dieser Satz bedeutet so viel wie: Der arme Junge ist dumm wie ein Rhinozeros.“ (Charles, S. 99)

Am nächsten Morgen betrachtet sich Eugénie im Spiegel. Sie ist groß und kräftig, von einer herben, frischen Schönheit, dennoch findet sie sich hässlich. Die Vor­bere­itung eines Frühstücks mit süßem Weißbrot gerät zum Kampf zwischen den Frauen und dem geizigen Alten, der jeden Tag die Vorräte abmisst, die Nanon verarbeiten darf. Während eines Spazier­gangs an der Loire hört Eugénie fassungslos mit an, wie ihr Vater seinem Notar mitteilt, er würde sie eher in den Fluss werfen als ihren Cousin heiraten lassen. Nebenbei erkundigt er sich nach dem Stand der Renten, und Cruchot empfiehlt ihm zu kaufen. Dann schlägt der Notar die Zeitung auf und liest den Artikel über den Selbstmord von Grandets Bruder in Paris. Das eiskalte „Ich habe es gewusst“ des alten Winzers lässt ihm das Blut in den Adern gefrieren.

Geld, Geld, Geld

Charles erscheint prächtig angezogen um elf Uhr zum Frühstück und verlangt ein Stück Rebhuhn. „Heilige Jungfrau“, seufzt Nanon. Als der alte Grandet den für seine Begriffe allzu reich gedeckten Tisch sieht, flucht er laut und schnappt sich Charles, um ihm im Garten den Ruin und Selbstmord des Vaters zu eröffnen. Er lässt seinen Neffen schluchzend zurück und erklärt den Frauen kurz und knapp die Lage: Charles sei mittellos und entehrt. Eugénie ist von Mitleid überwältigt. Obwohl sie vom Reichtum ihres Vaters keinen Schimmer hat, bittet sie ihn, Charles zu helfen. Aber Grandet denkt nicht daran. Stattdessen rechnet er sich auf der Zeitung, die den Tod seines Bruders vermeldete, mit dem Bleistift aus, wie er durch Speku­la­tio­nen mit Anleihen ein Vermögen machen kann. Und damit nicht genug: Mitten in der Nacht ersinnt er einen Weg, wie er die Ehre seines Bruders und damit die der Familie retten kann, ohne dass es ihn auch nur einen Sou kostet. Er will die Gläubiger so lange wie nötig hinhalten und sie so davon abhalten, den Ver­stor­be­nen für bankrott zu erklären. Monsieur des Grassin überredet er, nach Paris zu fahren und die Geschäfte für ihn zu erledigen, ohne dass er sich zu irgendetwas verpflichtet.

Ist es Liebe?

Eugénie kümmert sich inzwischen rührend um Charles. In der Nacht schaut das Mädchen nach ihm und findet ihn schlafend im Sessel. Vor ihm liegen zehn versiegelte und zwei offene Briefe. Mit klopfendem Herzen liest sie den an eine Frau namens Annette, Charles’ ver­heiratete Geliebte. Er ve­r­ab­schiedet sich darin von ihr und kündigt an, als Mittelloser sein Glück in Übersee zu suchen. Eugénie geht bei der Lektüre das Herz auf. Das Kalte und Berechnende, das zwischen den Zeilen hervorlugt, bleibt ihr verborgen. Sie holt ihren Goldmünzenschatz, die gesammelten Geburt­stags­geschenke ihres Vaters mit einem Gesamtwert von 5800 Franc, und überreicht ihn dem überraschten Charles. Dieser gibt ihr als Pfand ein kostbares, gold­verziertes Necessaire, ein Geschenk seiner ver­stor­be­nen Mutter. Eugénie soll das geliebte Stück für ihn aufbewahren. Von nun an sitzen die beiden Tag für Tag turtelnd auf der bemoosten Bank in dem kleinen, von den Mauern des Stadtwalls umgebenen Gärtchen. Im dunklen Hausflur geben sie sich verstohlen einen Kuss und versprechen einander ewige Liebe. Der Alte will seinen Neffen jedoch so schnell wie möglich loswerden, und so lässt er Charles alle notwendigen Dokumente und Verzicht­serklärungen un­ter­schreiben, kauft ihm für wenig Geld wertvollen Goldschmuck ab und schickt ihn auf die Reise.

Ein schwarzer Neujahrstag

Der Alltag in Saumur verläuft für die Frauen so gleichförmig wie eh und je – bis die Mutter Eugénie ein paar Tage vor Neujahr einen Riesen­schreck einjagt: Was wird passieren, wenn Grandet am Neujahrstag wie gewohnt ihren Goldschatz zu sehen verlangt? Und tatsächlich: Seine Speku­la­tio­nen waren so erfolgreich, dass er nun auch Eugénies Gold in Renten­pa­pieren anlegen will. Als diese ihm ruhig eröffnet, dass sie es nicht mehr habe, bricht sein Zorn wie die Sintflut über das Haus herein. Die Mutter wird krei­de­ble­ich und legt sich ins Bett. Eugénie stellt sich dem Vater tapfer entgegen und ar­gu­men­tiert, dass sie volljährig sei und über ihren Besitz frei verfügen könne. Doch ihr Vater verflucht sie und sperrt sie bei Wasser und Brot in ihr Zimmer. Seine Frau jammert, sie werde sterben, wenn er so weitermache. Aber ihre Worte bewegen den Alten nicht im Geringsten. Weder das Gerede der Saumurer, noch das Dahin­siechen seiner frommen Frau können den Alten erweichen. Erst als sein Notar ihm einflüstert, dass Eugénie nach dem Tod ihrer Mutter deren beträchtliches Erbe einfordern könnte, besinnt er sich. Als er sich mit Eugénie versöhnen will, überrascht er Mutter und Tochter dabei, wie sie Charles’ Necessaire betrachten. Sofort stürzt er sich wie ein Raubtier darauf und macht Anstalten, mit seinem Messer das Gold abzutrennen. Eugénie nimmt sich daraufhin ein anderes Messer und droht, sich umzubringen, wenn er das Kästchen anrühre. Der Alte zögert, blickt erst auf das Gold, dann auf seine Tochter, Madame Grandet fällt in Ohnmacht. Da erst gibt ihr Mann nach.

Die reiche Erbin

Madame Grandet stirbt im Oktober 1822. Kurz danach ruft der Alte seinen Notar zu sich, damit die Erbformalitäten in seinem Sinn geregelt werden. Eugénie un­ter­schreibt alles, was man ihr vorlegt, und verzichtet vor­be­halt­los auf ihre Erbschaft. Fünf Jahre später befällt den Alten eine Lähmung. Sein Geist lässt nach, aber immer noch beobachtet er jeden Abend, wie das ein­genommene Gold und Silber in sein Kabinett eingeschlossen wird. Den Schlüssel behält der an den Rollstuhl Gefesselte in seiner Wes­t­en­tasche. In den Wochen vor seinem Tod lässt er das Gold vor seinen Augen ausbreiten und betrachtet es stumpf und glückselig. „Du musst mir darüber Rechen­schaft ablegen dort oben“, sind seine letzten Worte an die einzige Tochter. Die nunmehr 30-jährige Eugénie sitzt ganz allein auf einem Besitz, der auf 17 Millionen geschätzt wird, und wartet auf die Rückkehr ihrer großen Liebe.

„Er liegt hingestreckt wie ein Kalb auf seinem Bett und weint wie die heilige Magdalena, es ist eine wahre Überschwem­mung.“ (Nanon über Charles, S. 110)

Was in Saumur niemand ahnt: Charles ist in all den Jahren durch den Sklaven­han­del reich geworden. Das Ken­nen­ler­nen ver­schiedener Länder und Bräuche hat ihn vom Glauben abfallen lassen. Aus dem ver­we­ich­lichten Jüngling ist ein abgeklärter, hartherziger Mann geworden. Im Jahr 1827 kehrt er mit 1,9 Millionen Franc nach Frankreich zurück. Auf der Überfahrt freundet er sich mit der verarmten Adligen Madame d’Aubrion an, die ihre hässliche Tochter verheiraten will. Sie machen ein Geschäft: Er bekommt mit der Tochter den Titel sowie die Aussicht auf einen ein­flussre­ichen Posten am königlichen Hof und die d’Aubrions einen Anteil an seinem Vermögen. Als Charles gerade seinen Hochzeit­sring aussucht, trifft er auf Monsieur des Grassin, der inzwischen nach Paris gezogen ist und seine Frau in Saumur hat sitzen lassen. Der Bankier bittet ihn um das restliche Geld, damit er die Schulden von Charles’ Vater tilgen kann – immerhin ist es ihm dank der Verzögerungstak­tik des alten Grandet gelungen, die Rest­forderun­gen von 1,2 Millionen auf 300 000 Franc zu drücken. Doch Charles denkt nicht daran. Nicht einmal die Drohung, dass die Gläubiger seinen Vater postum für bankrott erklären werden, beeindruckt ihn.

Zertrümmerte Liebe

Anfang August erhält Eugénie einen Brief von Charles: Pragmatisch berichtet er ihr von der geplanten Heirat mit der jungen Aris­tokratin, die er zwar nicht liebe, die ihm aber maximalen Nutzen einbringe. Sie, Eugénie, müsse einsehen, dass ihr beschei­denes Leben nicht zu ihm passe. Außerdem gibt er ihr das geliehene Gold mit Zinsen zurück und bittet sie, ihm das Necessaire per Post zuzusenden. Eugénie ist verzweifelt. Äußerlich bleibt sie gefasst, aber ihre Seele ist ein Trümmerfeld. Als sie vom drohenden postumen Bankrott ihres Onkels erfährt, erklärt sie sich bereit, Bonfons zu heiraten – unter zwei Bedingungen: Erstens dürfe er sie nie anrühren, und zweitens soll er nach Paris reisen und mit ihrem Geld die ausste­hen­den Schulden des Onkels plus Zinsen begleichen. Er beeilt sich, den Auftrag auszuführen.

„Das Leben des Geizhalses ist eine ständige Machtausübung im Interesse der eigenen Person.“ (S. 123)

Charles hat gerade erfahren, dass er nicht eher heiraten kann, bis alle Gläubiger seines Vaters ausbezahlt sind, als Gerichtspräsident Bonfons ihn aufsucht. Mit einem schaden­fro­hen Grinsen überreicht dieser ihm die Emp­fangs­bestätigung der Gläubiger über 1,5 Millionen Franc sowie einen Brief von Eugénie. Zu spät begreift Charles, was für eine reiche Beute ihm durch die Lappen gegangen ist. Bonfons macht nun am Gericht und in der Politik Karriere. Er spekuliert auf Eugénies baldigen Tod; den Heiratsver­trag hat er so aufgesetzt, dass der Ehepartner alles erbt. Doch er selbst stirbt drei Jahre nach der Hochzeit, sodass Eugénie sein gesamtes Vermögen zuge­sprochen wird. Die jungfräuliche Witwe lebt so bescheiden wie eh und je in ihrem alten Haus. Das Einzige, was sie sich leistet, ist Barmherzigkeit. Sie gründet christliche Schulen, lässt die Kirche verschönern und stiftet der öffentlichen Bibliothek Bücher. Schließlich beginnen die Saumurer über eine erneute Heirat mit einem adligen Witwer zu spekulieren. Doch nichts könnte Eugénie ferner liegen.

Zum Text

Aufbau und Stil

Eugénie Grandet ist nicht in Kapitel unterteilt. Schon allein aus Mangel an Gelegenheit möchte man die Lektüre daher nicht un­ter­brechen. An die einführende Rahmenerzählung über Mauern, Menschen und Marotten in Saumur schließt sich nahtlos die jahrelange Lei­dens­geschichte der Titelheldin an. Eine Atempause gönnt der Autor dem Leser nicht. Ein all­wis­sender Erzähler führt ihn mit einem de­tail­vers­esse­nen Adlerauge fürs überirdisch Schöne und abgrundtief Hässliche in die schnöde französische Provinz. Deren Bewohner seziert er unter dem Mikroskop wie ein Biologe sein Ver­such­skan­inchen. Balzac produzierte mit der Feder so gestochen scharfe Bilder, dass die Porträtierten heutzutage sofort nach Photoshop schreien würden, um ihre Makel zu re­tuschieren – etwa wenn dem alten Geizhals eine fiese Geschwulst von der Nase baumelt oder wenn dessen Frau mit quit­ten­gelbem, ver­schrumpel­tem Obst „ohne Saft und Süße“ verglichen wird. Anders als die Stars und Sternchen in den Hochglanz­magazi­nen wirken diese knapp 200 Jahre alten Ro­man­fig­uren erfrischend echt; so echt, dass man glaubt, ihnen schon mal über den Weg gelaufen zu sein.

In­ter­pre­ta­tion­sansätze

  • Eugénie Grandet beschreibt, wie die Lei­den­schaft des Geizes eine ganze Familie zerstört: Die krankhafte Liebe zum Gold macht den alten Grandet zum gottlosen Gesellen, der das Glück seiner Tochter mit Füßen tritt, sie um ihr Erbe prellt und die eigene Frau in den Tod treibt.
  • Der Royalist Balzac beklagt, dass im nachrev­o­lu­tionären Frankreich der Glaube an Gott und den König einem hem­mungslosen Ma­te­ri­al­is­mus gewichen ist und das Geld zu göttlichem Rang erhoben wurde. Die meisten Ro­man­fig­uren kennen im Leben nur ein Ziel: so schnell und mühelos wie möglich reich zu werden. So fällt auch Eugénies Glück der grassieren­den Gier zum Opfer, aber es gelingt ihr, das grausame Erbe ihres Vaters durch christliche Barmherzigkeit und den Glauben ans Jenseits zu überwinden.
  • Der Mensch wird von seiner Umgebung geprägt, davon ist Balzac überzeugt. Im Roman steht dafür das dumpf-säuerliche Haus, in dem Eugénie ihr Dasein fristet und dem sie trotz ihrer Millionen zu Lebzeiten nicht entkommt. So wie die Zoologie ver­schiedene Arten und Gattungen un­ter­schei­det, unterteilt der Autor die Menschen in Sozialtypen, die das Gesellschaftspanorama seines Romanzyklus Die menschliche Komödie bevölkern.
  • Wie viele seiner Ro­man­fig­uren war auch Balzac vom Geld besessen. Im Gegensatz zu Grandet rann es dem ver­schwen­derischen Lebemann und erfolglosen Spekulanten aber zeitlebens durch die Finger. Wenn er die spektakulären Geschäfte des alten Geizhalses im Detail beschreibt, mag darin neben Verachtung auch ein bisschen Neid mitschwin­gen. Der Autor war zugleich Kind und Kritiker seiner Zeit.
  • Balzac gilt als Urvater des Realismus: Ähnlich wie die Romantiker fürchteten die Realisten den Niedergang der Menschheit. Doch sie setzten dem Pessimismus wis­senschaftliche Erken­nt­nisse entgegen, in der Hoffnung, dass eine möglichst exakte Beschrei­bung der Wirk­lichkeit diese zum Positiven verändern würde. Die Realisten standen den Soziologen, Natur­forsch­ern und Historikern näher als etwa den Lyrikern und Dramatikern, und sie trugen maßgeblich dazu bei, dass der Roman im 19. Jahrhundert zur wichtigsten lit­er­arischen Gattung aufstieg.

His­torischer Hintergrund

Die französische Restau­ra­tion

Eugénie Grandet spielt zur Zeit der französischen Restau­ra­tion. Der Sturm auf die Bastille lag bereits 30 Jahre zurück, Napoleon hatte seine letzte Schlacht verloren, und die Bour­bo­nen­monar­chie war wieder­hergestellt. Doch das Land war tief gespalten in ein ul­tra­roy­al­is­tis­ches und ein bürg­er­lich-lib­erales Lager. Die Ultras versuchten, die Uhr auf die vor­rev­o­lu­tionäre Zeit zurückzudrehen und beispiel­sweise rückkehrende Emigranten für Verluste während der Revolution zu entschädigen. Doch das ließen die nach 1789 zu Geld gekommenen Bürger nicht mit sich machen. Während der Julirev­o­lu­tion 1830 jagten sie den an­ti­demokratis­chen König Karl X. aus dem Amt, und die Deputiertenkam­mer setzte den „Bürgerkönig“ Louis-Philippe ein.

Die Gesellschaft schien kopfzuste­hen: Zwar hatte es auch vor der Revolution reiche Händler und Handwerker gegeben, doch im Rahmen der alten Ständeordnung hatten diese sich den sozialen Aufstieg nicht erkaufen können. Nun, da die In­dus­tri­al­isierung an Fahrt gewann und die Nachfrage nach Kapital wuchs, regierte Geld die Welt. Großbürgerliche Bankiers und Aktionäre, Grundstücksspeku­lanten und Großhändler, die unter Napoleon zu Verdiensten gekommen waren, bildeten die neue Oberschicht. Für die Glücksritter gab es nach oben kaum Grenzen – vo­raus­ge­setzt, sie hatten Geld. Schließlich ließen sich immer verarmte Adlige finden, die ihre Kinder im Austausch für ein gesichertes Auskommen mit Bürgerlichen ver­heirateten oder ihre Schlösser verkauften. Am Ende wurden Ultras und Bürgerliche einander immer ähnlicher, denn der sich ent­fes­sel­nde Kap­i­tal­is­mus ließ die Grenzen zwischen ihnen ver­schwim­men.

Entstehung

Balzac stammte selbst aus einfachen, prov­inziellen Verhältnissen und träumte davon, einmal auf der „geliebten Mil­lio­nen­straße“ spazieren zu gehen. „In mir stecken zwei Menschen, der Künstler und der Finanzmann“, charak­ter­isierte er sich selbst. Als Letzterer scheiterte er spektakulär und häufte bis zu 200 000 Franc Schulden an, und das in einer Zeit, als bescheidene Menschen mit 1000 Franc ein ganzes Jahr lang über die Runden kamen. Ständig war er auf der Flucht vor seinen Gläubigern. „Niemand ahnt, was es heißt, Tinte in Gold verwandeln zu müssen“, schrieb er an seine Geliebte und spätere Ehefrau, die Gräfin Eva Hanska. Aufgeputscht durch Unmengen an Kaffee arbeitete er Nacht für Nacht an seiner auf 137 Einzelwerke angelegten Men­schlichen Komödie. Die vollendeten 91 Romane bilden einen lit­er­arischen Kosmos, der von mehr als 2000 Figuren bevölkert wird.

Eugénie Grandet entstand zwischen August und November 1833 und gehört zur Untergruppe Szenen aus dem Prov­in­zleben, ein Leben, in das Balzac alljährlich eintauchte. Der ewige Bankrotteur konnte mietfrei im Schloss Saché im Loiretal wohnen, das einem ehemaligen Liebhaber seiner Mutter gehörte. Getreu seinem Leitspruch „Die französische Gesellschaft sollte der Historiker sein, ich nur ihr Sekretär“ sammelte er während seiner Aufenthalte in der Provinz Material. Ver­schiedene Geizhälse aus Saumur und Umgebung wurden als Modelle für Grandet iden­ti­fiziert, und Eugénie soll der damaligen Geliebten Balzacs ähneln. Die Suche nach lebenden Vorbildern erscheint jedoch müßig, wenn man bedenkt, dass dem Autor die fiktiven Geschöpfe oft realer erschienen als das eigene Leben: „Besinnen wir uns auf die Wirk­lichkeit“, soll er einmal gesagt haben, „sprechen wir von Eugénie Grandet.“

Wirkungs­geschichte

Tatsächlich sprach ganz Paris von ihr, als die Geschichte im September 1833 in der Zeitschrift L’Europe littéraire erschien: Vor allem die Französinnen konnten sich nicht sattlesen an Eugénies Liebesdrama, das Balzac mit einem für Männer damals außergewöhnlichen Einfühlungsvermögen beschrieb. Die Buchfassung von 1834 wurde sein erster Bestseller. „Molière schuf den Geizhals, ich aber schuf den Geiz“, urteilte Balzac nicht unbeschei­den – und niemand hat dem je wider­sprochen. Der junge Fjodor Dostojewski war von dem Roman so begeistert, dass er ihn 1843 ins Russische übersetzte.

Zu Lebzeiten von der Académie française wegen seines angeblich nachlässigen Schreib­stils verschmäht, gilt Balzac heute neben Molière und Victor Hugo als einer der hellsten Sterne am französischen Lit­er­aturhim­mel. Sein Name steht stel­lvertre­tend für den Romanstil „à la Balzac“, bei dem ein all­wis­sender Erzähler am Beispiel re­al­is­tis­cher Einzelschick­sale die Gesellschaft so authentisch wie möglich abbildet. Charaktere wie der Emporkömmling Rastignac oder der Geizhals Grandet sind in Frankreich so bekannt wie Werther und Faust in Deutschland. Die Liste seiner lit­er­arischen Erben und Verehrer ist lang: Sie reicht von den Realisten Gustave Flaubert und Charles Dickens über den modernen Marcel Proust bis hin zum post­mod­er­nen Michel Butor und zum Musikpoeten Bob Dylan. Selbst Friedrich Engels gestand, mehr von dem „großartigen alten Burschen“ und reaktionären Monar­chis­ten Balzac gelernt zu haben als von allen Ökonomen und Historikern zusammen.

Über den Autor

Honoré de Balzac wird am 20. Mai 1799 in Tours geboren. Sein Vater, der Sohn eines Bauern, hat sich zum leitenden Beamten hochgear­beitet, seine Mutter stammt aus gutbürgerlicher Familie. 1814 zieht die Familie Balzac nach Paris. Ein Jurastudium bricht der junge Balzac ab, um Schrift­steller zu werden. Lange Jahre ist er erfolglos. Er macht Schulden, die ihn für den Rest seines Lebens drücken werden, als er sich 1826 als Verleger versucht und eine Druckerei kauft, die zwei Jahre später Konkurs anmelden muss. 1829 stellt sich erster schrift­stel­lerischer Erfolg ein, der ihm Zutritt zu Adel­skreisen verschafft. Er führt ein Leben über seine Verhältnisse und hat viele Lieb­schaften mit zumeist ver­heirateten Damen. 1832 tritt die ukrainische Gräfin Eva Hanska mit ihm in Briefkon­takt. Die beiden schreiben sich 18 Jahre lang und sehen sich gele­gentlich auf Reisen, bis sie ihn wenige Monate vor seinem Tod schließlich heiratet. Balzac schreibt einen Roman nach dem anderen. Er fasst seine Werke bereits früh in Gruppen zusammen. Während der Entstehung eines seiner bekan­ntesten Texte, Le père Goriot (Vater Goriot, 1834/35), hat er die Idee, dieselben Ro­man­fig­uren in ver­schiede­nen Werken auftreten zu lassen und so ein überschaubares, vielfältig verwobenes Ro­ma­nuni­ver­sum zu schaffen. Das Projekt der Comédie humaine, der Men­schlichen Komödie, entsteht mit seinen Großgruppen und Un­ter­grup­pen und dem Ziel, ein umfassendes Sittengemälde von Balzacs Zeit zu entwerfen. Dafür erlegt sich der Schrift­steller ein unglaubliches Ar­beit­spen­sum auf, schreibt oft bis zu 17 Stunden am Tag. 91 der 137 geplanten Romane und Erzählungen kann er fer­tig­stellen. Zu den bekan­ntesten zählen Illusions perdues (Verlorene Illusionen), Eugénie Grandet, Splendeurs et misères des courtisanes (Glanz und Elend der Kurtisanen) und La peau de chagrin (Das Cha­grin­leder). Balzac gilt zusammen mit Stendhal und Flaubert als der Begründer des lit­er­arischen Realismus in Frankreich. Die ständige Übe­ranstren­gung ruiniert seine Gesundheit, er stirbt am 18. August 1850 in Paris.