Glanz und Elend der Kurtisanen

Buch Glanz und Elend der Kurtisanen

Paris, 1838 bis 1847
Diese Ausgabe: Diogenes,


Worum es geht

Verkaufte Körper, verkaufte Seelen

Der 800-Seiten-Schmöker Glanz und Elend der Kurtisanen kann als Schlüssel zum Verständnis von Balzacs ausuferndem Romankosmos gesehen werden: Hier bekommt man im Kern vorgeführt, worauf die ganze 91-bändige Menschliche Komödie hinausläuft, denn nirgendwo sonst zeigt der Autor so viele un­ter­schiedliche Milieus, deren Vertreter allesamt von ihren Lei­den­schaften bestimmt sind und zwischen Glück und Verzwei­flung taumeln. Sie gieren entweder nach Geld, Ansehen oder Liebe. Der mächtigen dämonischen Zen­tral­figur des Romans, Jacques Collin, ist die gesellschaftliche Anerkennung verwehrt, weil er ein dem Zuchthaus entflohener Verbrecher ist. Er wählt sich den schönen, jungen, aber schwachen Lucien zum Stel­lvertreter und schließt mit ihm einen faustischen Pakt: Wenn er sich ihm blind verschreibt, wird er sein Glück machen. Lucien jedoch verliebt sich un­vorteil­haft in die schöne Kurtisane Esther, und eine rasante Achter­bah­n­fahrt der Gefühle beginnt, in deren Verlauf taktiert, intrigiert und spioniert wird. Schließlich gerät alles außer Kontrolle – bis auf die meis­ter­hafte Balzac’sche Erzählkunst.

Take-aways

  • Glanz und Elend der Kurtisanen ist beispiel­haft für Balzacs Gesamtwerk: Der Roman zeigt ein Panorama aller Gesellschaftss­chichten.
  • Inhalt: Lucien und die Kurtisane Esther lieben sich, doch auch der alte Baron de Nucingen ist in Esther verliebt. Lucien soll die adlige Clotilde heiraten, um den Ehrgeiz des Verbrechers Jacques Collin zu befriedigen, dem er sich in einem dunklen Moment ver­schrieben hat. Nucingen verliert viel Geld, Esther und Lucien bringen sich um, nur Collin lebt weiter – und wird Polizeichef.
  • Das Buch ist die Fortsetzung des Romans Verlorene Illusionen, in dem Lucien sich als Dichter und Journalist versucht.
  • Glanz und Elend der Kurtisanen ist Teil des 91-bändigen Romanzyklus Die menschliche Komödie.
  • Alle Figuren sind beherrscht von der Macht ihrer Lei­den­schaften.
  • Zahlreiche Schlacht­feld- und Ur­wald­meta­phern verdeut­lichen, dass das Überleben und Weit­erkom­men in der Gesellschaft ein Kampf ist.
  • Die Gesellschaft­skri­tik ist sehr deutlich: Am Ende hat ein Schw­erver­brecher die Pariser Justiz in der Hand.
  • Die Hauptfigur Jacques Collin ist der erste Ho­mo­sex­uelle der französischen Literatur.
  • Balzac war einer der Hauptvertreter des französischen Realismus.
  • Zitat: „Sie sind die Poesie des Bösen.“ (Lucien an Collin)
 

Zusammenfassung

Eine heimliche Liebe

Paris im Jahr 1824: Nachdem er zuvor lange von der gesellschaftlichen Bildfläche ver­schwun­den war, taucht der junge Lucien de Rubempré auf dem Opernball auf. Seine Schönheit und Eleganz erregen das Interesse vieler Frauen und den Neid der Männer, zumal er jetzt den adligen Namen seiner Vorfahren mütter­lich­er­seits trägt. Die Zeiten, in denen er als Dichter und Journalist durchs Leben gezogen ist, scheint er hinter sich gelassen zu haben; er hat jetzt höhere Ambitionen, die ein un­heim­licher Maskierter in seinem Schlepptau vehement befördert. Lucien ist auf dem Ball mit Esther verabredet, der schönsten Kurtisane von Paris. Sie liebt Lucien und er sie. Obwohl sie eine Maske trägt, erkennt ein ehemaliger Liebhaber sie und ruft ihren Namen – ein fürchter­licher Schlag für Esther, die ihre Ver­gan­gen­heit vor Lucien verbergen wollte. Sie ist dem Selbstmord nahe, als sie von Luciens un­heim­lichem Mentor aufgesucht wird. Dieser stellt sich als Priester namens Carlos Herrera vor. Er ist grausam zu ihr und macht ihr zugleich Hoffnungen: Sie soll in einer geistlichen Anstalt un­ter­richtet werden, damit nichts mehr an ihr an das Freudenmädchen von einst erinnere. So soll sie ihres Liebhabers würdig werden.

„Ver­schreiben Sie sich einem Mann Gottes, wie man sich dem Teufel verschreibt – und Sie werden alle Aussichten auf ein neues Dasein haben. Sie werden wie im Traum leben, und das ärgste Erwachen kann Ihnen auch nichts Schlimmeres bringen als den Tod, den Sie doch eben suchen wollten.“ (Jacques Collin zu Lucien, S. 125 f.)

In diesem Mädchen­pen­sionat lernt Esther, mit 18 Jahren erst, lesen und schreiben und wird mit großer Inbrunst katholisch. Bald un­ter­schei­den sich ihre Um­gangs­for­men nicht mehr von denen der höheren Töchter. Weil sie aber unter der Trennung von Lucien leidet, wird sie krank. Und auch Lucien verliert all seine Lebenslust, weil Esther ver­schwun­den ist. Carlos Herrera führt die beiden schließlich wieder zusammen, in einer Wohnung, die Esthers Gefängnis sein wird, weil, so Herrera, die Welt nichts von dieser Liebe wissen darf: Lucien soll eine Frau heiraten, die seine ehrgeizigen Pläne vorantreibt, nicht behindert. Herrera gibt Esther zwei Auf­passerin­nen zur Seite, eine Kammerzofe, die er Europe, und eine Köchin, die er Asie nennt. Esther darf nur nachts das Haus verlassen, um im Wald spazieren zu gehen. Sie ist sehr erschrocken darüber, dass Lucien den Befehlen dieses Mannes, der laut Lucien gar kein Priester ist, blind gehorcht – er kommt ihr vor wie der Teufel. Aber aus Liebe fügt sie sich in ihr Schicksal und lebt ganz für Lucien, während dieser neben seiner Lei­den­schaft für Esther an seinem gesellschaftlichen Aufstieg arbeitet – Affären mit hochgestell­ten Damen inbegriffen. Zu Beginn des Jahres 1829 wird über seine Ver­heiratung mit der ältesten Tochter der Duchesse de Grandlieu spekuliert. Sie heißt Clotilde und ist aus­ge­sprochen unattraktiv, aber diese Verbindung würde ihm den Titel eines Marquis einbringen und ihn vermutlich auf einen Botschafter­posten befördern. Die Familie Grandlieu knüpft die Heirat an die Bedingung, dass Lucien ein Gut im Wert von 1 Million Franc besitzt.

Ein alter Mann verliebt sich

Auf einer von Esthers nächtlichen Ausflügen erhascht der alte Großbankier Baron de Nucingen zufällig einen kurzen Blick auf sie. Er verliebt sich sofort, zum ersten Mal in seinem Leben. Fortan setzt er alles daran, Esther ausfindig zu machen. Er engagiert einen der besten Spitzel der Stadt, den Polizeia­gen­ten Peyrade, der bald Lucien auf die Spur kommt. Denn dieser hat sich bei einem Abendessen in Gesellschaft verdächtig gemacht: Er lächelte, als er in der Beschrei­bung der unbekannten Frau, die der Baron sucht, Esther erkannte. Als Carlos Herrera davon erfährt, sieht er in der Liebe des Barons die Möglichkeit zur Lösung aller fi­nanziellen Probleme – denn Lucien hat mit seinem ver­schwen­derischen Lebensstil hohe Schulden angehäuft: Herrera will Esther möglichst teuer an den Baron verkaufen. Lucien ist anfangs schockiert, widersetzt sich schließlich aber wieder nicht.

Luciens Pakt mit Jacques Collin

Sein blinder Gehorsam rührt daher, dass er mit dem falschen Priester einen Pakt geschlossen hat. Lucien war kurz davor, sich zu ertränken, als er den aus dem Zuchthaus entflohenen Verbrecher Jacques Collin auf der Landstraße traf. Der ehemalige Sträfling hatte die Verkleidung des Priesters gewählt, um unerkannt zu bleiben. Den wirklichen Carlos Herrera, der in einer politischen Mission nach Frankreich geschickt worden war, hatte er ermordet und war in dessen Soutane geschlüpft. Als er Lucien traf, erschien dieser ihm als das ideale Werkzeug seiner Lebens- und Machtgier: Er schickte ihn als seinen Stel­lvertreter in die Gesellschaft, um sich an ihr zu rächen. Lucien versprach er ein traumhaftes Leben, unter der Vo­raus­set­zung, dass dieser sich ihm ganz verschrieb. Lucien ließ sich darauf ein.

Esther wird verkauft

Um Peyrade zu täuschen, lässt Collin Esther vorübergehend ver­schwinden und tauscht sie gegen eine englische Pros­ti­tu­ierte aus, die zwar ebenfalls außergewöhnlich schön ist, Esther aber nicht im Geringsten ähnelt. Corentin, Peyrades Kollege und Chefspion bei der Polizei, verkündet dem Baron, man habe Esther gefunden. Er gibt ihm die Adresse der Wohnung. Europe macht den Baron um 30 000 Franc ärmer, damit er ihre Herrin sehen kann – und als er die blonde Engländerin erblickt, muss er erkennen, dass er herein­gelegt wurde. Das Feilschen um Esther geht weiter; dabei tut Collin so, als sei Esther hoch verschuldet und als müsste der Baron sie retten. Esther ist verzweifelt, als sie den alten, dicken Baron zum ersten Mal sieht; er hingegen ist überglücklich. Er verbringt die Nacht auf einem Diwan, sie schließt sich weinend im Schlafz­im­mer ein. So keusch bleibt ihr Verhältnis lange Zeit. Sie hält den Baron geschickt hin und vertröstet ihn schließlich auf das Ein­wei­hungs­fest des Hauses, das er für sie palastähnlich herrichten lässt – sie kann den Gedanken nicht ertragen, Lucien untreu werden zu müssen. Nach außen hin aber wird sie, auf Druck von Jacques Collin, wieder zur Lebedame: Sie lässt sich mit dem Baron sehen und ist dank ihrer Schönheit und ihres Witzes bald ein gesellschaftlicher Magnet, die Königin der Kurtisanen. Peyrade, der dahin­terkom­men will, wer ihm eine Falle gestellt hat, gibt sich als Engländer aus und wird der neue Galan einer in Not geratenen Freundin von Esther, Madame de Val-Noble. Bald gehen ihm ver­schiedene Zusammenhänge auf. Jacques Collin wiederum hat den Verdacht, dass es sich um einen falschen Engländer handelt. Die feindlichen Lager belauern einander.

Enttäuschte und Tote

Corentin schreibt einen anonymen Brief an den Duc de Grandlieu, in dem er ihn wissen lässt, dass Luciens Vermögen aus unlauterer Quelle stamme; Grandlieu solle in dieser Sache lieber Nach­forschun­gen anstellen. Das tut dieser und verwehrt Lucien den Zutritt zu seinem Haus, bis die Sache geklärt ist. Ein herber Schlag für Lucien. Auf einem Mit­ter­nachtssouper bei Esther treffen die Gegner aufeinander: Peyrade als falscher Engländer mit Esthers Freundin Madame de Val-Noble, Lucien und natürlich Nucingen. Die maskierte Asie nimmt Peyrade beiseite und erpresst ihn: Seine Tochter Lydia sei entführt worden und er werde sie nur unversehrt wiedersehen, wenn Lucien Clotilde de Grandlieu heirate. Und sollte Lucien nicht binnen zehn Tagen wieder im Hause Grandlieu empfangen werden, dann werde Peyrade sterben und seine Tochter geschändet sein. Der verstörte Peyrade will Corentin informieren, doch dieser ist für zehn Tage verreist: Im Auftrag des Duc de Grandlieu ist er unter falschem Namen zu Luciens Schwester gefahren. Dort soll er in Erfahrung bringen, ob Luciens Geld, wie von ihm behauptet, von ihr stammt. Das Ergebnis entspricht den Erwartungen: Schwester und Schwager wissen von nichts. Jacques Collin indes macht Ernst: Bei einem Gegensouper bei Madame de Val-Noble zehn Tage später wird Peyrade zugeflüstert, seine Tochter Lydia sei wieder da, aber in einem fürchter­lichen Zustand. Unterdessen ist Corentin auf dem Weg zu Peyrade und trifft auf der Straße die völlig verstörte Lydia. Er bringt sie nach Hause, wo kurz darauf Peyrade eintrifft, außer sich über den Zustand seiner irrsinnig gewordenen Tochter. Immerhin erkennt sie noch ihren Vater – der dann hinsinkt und stirbt, vergiftet durch die Hand der Köchin Asie.

Ein Selbstmord mit Folgen

Esther besorgt sich Giftpillen, die zuverlässig töten. Sie zeigt sich jetzt, kurz vor dem Ein­wei­hungs­fest ihres prächtigen Hauses, reizend gegenüber Nucingen, und er glaubt sich endlich geliebt. Lucien sagt Esther, dass er sie heiraten werde, wenn aus der Hochzeit mit Clotilde nichts werden sollte. Nach dem prächtigen Ein­wei­hungs­fest und seiner „Hochzeit­snacht“ mit Esther erfährt Nucingen von seinem Agenten nicht nur, dass Esther die Rente verkauft hat, die er für sie abgeschlossen hat, sondern auch, dass sie 7 Millionen Franc erbt – sie ist die einzige Erbin ihres Großonkels, des alten Wucherers Gobseck. Nucingen eilt zu Esther, um ihr das mitzuteilen – und findet sie tot in ihrem Bett. Dem Baron kommt der Verdacht, sie könne wegen der 750 000 Franc vom Verkauf der Rente umgebracht worden sein. Er fragt die Dienstleute, wo das Geld geblieben ist. Europe und Paccard, ein weiterer Un­tergebener Jacques Collins, sehen in diesem Moment die Gelegenheit ihres Lebens und finden tatsächlich, nachdem Nucingen gegangen ist, die Scheine unter dem Kopfkissen der Toten. Die beiden beschließen, mit dem Geld durchzubren­nen und ein anständiges Leben zu führen. Als Collin von Esthers Millionen erfährt, fälscht er ein Testament, in dem Lucien alles vermacht wird, was Esther besitzt, und legt es unter das Kopfkissen der Toten. Unterdessen geht Nucingen zur Polizei und zeigt einen Raubmord an. Jacques Collin und Lucien werden getrennt voneinander verhaftet.

Vor Gericht

Der zuchthauser­fahrene Jacques Collin hat auch im Un­ter­suchungs­gefängnis die Zuversicht in Bezug auf seine eigene Geschick­lichkeit und in die von Asie nicht verloren: Ihr gelingt es in den ver­schieden­sten Verklei­dun­gen immer wieder, mit ihm in Kontakt zu treten. Collins Sorge ist vor allem, dass Lucien mit einem Geständnis alles verderben könnte. Tatsächlich ist dieser am Boden zerstört und trägt sich mit Selb­st­mordgedanken. Die Verhaftung des spanischen Priesters und des stadt­bekan­nten Dandys Lucien ist schnell in aller Munde. Die Comtesse de Sérizy, Luciens neueste Geliebte, ist krank vor Sehnsucht nach ihm und würde alles für ihn tun. Asie, die in Wirk­lichkeit Jacqueline Collin heißt und Jacques Collins Tante ist, mobilisiert sie und Luciens vorherige Geliebte, die Duchesse de Maufrigneuse, damit sie sich für Lucien verwenden. Sie sollen verhindern, dass Lucien verhört wird. Doch zunächst verhört Un­ter­suchungsrichter Camusot den Priester. Das Verhör dreht sich vor allem um seine Identität, denn der Verdacht, dass er der berühmte Verbrecher Jacques Collin ist, steht von Anfang an im Raum. Wenn er wirklich der Schw­erver­brecher wäre, wäre auch Luciens Mitschuld größer und die Mordtheorie wahrschein­licher. Doch Collin schlägt sich dank seiner Intelligenz und Schaus­pielkunst her­vor­ra­gend – er hat auf alles eine plausible Antwort. Seine Beziehung zu Lucien erklärt er damit, dass dieser sein leiblicher Sohn sei. Selbst die Gefäng­nis­brand­male auf seiner Schulter hat er mit vielen weiteren Ver­let­zun­gen, die er sich selbst beigebracht hat, unkenntlich gemacht, außerdem hat er sein Gesicht mit Säure entstellt. So fallen auch Gegenüberstel­lun­gen nicht eindeutig aus. Der Mord­ver­dacht wird schließlich dadurch ausgeräumt, dass Esthers Ab­schieds­brief an Lucien gefunden wird.

Luciens Ende

Der Brief von Luciens Fürsprecherin­nen hingegen erreicht den Un­ter­suchungsrichter zu spät: Lucien wird in den Verhörsaal geführt. Der tief Gefallene ist nach wie vor verstört und ohne Hoffnung. Camusot hat kein Interesse mehr daran, Lucien zu verurteilen, er verhört ihn mehr, um seine Zeu­ge­naus­sage im Fall der entwendeten 750 000 Franc zu bekommen. Doch Lucien, verzweifelt und außerstande, sich taktisch zu verhalten, verrät ohne Not die Identität Jacques Collins – und belastet sich wegen der Kom­plizen­schaft mit dem Schw­erver­brecher zudem selbst. Nach dem Verhör zeigen sich sowohl der Gen­er­al­staat­san­walt, ein Freund des Comte de Sérizy, als auch Madame de Sérizy unzufrieden mit Camusot. In dessen Büro wirft Luciens Geliebte die Verhörakten ins Feuer. Lucien in seiner Zelle ist jetzt noch verzweifel­ter, weil er so un­sol­i­darisch war, seinen Komplizen zu verraten, und dadurch erst sich selbst ins Verderben gestürzt hat. Hätte er Haltung bewahrt, wäre er nun der Erbe von Esthers Millionen und könnte Clotilde de Grandlieu heiraten. Er schreibt sein Testament, einen Ab­schieds­brief an Collin und außerdem einen Widerruf seiner Verhöraussagen. Dann erhängt er sich in seiner Zelle. Als Madame de Sérizy von Luciens Tod erfährt, stößt sie einen entset­zlichen Schrei aus und wird wahnsinnig. Auch Collin schreit markerschütternd und verliert jede Fassung. Er verbringt eine Nacht neben dem Leichnam.

Jacques Collin erfindet sich neu

Collin gibt die Rolle des spanischen Priesters auf. Geschickt nutzt er In­for­ma­tio­nen von alten Sträflings­bekan­nten und deckt einen Fall von Korruption bei der Sicher­heit­spolizei auf; außerdem besitzt er kom­pro­mit­tierende Briefe von Madame de Sérizy und Madame de Maufrigneuse an Lucien. Damit hat er die Justiz in der Hand und erreicht, dass sein Widersacher Corentin ihn als ebenbürtig anerkennt und ihn zum neuen Chef der Sicher­heit­spolizei macht.

Zum Text

Aufbau und Stil

Der 800 Seiten starke Roman ist in vier Teile gegliedert. Eine weitere Un­terteilung in Kapitel ist nicht vorhanden. In die breit angelegte Sit­ten­schilderung mit unzähligen Figuren und Neben­hand­lungssträngen lässt Balzac auch ausführliche Beschrei­bun­gen, z. B. des Pariser Gefängnisses, und historische Exkurse einfließen, etwa über die Entwicklung des Jus­tizsys­tems. Der allwissende Erzähler hält nicht mit psy­chol­o­gisieren­den und gesellschaft­skri­tis­chen Kommentaren sowie Vo­raus­deu­tun­gen hinter dem Berg. Die Figuren sind allesamt sehr plastisch geschildert, und ihre heftigen Gefühle führen zu extremen Handlungen. Charak­ter­is­tisch für Balzacs re­al­is­tis­ches Erzählkonzept ist außerdem, dass er die Figuren durch ihre Sprechweise in ihrer sozialen Zugehörigkeit charak­ter­isiert: So ergehen sich die Adligen in vornehmen In­di­rek­theiten, auch wenn sie Drohungen aussprechen, und die Sträflinge sprechen ein blumiges Argot, das Französisch der Bettler und Gauner, das den Zeitgenossen nur teilweise verständlich gewesen sein dürfte.

In­ter­pre­ta­tion­sansätze

  • Balzac zeigt in diesem Roman einen breiten Querschnitt durch die Gesellschaft seiner Zeit. Kriminelle und Pros­ti­tu­ierte bekommen ebenso viel Raum wie Bürger und Adlige. Doch die Grenzen der Freiheit sind die der sozialen Stellung: Adlige Ehefrauen können es sich leisten, Verhältnisse zu haben oder Verhörakten zu verbrennen; Kurtisanen dagegen bleiben gesellschaftliche Außenseiter.
  • Die Handlungen aller Figuren sind bestimmt von der Macht der Lei­den­schaften. Die Liebe, die Geldgier und der gesellschaftliche Ehrgeiz sind die Triebfedern, die zu den tragischen Ver­wick­lun­gen führen.
  • Zahlreiche Schlacht­feld- und Ur­wald­meta­phern verdeut­lichen, dass das Überleben und Weit­erkom­men in der Gesellschaft ein Kampf ist.
  • Allein die liebende Kurtisane Esther, die makel­los­este Figur des Romans, lädt keine Schuld auf sich.
  • Gerechtigkeit existiert nicht in diesem Roman, die Justiz kapituliert vor einem Schw­erver­brecher, der Ehrgeiz der Bürger und der Einfluss der Adligen verhindern eine neutrale Recht­sprechung.
  • Der Roman zeigt eine sehr freizügige Sexualmoral: Fast alle Ver­heirateten haben außereheliche Verhältnisse, zumeist mit dem Wissen und Einverständnis der Ehegatten: Madame de Nucingen etwa gibt ihrem Mann sogar Tipps für seine Rendezvous.
  • Jacques Collin ist der erste Ho­mo­sex­uelle der französischen Literatur: Seine Gefühle für Lucien sind denen von Esther ähnlich; seine Frauen­ver­ach­tung und Männerliebe werden im Lauf des Romans immer deutlicher, zumal auch Luciens Vorgänger auftaucht, ein ebenso schöner junger Mann. Collin ist im Roman eine so mächtige Figur, dass er praktisch die Funktion eines Autors hat: Er hält die Fäden in der Hand, und nicht nur Lucien und Esther sind seine Marionetten – am Ende ist es die ganze Justiz.
  • Das romantische Motiv des Doppelgängers ist an vielen Stellen anzutreffen: Fast alle Figuren haben mehrere Namen, einige führen ein Doppelleben, viele sind Ver­stel­lungskünstler, die in den ver­schieden­sten Rollen überzeugen, und Lucien ist Jacques Collins Stel­lvertreter in der Gesellschaft.

His­torischer Hintergrund

Frankreich zwischen Restau­ra­tion und Zweitem Kaiserreich

Die erste Hälfte des 19. Jahrhun­derts war in Frankreich eine Zeit der Umbrüche. Nach der Verbannung Napoleons und dem Ende des Kaiser­re­ichs im Jahr 1815 brach das Zeitalter der Restau­ra­tion, der Wiedere­in­set­zung der Bour­bo­nen­herrschaft in Frankreich, an. Louis XVIII. versuchte, einen Ausgleich zwischen der alten aris­tokratis­chen Welt und dem er­stark­enden liberalen Bürgertum herzustellen. Die Regierungs­form war eine kon­sti­tu­tionelle Monarchie mit zwei Par­la­mentskam­mern: Die Mitglieder der so genannten Pairskammer durfte zwar der König ernennen, jene der Deputiertenkam­mer aber wurden gewählt – wenn auch nur von einer schmalen Oberschicht aus Adel und Bourgeoisie. Politisch standen sich die roy­al­is­tis­chen Ultras und die Liberalen gegenüber.

Nach Louis’ Tod übernahm dessen Bruder als Charles X. die Regierungs­ge­walt. Weil dieser die Er­run­gen­schaften der Französischen Revolution mit Füßen trat und zunehmend eine reaktionäre Politik betrieb, explodierte im Juli 1830 das Pulverfass Paris: Auf den Barrikaden in den Straßen der Stadt setzte sich das Volk in der so genannten Julirev­o­lu­tion durch und erreichte die Abdankung des Königs. Dennoch wurde aus Frankreich keine Republik, sondern eine kon­sti­tu­tionelle Monarchie, an deren Spitze der „Bürgerkönig“ Louis-Philippe gewählt wurde. Die re­pub­likanisch-lib­eralen Kräfte im Staat forderten 1848 eine Wahlrecht­sre­form, die ihnen der König aber nicht gewähren wollte. Abermals gab es eine Revolution, bei der die Franzosen jedoch vom Regen in die Traufe gerieten: Sie wählten den Neffen Napoleons zum Präsidenten ihrer neuen Republik. Als Kaiser Napoleon III. sicherte sich dieser durch einen Staatsstre­ich dik­ta­torische Vollmachten, löste die Republik auf und proklamierte das Zweite Kaiserreich.

Entstehung

Balzac war die prägende Figur des französischen Realismus, als dessen Hauptvertreter außerdem Gustave Flaubert und Stendhal gelten. Seine erklärte Absicht war es, ein „Sittengemälde“ seiner Zeit auszubre­iten. Glanz und Elend der Kurtisanen ist Teil der 91 Bände umfassenden Men­schlichen Komödie und ist mit anderen Romanen des Zyklus verflochten. Bereits in Vater Goriot taucht Jaques Collin auf, dort unter dem Namen Vautrin. Was das Schicksal von Lucien betrifft, ist Glanz und Elend der Kurtisanen eine direkte Fortsetzung von Verlorene Illusionen. Darin geht es um Luciens ersten Aufenthalt in Paris: Er versucht sich als Dichter und Journalist, stolpert schließlich über Zeitungsin­tri­gen, macht hohe Schulden und will sich am Ende umbringen. Bestimmte Teile der beiden Romane entstanden gle­ichzeitig.

Die erste Idee zu Glanz und Elend der Kurtisanen geht auf das Jahr 1830 zurück. Ein paar Tage vor der Fer­tig­stel­lung von Vater Goriot notierte Balzac auf seinem Manuskript einen Titel: „La Torpille“. 1838 veröffentlichte er den Beginn einer Erzählung, die diesen Titel trug, unterbrach das Projekt dann aber. Erst 1843 nahm er die Arbeit daran wieder auf, mit dem Plan, die Erzählung zu einem Roman auszuweiten. Bis 1847 verschränkten sich das Schreiben und das Veröffentlichen des Textes, denn Balzac, der Erfinder des Feuil­leton-Ro­mans, nutzte sämtliche Veröffentlichungswege seiner Zeit: Er brachte täglich kleine Textab­schnitte in Zeitungen heraus, veröffentlichte Teilaus­gaben und Gesam­taus­gaben. Für jede neue Veröffentlichung übe­rar­beit­ete er den Text wieder. Als er drei Jahre später starb, hatte er noch einen fünften Buchteil vorgesehen, ganz als hätte er sich von seiner wuchtigen Figur Jacques Collin nicht trennen können.

Wirkungs­geschichte

Bei seinem stückweisen Erscheinen war der Roman sehr erfolgreich, wie alle Romane Balzacs in jener Phase seines Lebens. Heute gilt Glanz und Elend der Kurtisanen zusammen mit Verlorene Illusionen als eine Art Kern der Men­schlichen Komödie. Laut dem Lit­er­atur­wis­senschaftler Albert Béguin kann „allein die Lektüre dieser beiden um­fan­gre­ichen Romane ein vollständiges Bild des Balzac’schen Kosmos vermitteln“; in keinem anderen Roman von Balzacs Riesen­zyk­lus ist das Panorama der Gesellschaftss­chichten so breit angelegt wie in diesen.

Oscar Wilde bescheinigte Balzac zu gleichen Teilen wis­senschaftlichen Geist und künst­lerisches Temperament: Die Lektüre seiner Werke hinterlasse einen so starken Eindruck wie tieffarbige Träume. Der Naturalist Émile Zola hat später nach Balzacs Vorbild eigene Werke in seinem 20-bändigen Rougon-Mac­quart-Zyklus zusam­menge­fasst.

Für die Avant­garde-Be­we­gung des Nouveau Roman (und vor allem für dessen promi­nen­testen Vertreter Alain Robbe-Gril­let) wurde die Erzählweise Balzacs und des Realismus dagegen zum Inbegriff des Kon­ven­tionellen, zum Feindbild, von dem man sich absetzen wollte.

Über den Autor

Honoré de Balzac wird am 20. Mai 1799 in Tours geboren. Sein Vater, der Sohn eines Bauern, hat sich zum leitenden Beamten hochgear­beitet, seine Mutter stammt aus gutbürgerlicher Familie. 1814 zieht die Familie Balzac nach Paris. Ein Jurastudium bricht der junge Balzac ab, um Schrift­steller zu werden. Lange Jahre ist er erfolglos. Er macht Schulden, die ihn für den Rest seines Lebens drücken werden, als er sich 1826 als Verleger versucht und eine Druckerei kauft, die zwei Jahre später Konkurs anmelden muss. 1829 stellt sich erster schrift­stel­lerischer Erfolg ein, der ihm Zutritt zu Adel­skreisen verschafft. Er führt ein Leben über seine Verhältnisse und hat viele Lieb­schaften mit zumeist ver­heirateten Damen. 1832 tritt die ukrainische Gräfin Eva Hanska mit ihm in Briefkon­takt. Die beiden schreiben sich 18 Jahre lang und sehen sich gele­gentlich auf Reisen, bis sie ihn wenige Monate vor seinem Tod schließlich heiratet. Balzac schreibt einen Roman nach dem anderen. Er fasst seine Werke bereits früh in Gruppen zusammen. Während der Entstehung eines seiner bekan­ntesten Texte, Le père Goriot (Vater Goriot, 1834/35), hat er die Idee, dieselben Ro­man­fig­uren in ver­schiede­nen Werken auftreten zu lassen und so ein überschaubares, vielfältig verwobenes Ro­ma­nuni­ver­sum zu schaffen. Das Projekt der Comédie humaine, der Men­schlichen Komödie, entsteht mit seinen Großgruppen und Un­ter­grup­pen und dem Ziel, ein umfassendes Sittengemälde von Balzacs Zeit zu entwerfen. Dafür erlegt sich der Schrift­steller ein unglaubliches Ar­beit­spen­sum auf, schreibt oft bis zu 17 Stunden am Tag. 91 der 137 geplanten Romane und Erzählungen kann er fer­tig­stellen. Zu den bekan­ntesten zählen Illusions perdues (Verlorene Illusionen), Eugénie Grandet, Splendeurs et misères des courtisanes (Glanz und Elend der Kurtisanen) und La peau de chagrin (Das Cha­grin­leder). Balzac gilt zusammen mit Stendhal und Flaubert als der Begründer des lit­er­arischen Realismus in Frankreich. Die ständige Übe­ranstren­gung ruiniert seine Gesundheit, er stirbt am 18. August 1850 in Paris.