Die Legende vom heiligen Trinker

Buch Die Legende vom heiligen Trinker

Amsterdam, 1939
Diese Ausgabe: Diogenes,


Worum es geht

Eine etwas andere Heili­gen­le­gende

Geld macht nicht glücklich. Aber – seien wir ehrlich – auch nicht unbedingt unglücklich. Unverhofft kommt der Pariser Clochard Andreas an etwas Geld. Wie zu erwarten, gönnt er sich was: reichlich Schnaps, gutes Essen, eine Rasur, ein warmes Bett, schließlich auch Seife, neue Kleidung, sogar Frauen. Und seine Glückssträhne hält an. Einige Schlüsselfiguren seines bisherigen Lebens ziehen vorbei. Woher kommt das Geld? Zufall? Ein Wunder? Andreas ist nicht der grüblerische Typ. Doch weil er seine Ehrlichkeit wahren will, ist er von dem Wunsch beseelt, alles zurückzugeben, sobald er es sich leisten kann. Allein, er wird mitgerissen im Strom des Lebens. In der kleinen Legende vom heiligen Trinker verdichten sich soziale Realität, Zeit­geschehen, persönliches Schicksal und ein Stück meta­ph­ysis­che Erfahrung in einer vordergründig ganz schlichten Handlung, die es aber in sich hat. Und wie so vieles im Leben geht die Geschichte nicht restlos auf.

Take-aways

  • Sein letztes Werk Die Legende vom heiligen Trinker bezeichnete Joseph Roth als „sein Testament“.
  • Inhalt: Ein mittelloser, trunksüchtiger Pariser Clochard erhält aus heiterem Himmel von einem Unbekannten 200 Francs geschenkt. Sobald er es sich leisten kann, soll er das Geld in einer Kirche zurückerstatten. Von nun an widerfahren ihm eine ganze Reihe ähnlicher Wunder und wundersamer Begegnungen. Sein ehrlicher Wunsch, das Geld zurückzugeben, bleibt jedoch unerfüllt – es kommt immer wieder etwas dazwischen.
  • Die kurze Erzählung ist als beispiel­hafte Parabel angelegt, nach Art einer Heili­gen­le­gende.
  • Die Hauptfigur erhält erst nach und nach Züge eines in­di­vidu­ellen Charakters.
  • Roth bedient sich, wie in manchen seiner Werke, einer mit biblischen Aus­druck­sweisen an­gere­icherten Sprache.
  • In der Legende sind Elemente eines handfesten sozialen Realismus mit Versatzstücken einer meta­ph­ysis­chen Erfahrung vermischt.
  • Eingewoben in den Subtext der Erzählung sind religiöse Motive wie rituelle Reinheit und Wiederge­burt.
  • In der Schilderung der Hauptfigur spiegeln sich Roths persönliche Erfahrungen mit Emigration und Trunksucht.
  • Das Paris der 30er-Jahre, wo auch Roth lebte, war ein Sammelpunkt deutscher Emigranten, die vor den Nazis geflohen waren.
  • Zitat: „Gebe Gott uns allen, uns Trinkern, einen so leichten und so schönen Tod!“
 

Zusammenfassung

Das erste Wunder

Wie viele andere arme Polen kam Andreas Kartak, geboren in Ober­schle­sien, einst nach Frankreich, um dort im Kohle­berg­bau zu arbeiten. Mit­tler­weile hat er diese Arbeit verloren und lebt als Obdachloser ohne gültige Aufen­thaltspa­piere in Paris unter den Brücken der Seine. Seine Kleidung ist zer­schlis­sen, er ist ungewaschen und trinkt viel Alkohol.

„Lange war es her, dass er zweihundert Francs besessen hatte. Und vielleicht deshalb, weil es so lange her war, zog er beim kümmerlichen Schein einer der seltenen Laternen unter einer der Brücken ein Stückchen Papier hervor und den Stumpf von einem Bleistift und schrieb sich die Adresse der kleinen heiligen Therese auf und die Summe von zweihundert Francs, die er ihr von dieser Stunde an schuldete.“ (über Andreas, S. 8)

Im Frühjahr des Jahres 1934 begegnet Andreas auf den Treppen, die von einer der Brücken zu den Quais der Seine führen, in leicht schwank­en­dem Zustand einem gut gekleideten älteren Herrn. Dieser spricht ihn gezielt an und nennt ihn „Bruder“. Unaufge­fordert bietet der Herr Andreas an, ihm etwas Geld zu schenken, weil er selbst zu viel davon habe. Andreas erwidert, er könne 20 Francs gebrauchen. Zu seiner Verblüffung bietet der Herr ihm 200 an. Das weist Andreas zunächst zurück. Er sei zwar ein Obdachloser, aber auch ein Mann von Ehre; er sehe keine Möglichkeit, so viel Geld jemals zurück­zuer­stat­ten, er habe ja nicht einmal eine Bleibe. Daraufhin erwidert der Herr, er sei ebenfalls ohne Adresse. Er sei durch die Geschichte der heiligen Therese von Lisieux zum Christentum bekehrt worden. Falls Andreas nichts schuldig bleiben wolle, könne er die 200 Francs eines Tages dem Priester der Kirche Ste Marie des Batignolles nach der Son­ntagsmesse zurückgeben. Dort befinde sich eine Kapelle mit einer Statue der heiligen Therese. Damit übergibt er Andreas die Geldscheine.

Das zweite Wunder

Nach der wundersamen Begegnung notiert sich Andreas den Namen der Kirche. Anschließend begibt er sich in ein Restaurant, wo er reichlich isst und trinkt und sich noch eine Flasche für die Nacht mitnimmt. Am nächsten Morgen empfindet er das Bedürfnis, sich intensiver als sonst im Wasser der Seine zu waschen. Er nimmt davon jedoch wieder Abstand, weil er sich von den anderen Clochards beobachtet glaubt. Als er nach dem Geld in seiner Tasche greift, fühlt er sich dennoch gereinigt, ja sogar verwandelt. Anhand des Datums der Tageszeitung am Kiosk stellt Andreas fest, dass der Tag ein Donnerstag ist. Da er selbst an einem Donnerstag geboren ist, entscheidet er sich spontan, diesen Tag zu seinem Geburtstag zu erklären, zu seinem persönlichen Feiertag.

„Er erinnerte sich nach langer Überlegung, dass er gestern ein Wunder erlebt hatte, ein Wunder.“ (über Andreas, S. 9)

Zum Frühstück gönnt er es sich an diesem Morgen, in einem bürgerlichen Bistro einen Tisch zu besetzen. Beim Blick in die Spiegel erschrickt Andreas angesichts seiner eigenen Verkom­men­heit und seines ungepflegten Äußeren und begibt sich gleich zu einem Friseur. Immer noch in zerlumpter Kleidung, aber solchermaßen verjüngt, kehrt er zum Frühstück ins Bistro zurück. Ein Herr mit einem runden Kinder­gesicht, der am Nebentisch sitzt, bietet ihm eine Gele­gen­heit­sar­beit am nächsten Tag als Möbelpacker bei seinem Umzug an, für ebenfalls 200 Francs. Andreas sagt zu und erhält sogleich 100 Francs als Anzahlung.

„Er kaufte also eine Zeitung und sah, dass es ein Donnerstag war, und erinnerte sich plötzlich, dass er an einem Donnerstag geboren worden war, und ohne nach dem Datum zu sehen, beschloss er, diesen Donnerstag gerade für seinen Geburtstag zu halten.“ (über Andreas, S. 10)

Um die Geldscheine aufzube­wahren, kauft Andreas als Nächstes eine Brieftasche. Die auffallend attraktive Verkäuferin bedient ihn freundlich. Leicht verwirrt wählt Andreas ein preiswertes, bereits einmal umge­tauschtes Exemplar aus, das die Verkäuferin mithilfe einer Leiter aus einem oberen Regal geholt hat, wobei Andreas ihre Beine bewundert. Den Rest des Nachmittags verbringt er in einem Bordell auf dem Montmartre, wo man ihn sogar über Nacht schlafen lässt.

Die erste Rückzahlung

Beim Umzug am nächsten Morgen geht Andreas der Dame des Hauses beim Einpacken zur Hand, er muss keine wirklich schwere Arbeit verrichten. Die Dame erteilt nur auf sehr sprunghafte Weise ihre Anordnungen. Da nicht alles erledigt werden kann, soll Andreas am nächsten Tag wiederkom­men. Am Abend gibt die Dame ihm einige Silbermünzen als Trinkgeld. Davon leistet Andreas sich eine Übernachtung in einem kleinen Hotel. Nach beendeter Arbeit erhält er von dem Herrn den vere­in­barten Restlohn und gönnt sich für die nächste Nacht sogar ein etwas besseres Hotel. Das Glockenläuten am folgenden Morgen erinnert ihn daran, dass Sonntag ist. Damit wird die ver­sproch­ene Rückzahlung der 200 Francs in der Kirche im Stadtteil Batignolles fällig. Doch Andreas kommt zu spät. Die Zehn-Uhr-Messe ist bereits beendet. Um die Zeit bis zur Mit­tagsmesse zu überbrücken, trinkt er einige Pernods in einem Bistro in der Nähe der Kirche.

„Mit der Sicherheit eines Menschen, der Geld in seiner Tasche weiß, bestellte er einen Pernod, und er trank ihn auch mit der Sicherheit eines Menschen, der schon viele in seinem Leben getrunken hatte.“ (über Andreas, S. 17)

Als er sich wieder zur Kirche aufmacht, hört er eine Frauen­stimme, die seinen Namen ruft. Es ist Karoline, die er seit vielen Jahren nicht gesehen hat. Wegen ihr musste er zwei Jahre ins Gefängnis. Er hatte einst als frisch aus Polen einge­wan­derter Kohle­nar­beiter bei ihr und ihrem Mann gewohnt und sich in die Frau verliebt. Als der gewalttägige Ehemann die Frau eines Tages massiv bedrohte, erschlug Andreas ihn. Nun winkt die energische Karoline ein Taxi heran. Sie fahren in ein stilles Restaurant in einer ländlichen Gegend außerhalb von Paris und erzählen sich gegenseitig, was in der Zwis­chen­zeit in ihrem Leben passiert ist. Anschließend gehen sie in der Stadt noch ins Kino und zum Tanzen, schließlich in Karolines Wohnung.

Das dritte Wunder

Am nächsten Morgen stellt Andreas fest, dass ihm nur noch 50 Francs und etwas Kleingeld geblieben sind. Der früher völlig Mittellose kommt sich nun, nach den wenigen Tagen des un­ver­hofften Geldbe­sitzes, verarmt vor. Er verbringt den Tag in einem Café und hegt sogar ein wenig Groll, weil ihm heute nicht noch einmal ein Wunder zustößt. In dieser Nacht, die Andreas wieder unter den Brücken verbringt, träumt er von einem jungen Mädchen, das seine Tochter sein könnte und das ihn auch mit „Vater“ anspricht. Er iden­ti­fiziert sie mit der heiligen Therese. Sie fordert ihn auf, in die Kirche in Batignolles zu kommen.

„Und auf einmal begann er, der niemals auf Geldbesitz Wert gelegt hatte, den Wert des Geldes zu schätzen.“ (über Andreas, S. 22)

Wie von ungefähr greift er am Morgen noch einmal in seine Rocktaschen, um zu prüfen, ob er dort noch Geldscheine hat. Dabei fällt ihm auch die dünne Brieftasche in die Hände, die er in dem Laden wegen der Verwirrung angesichts der hübschen Verkäuferin eher achtlos eingesteckt hat. Sie verfügt über zwei Innenfächer. Beim Nachschauen entdeckt Andreas in einem der Innenfächer einen 1000-Francs-Schein. Er wechselt ihn in einem Tabakladen, wo er gleich Zigaretten kauft und an der Theke einige Gläser Weißwein trinkt.

„Die Natur des Menschen ist derart, dass sie sogar böse werden, wenn ihnen nicht unaufhörlich all jenes zuteil wird, was ihnen ein zufälliges und vorübergehendes Geschick versprochen zu haben scheint.“ (S. 24)

An der Rückwand des Kiosks, hinter der Theke, entdeckt Andreas die Porträtskizze eines Mannes, der ihm vage bekannt vorkommt. Er ähnelt einem ehemaligen Schulka­m­er­aden aus Schlesien. Auf seine Frage erfährt er unter dem Gelächter einiger Umstehender, dass es sich bei dem Mann auf dem Bild um den sehr prominenten Fußballer Kanjak handelt. Nun erkennt Andreas den Ju­gend­fre­und wieder, mit dem er einst die Schulbank teilte.

Der Ju­gend­fre­und

Mit dem vielen Geld in der Tasche begibt sich Andreas an diesem Nachmittag in die Gegend der großen Boulevards und geht dort ins Kino. Am Ende des Films erscheint das Bild des Fußballers auf der Leinwand. Andreas beschließt, sich nach dem Ju­gend­fre­und zu erkundigen. Tatsächlich weiß der Türsteher des Kinos Bescheid: Kanjak halte sich zurzeit in der Tat in Paris auf. Der Türsteher nennt Andreas den Namen des Hotels an den Champs-Élysées.

„Andreas trat näher an sie heran, fragte sie, was sie lese, und sagte aufrichtig: ,Ich in­ter­essiere mich nicht für Bücher.‘“ (S. 35)

Andreas trifft den nunmehr berühmten Ju­gend­fre­und auch prompt dort an. Die Wieder­se­hens­freude der beiden ist groß und sie gehen gemeinsam essen. Als sich Kanjak über die schäbige Kleidung von Andreas wundert, versucht dieser abzuwiegeln. Kanjak erklärt sich ohne Umschweife bereit, ihm ein paar seiner Anzüge zu überlassen. Da Andreas nun auch zugibt, keine Adresse zu haben, mietet Kanjak auch noch ein Hotelzimmer für ihn in der Nähe der Kirche Madeleine. Anschließend feiern die beiden das Wiedersehen noch einmal mit einer Flasche Cognac und einem Cafébesuch am Montmartre.

Leben im Hotel

Allein ins Hotel zurückgekehrt, hat Andreas Gelegenheit, den Komfort des Zimmers und des an­gren­zen­den Badezimmers zu genießen, einschließlich eines ausgiebigen Wannenbads. Aus Neugier öffnet er einmal die Tür zum Korridor, wo ihm eine schöne junge Frau begegnet, die er unverzüglich anspricht. Sie erwidert seine Komplimente und ve­r­ab­schiedet sich vorläufig. Andreas hat sich ihre Zim­mer­num­mer gemerkt und kann nicht anders, als sie noch am Abend zu besuchen. Auf sein Klopfen lässt sie ihn eintreten. Sie stellt sich als Gabby vor und erklärt, Tänzerin im Kasino und auf der Durchreise nach Cannes zu sein. Andreas verbringt die Nacht in ihrem Zimmer.

„Und da wussten sie nicht mehr, was miteinander anzufangen, nachdem sie le­icht­fer­tiger­weise das wesentliche Erlebnis vergeudet hatten, das Mann und Frau gegeben ist.“ (über Gabby und Andreas, S. 37)

Am nächsten Tag, einem Samstag, machen Andreas und Gabby einen Ausflug mit dem Taxi nach Fontainebleau, wo sie im Restaurant speisen. Abends gehen sie in Paris ins Kino, die Nacht verbringen sie gemeinsam im Hotel, allerdings in dem Bewusstsein, nicht viele Gemein­samkeiten zu haben. Am Son­ntag­mor­gen erinnert sich Andreas an sein Versprechen gegenüber der Heiligen von Batignolles. Gabby missver­steht seine Aussage, er müsse noch Schulden bei Therese begleichen, und jagt ihn davon.

Die zweite Rückzahlung

Wieder kommt Andreas zu spät zur Zehn-Uhr-Messe. Und wieder geht er in das Bistro am Platz, um bis zum Mittag zu warten. Nachdem er etwas zu trinken bestellt hat, überprüft er vor­sicht­shal­ber, wie viel Geld er noch hat. In der Brieftasche befinden sich noch 250 Franc. Neben den Ausgaben vom Vortag hat ihn Gabby auch noch erleichtert. Gleichwohl macht sich Andreas beim Läuten der Glocken auf den Weg zur Kirche. Als er auf die Straße tritt, stößt er mit einem Mann zusammen, den er sofort wieder­erkennt: Es ist sein ehemaliger Ar­beit­erkumpel Woitech aus der Kohlemine.

„Aber unser Andreas gehörte zu jenen, die nicht rechnen konnten, wie viele Trinker.“ (S. 43)

Obwohl sich Woitech über Andreas’ Frömmigkeit wundert, begleitet er ihn in die Kirche. Noch während der Messe bittet Woitech ihn um 100 Francs, die er sofort jemandem geben müsse, sonst würde er eingesperrt. Andreas überlässt ihm 200 Francs und folgt ihm dann in das Bistro nach, wo sie sich verabredet haben. Anstatt die Schulden zu begleichen, hat Woitech die 100 Francs aber für sich behalten. Mit den anderen 100 Francs vergnügen sich die beiden für die nächsten drei Tage in dem Bordell auf dem Montmartre. Sie verabreden sich wieder für den kommenden Sonntag in Batignolles.

Das vierte Wunder

Auf dem Weg zu den Seinebrücken, mit nur noch 35 Francs in der Tasche, begegnet Andreas auf der Treppe zum Quai erneut jenem älteren Herrn, der ihm die ersten 200 Francs gegeben hat. Im Gespräch streitet der Herr ab, Andreas schon einmal getroffen zu haben, und überlässt ihm erneut 200 Francs. Mit dem festen Vorsatz, das Geld der heiligen Therese in Batignolles diesmal wirklich zurück­zuer­stat­ten, verbringt Andreas den Rest der Woche in einem Ar­men­restau­rant, wo er auch übernachten kann. Leider kommt er nicht, wie erhofft, darum herum, die Speisen und Getränke zu bezahlen. Nun hat er kaum noch Geld, macht sich am Sonntag aber dennoch auf den Weg nach Batignolles.

Das fünfte Wunder und die dritte Rückzahlung

Für die Zehn-Uhr-Messe kommt Andreas wieder zu spät an. Auf dem Weg zum Bistro wird er von einem Polizisten angehalten. Im ersten Schreck glaubt er, dieser wolle seine Papiere kon­trol­lieren, doch stattdessen übergibt er ihm eine Brieftasche, von der der Polizist meint, Andreas habe sie soeben verloren. Verblüfft nimmt Andreas sie entgegen. Im Bistro wartet bereits Woitech. Die beiden laden sich gegenseitig zum Trinken ein. Als Andreas später die fremde Brieftasche überprüft, findet er darin genau 200 Francs.

„In diesem Augenblick tat sich die Tür auf, und während Andreas ein un­heim­liches Herzweh verspürte und eine große Schwäche im Kopf, sah er, dass ein junges Mädchen hereinkam und sich genau ihm gegenüber auf die Banquette setzte.“ (S. 45)

Noch während sie auf die Zwölf-Uhr-Messe warten, betritt ein schüchternes, ganz in Blau gekleidetes junges Mädchen das Bistro. Auf Befragen erklärt sie, dass sie nach der Messe von ihren Eltern abgeholt werde und dass sie Therese heiße. Andreas behauptet, er schulde ihr noch 200 Francs. Das Mädchen ist verwirrt; sie zieht sogar einen 100-Francs-Schein aus ihrer Handtasche, damit er sie in Ruhe lässt. In diesem Augenblick trifft Andreas der Schlag und er sackt zu Boden. Er liegt im Sterben. Einige Kellner schleppen ihn in die Sakristei der Kirche, damit er die Sterbe­sakra­mente erhält. Das Mädchen begleitet die Gruppe. Mit einem letzten Griff nach der Brieftasche und mit den Worten „Fräulein Therese!“ stirbt Andreas einen leichten und schönen Tod.

Zum Text

Aufbau und Stil

Die mit nicht einmal 50 Seiten recht kurze Erzählung ist in 15 Abschnitte unterteilt. Der Hand­lungszeitraum erstreckt sich über wenige Wochen im Frühling 1934. Paris ist der Hauptschau­platz; hinzu kommen Orte in der Umgebung von Paris, wie Fontainebleau. Die Geschichte wird aus der Perspektive eines all­wis­senden Erzählers erzählt, der sich da und dort Kommentare zur Handlung und gele­gentlich direkte Leser­ansprachen erlaubt. Die bereits im Titel enthaltene Gat­tungs­beze­ich­nung „Legende“ ist nicht im streng philol­o­gis­chen Sinn zu verstehen, sondern eher als Hinweis auf das Para­bel­hafte der Geschichte. Der heilige Trinker ist jedenfalls kein vor­bild­hafter Glaubenskämpfer wie in der typischen Heili­gen­le­gende. Die Erzählweise ist bewusst einfach und schlicht gehalten, aber nicht kunstlos. Roth erreicht die Leg­en­den­haftigkeit der Geschichte durch einen absichtlich märchenhaften Ton. Immer wieder lehnt er sich an die altmodische Sprechweise von Bibelüberset­zun­gen an, etwa in Wendungen wie „Und sie ging dahin“ oder „Diese merkte er sich in seinem Herzen“ sowie durch viele Sätze, die mit „und“ verbunden werden.

In­ter­pre­ta­tion­sansätze

  • Andreas entspricht dem Typus des seiner Heimat en­twurzel­ten Wanderers, zu dem auch die Leg­en­den­fig­uren des Ahasver, des Ewigen Juden, oder die des Fliegenden Holländers gehören. Für Roths Zeit realistisch ist es, Andreas als polnischen, frei­willi­gen Ar­beitsmi­granten in Frankreich darzustellen. Der Vorname der Hauptfigur wird erst spät im Text genannt, der Nachname noch später, erst in der Mitte der Erzählung. Die in­di­vidu­elle Person mit ihrem in­di­vidu­ellen Schicksal kommt dadurch erst spät ins Spiel. Vorher ist Andreas eher der typische Clochard, eine Beispielfigur, kein Individuum.
  • Obwohl Andreas als schmutziger Clochard äußerlich unrein ist, kann man ihn in seiner Naivität und seiner Empfänglichkeit für Wunder und Gnade auch als heiligen Gottes­nar­ren sehen. Diese Figur spielt in der Ostkirche immer wieder eine Rolle.
  • Ist der märchenhafte Geldregen, den Andreas erlebt, ein Wunder oder Zufall? Roth lässt dies geschickt offen: Andreas glaubt eher an Wunder. Der allwissende Erzähler lässt es eher wie Zufall aussehen.
  • Immer wieder taucht die typisch religiöse Symbolik der Waschung auf. Dies reicht vom Eintauchen der Hände in die Seine bis zum Vollbad im Hotel. Damit verbinden sich Vorstel­lun­gen von Verwandlung und Erneuerung. Diese In­ter­pre­ta­tion wird im Text sogar direkt ange­sprochen. Roth lässt es aber in der Schwebe, ob damit das Streben eines ehemaligen Kriminellen nach innerer Reinheit, Vorstel­lun­gen von Wiederge­burt oder einfach die Anpassung an den bürgerlichen Standard gemeint ist.
  • Andreas’ Erlebnisse haben räumlich gesehen eine vertikale Dimension; sie finden in der Erzählung zwischen der dunklen Unterwelt an der Seine und der Oberwelt in dem nur mit einem Lift er­re­ich­baren luxuriösen Hotelzimmer statt. Die gesellschaftliche Stellung ist stets an Geldbesitz gekoppelt. Immer wenn Andreas kein Geld mehr hat, geht es fol­gerichtig auch wieder abwärts.
  • Nicht in den erzählerischen Details, aber im melan­cholis­chen Grundton der Geschichte spiegelt sich Roths eigenes Trinker- und Em­i­granten­schick­sal wider.

His­torischer Hintergrund

Deutschsprachige Emigranten in Europa

In der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen erlebten auch die Kriegsver­lierer Deutschland und Österreich eine einzi­gar­tige kulturelle Blüte – trotz der politischen und sozialen Ver­w­er­fun­gen nach dem Ersten Weltkrieg. Die Ansätze der Moderne, die vor dem Krieg in Kunst, Architektur, Literatur, Musik und in dem jungen Medium Film schon sichtbar wurden, entfalteten sich in der Weimarer Zeit rasant. Auch an den Universitäten gab es in Natur- und Geis­teswis­senschaften überall bedeutende Gelehrte. Auf die Ernennung Adolf Hitlers zum Re­ich­skan­zler am 30. Januar 1933 folgte im April das Gesetz zur Wieder­her­stel­lung des Berufs­beam­ten­tums. Viele jüdische oder politisch links stehende Wis­senschaftler verloren ihre Stellung. Publizisten, die oftmals Freiberu­fler waren, erhielten einfach Berufsver­bot. Ein großer Teil der geistig-künstlerisch tätigen Menschen in Deutschland emigrierte. Viele gerieten in materielles Elend.

In Frankreich waren Paris und Nizza Sam­melpunkte deutscher Emigranten. Durch die Re­pres­salien der Nazis verloren viele Publizisten ihre materielle Ex­is­ten­z­grund­lage. Zudem kämpften sie mit der En­twurzelung aus dem Bereich der Mut­ter­sprache und dem Verlust ihres anges­tammten Publikums. Es konnte sogar vorkommen, dass Honorare aus Aus­land­slizen­zen oder Filmrechten den Verlagen aufgrund bestehender Verträge zwar juristisch korrekt eingingen, aber gar nicht mehr den Autoren zugute kamen, sondern – zumindest über die Ver­s­teuerung – dem Nazistaat. Ver­lagsleiter und Lektoren versuchten allerdings umgehend, im Ausland Exilverlage zu gründen oder in bestehenden Verlagen deutschsprachige Programme aufzubauen. So arbeiteten die In­tellek­tuellen Hermann Kesten und Walter Landauer bei Allert de Lange in Amsterdam, Klaus Mann bei Querido, ebenfalls in Amsterdam. Joseph Roth publizierte in beiden Häusern – nicht ohne das eine gegen das andere auszus­pie­len; er war, obwohl erfolgreich, vor allem gegen Ende seines Lebens wegen seiner Ausgaben ständig in Geldnot.

Der Verleger Gottfried Bermann Fischer gründete bereits 1932 eine Agentur in der Schweiz und trans­ferierte nach Möglichkeit Urhe­ber­rechte dorthin. Damit sollten wenigstens Aus­land­szahlun­gen vor dem Zugriff der Nazis geschützt werden. Verkaufte Auflagen der Em­i­granten­ver­lage in Höhe von 2500 Exemplaren galten schon als gutes Ergebnis. Emigranten gründeten außerdem Ex­ilzeitschriften wie Aufbau oder Freies Deutschland, um Autoren Pub­lika­tionsmöglichkeiten und Hon­o­rar­chan­cen zu geben. Manche wurden von in­ter­na­tionalen Hil­f­sor­gan­i­sa­tio­nen mit Stipendien unterstützt, die ihnen wenigstens für ein paar Monate ein Einkommen sicherten. Die Emigranten halfen sich dabei gegenseitig mit Empfehlun­gen und Gutachten; vor allem weniger bekannte Autoren wurden so gefördert. Wohlhabende Schrift­steller wie Stefan Zweig unterstützten andere, die in Not geraten waren. Und für viele Emigranten mussten nach der deutschen Besetzung Frankreichs Mittel und Wege gefunden werden, erneut zu fliehen.

Entstehung

Das Café Tournon nahe am Jardin de Luxembourg ist ein typisches Pariser Bistro mit Tradition. Hier war eine Zeit lang der Stammplatz von Joseph Roth, quasi sein Wohnzimmer, und hier soll er auch eines Tages die Geschichte eines Clochards aufgeschnappt haben, der ein empfangenes Almosen nach einiger Zeit wieder an die Kirche zurück­er­stat­tete. Diese Anekdote lieferte die Inspiration zu Roths Legende vom heiligen Trinker. Roth hat sie innerhalb von vier Monaten geschrieben und starb kurz nach der Fer­tig­stel­lung Ende Mai 1939 im Alter von nur 45 Jahren. Die Veröffentlichung hat er nicht mehr erlebt.

Roth war selbst seit Langem ein starker Trinker. Zur Weimarer Zeit bekannter Journalist und Autor in Deutschland, hatte es den jüdischstämmigen Roth bei Hitlers Machtübernahme ins Pariser Exil verschlagen. Dort konnte er zwar publizieren, doch wurde ihm seine Trunksucht zum Verhängnis und er verarmte. Nach einem Zusam­men­bruch starb er an einer Lungenentzündung im Delirium tremens. Weil die Erzählung so kurz vor seinem Tod entstand und diesen fast seherisch vor­wegzunehmen scheint, liegt es nahe, die Figur des Andreas auf die Person des Autors zu projizieren. Ein paar Wochen vor seinem Tod soll er gegenüber Freunden die Geschichte immerhin als „mein Testament“ bezeichnet haben.

Wirkungs­geschichte

Die Legende vom heiligen Trinker wurde zweimal verfilmt: 1963 von Franz Josef Wild fürs Fernsehen, 1988 von Ermanno Olmi fürs Kino. Die Ki­nover­fil­mung mit Rutger Hauer in der Rolle des Andreas wurde 1988 bei den Film­fest­spie­len in Venedig mit dem Goldenen Löwen aus­geze­ich­net. Zudem wurde die Geschichte mehrfach als Hörspiel drama­tisiert und aufgenommen. 1960 sprach Horst Tappert den Clochard Andreas in einer WDR-Pro­duk­tion.

Über den Autor

Joseph Roth wird am 2. September 1894 im galizischen Brody bei Lemberg geboren und ist jüdischer Abstammung. Nach dem Studium der Philosophie und Germanistik nimmt er ab 1916 am Ersten Weltkrieg teil, als Feldjäger und Mitarbeiter des Presse­di­en­stes. Ein Jahr zuvor veröffentlicht Roth seine erste Novelle mit dem Titel Der Vorzugsschüler. Während des Krieges schreibt er fürs Feuilleton und verfasst Gedichte. Nach Kriegsende kehrt er nach Wien zurück, aber schon 1920 zieht es ihn nach Deutschland. In Berlin heiratet er Friederike Reichler. Ab 1923 abermals in Wien, veröffentlicht Roth die Romane Das Spinnennetz (1923), Hotel Savoy (1924) und Die Rebellion (1924) in ver­schiede­nen links­gerichteten Zeitungen. 1925 reist er als Ko­r­re­spon­dent der Frankfurter Zeitung nach Paris, ein Jahr später geht es in die Sowjetunion, wonach Roth sich vom Sozialismus abwendet. In den folgenden Jahren beschäftigt sich sein schrift­stel­lerisches Werk unter anderem mit dem Judentum im Osten (Flucht ohne Ende, Juden auf Wan­der­schaft, beide 1927, und Hiob, 1930) und dem Zerfall der öster­re­ichisch-un­garischen Monarchie. Dies wird vor allem in Radet­zky­marsch (1932) – oft als Roths Hauptwerk bezeichnet – deutlich: Darin begleitet er drei Gen­er­a­tio­nen einer Familie und erzählt parallel dazu den Untergang des Kaiser­re­ichs. Ab 1928 ko­r­re­spondiert Roth mit Stefan Zweig, woraus sich eine tiefe Fre­und­schaft entwickelt. 1930 wird seine Frau in eine Ner­ven­heilanstalt ein­geliefert; zwölf Jahre später wird sie im Rahmen des Eu­thanasiepro­gramms der Na­tion­al­sozial­is­ten ermordet. 1933 flieht Roth vor den Nazis nach Paris. Seine Arbeit bei diversen Ex­ilzeitschriften wird von seiner zunehmenden Alko­hol­sucht überschattet: Private Probleme und der Kummer über die politische Entwicklung lassen ihn immer öfter zur Flasche greifen; eine Krankheit, die ihn schließlich auch das Leben kostet. Bis zu seinem Tod am 27. Mai 1939 in einem Pariser Ar­men­hos­pi­tal erscheint unter anderem der Roman Die Ka­puzin­er­gruft (1938), postum erscheinen die Werke Die Legende vom heiligen Trinker (1939) und Leviathan (1940).