Nudge

Buch Nudge

Wie man kluge Entscheidungen anstößt

Econ,
Auch erhältlich auf: Englisch


Rezension

Eine Theorie, die alle drängenden gesellschaftlichen Probleme löst? Klingt nicht schlecht. Ob der „libertäre Pa­ter­nal­is­mus“, den Richard H. Thaler und Cass R. Sunstein in ihrem Buch vorstellen, dazu in der Lage ist, steht noch offen. Was man den Autoren aber in jedem Fall zugute­hal­ten muss: Ihr Ansatz ist neu, wohltuend unide­ol­o­gisch und hat tatsächlich das Zeug, die Zusam­me­nar­beit der Menschen in Wirtschaft, Gesellschaft und Politik markant zu verändern. Von welchen Ideen lässt sich das schon sagen? „Nudges“ (das englische Wort für „Stupse“) sind das Mittel, das Thaler und Sunstein zur Umsetzung ihrer Theorie vorschlagen. Im Wesentlichen ist damit gemeint, dass man Menschen in ihren Entschei­dun­gen gezielt beeinflusst, ohne ihre Entschei­dungs­frei­heit einzuschränken. Wie solche Maßnahmen konkret funk­tion­ieren könnten, zeigen Thaler und Sunstein anhand einer Reihe von Prax­is­beispie­len – so überzeugend, dass man nach der Lektüre gleich selbst zur Tat schreiten will. BooksInShort meint: ein er­frischen­der Ansatz jenseits linker und rechter Paten­trezepte, der allen Un­ternehmern, Managern und Politikern zu empfehlen ist, die auf in­tel­li­gente Entschei­dun­gen angewiesen sind – seien es eigene oder solche von Mi­tar­beit­ern.

Take-aways

  • Menschen handeln weder rational noch un­bee­in­flusst.
  • Persönliche Erfahrungen, Ein­stel­lun­gen oder Ver­suchun­gen verzerren die Wahrnehmung.
  • Libertärer Pa­ter­nal­is­mus besagt, dass man Entschei­dun­gen beeinflusst, ohne ihre Frei­willigkeit anzutasten.
  • Mit gezielten Anstößen („Nudges“) lässt sich das Handeln der Menschen zu ihrem eigenen Vorteil und zugunsten der Gesellschaft bee­in­flussen.
  • Nudges müssen vollkommen transparent und neutral sein.
  • Eine wichtige Form von Nudges sind Stan­dard­vor­gaben: Sie treten in Kraft, wenn sich jemand nicht ausdrücklich gegen sie entscheidet (z. B. die Organspende).
  • Nudges können den Umgang mit Geld verbessern, indem sie etwa Anreize zur Al­tersvor­sorge geben.
  • Der Handel mit Emis­sion­srechten ist ein Beispiel für einen erprobten Nudge im Umweltschutzbere­ich.
  • Nudges können in Ehe und Part­ner­schaften zu einem ve­r­ant­wor­tungsvollen Zusam­men­leben animieren.
  • Der libertäre Pa­ter­nal­is­mus kann das Lagerdenken in der Politik aufbrechen.
 

Zusammenfassung

Libertärer Pa­ter­nal­is­mus

Jeder kennt es aus eigener Erfahrung: Menschen tun oft nicht die Dinge, die für sie am besten wären. Sie rauchen, obwohl es ungesund ist. Sie arbeiten auch dann noch, wenn Körper und Geist schon längst müde sind. Sie essen, obwohl sie keinen Hunger haben, und gehen trotz Übergewicht weiterhin in die ach so bequemen Fast-Food-Restau­rants. Zwar haben sich diese Menschen jeweils selbst für ihre Handlungen entschieden. Doch diese Freiheit ist of­fen­sichtlich keine Garantie dafür, dass ihr Verhalten ihnen nicht schadet.

„Alle Menschen sollen generell frei entscheiden können, was sie tun möchten und was sie lieber ablehnen wollen.“

Zudem besteht die Gefahr, dass durch ihr Tun die gesamte Gesellschaft belastet wird, etwa in Form steigender Gesund­heit­skosten. Durch einen kleinen Anstoß, englisch „nudge“, ließe sich das oft leicht ändern. So ergaben Un­ter­suchun­gen, dass Kinder in Kantinen eher zu Obst als zu Süßigkeiten griffen, wenn die Schoko­riegel schwer zu erreichen waren und die Äpfel oder Bananen ganz vorne standen. Ihre Entschei­dungsmöglichkeiten wurden dabei nicht eingeschränkt, sondern ausschließlich durch eine veränderte Anordnung der Waren zu ihrem Wohl beeinflusst.

„Pa­ter­nal­is­mus ist deshalb wichtig, weil es legitim ist, das Verhalten der Menschen zu bee­in­flussen, um ihr Leben länger, gesünder und besser zu machen.“

Die Umsetzung von Maßnahmen, die men­schliches Verhalten gezielt steuern, ohne die Entschei­dungs­frei­heit zu begrenzen, wird als „libertärer Pa­ter­nal­is­mus“ bezeichnet. Die Menschen, die solche Maßnahmen beschließen, sind „Entschei­dungsar­chitek­ten“. Politiker wie US-Präsident Barack Obama oder der britische Tory-Führer David Cameron haben den libertären Pa­ter­nal­is­mus bereits in ihr Programm aufgenommen. Für den Ansatz spricht, dass der Mensch kein rationales Wesen ist und dass er sich oft aufgrund von Fehleinschätzungen oder aus Trägheit entscheidet. Der libertäre Pa­ter­nal­is­mus kann ein neuer Weg sein, Probleme wie Umweltver­schmutzung oder Altersarmut zu lösen, indem rationales Verhalten gezielt gefördert wird.

Zwei Denkweisen

Es gibt durchaus Situationen, in denen Menschen rational entscheiden und genau das Richtige tun. Allerdings lässt sich nicht vorhersagen, wann das der Fall sein wird und wann nicht. Psychologen und Gehirn­forscher erklären diese Willkür mit der Funk­tion­sweise des Gehirns und un­ter­schei­den zwei Arten des Denkens: das in­tu­itiv-au­toma­tis­che und das re­flek­tierend-ra­tio­nale. Während Ersteres eher instinktiv, sehr schnell und unbewusst abläuft, erfolgt Letzteres bewusst, in Form von sorgfältiger Überlegung. Der Unterschied zeigt sich beispiel­sweise in der Anwendung von Sprachen: Ihre Mut­ter­sprache sprechen die meisten Menschen intuitiv, bei anderen Sprachen müssen sie dagegen genau überlegen, was sie sagen.

„Ein Nudge ist nur ein Anstoß, keine Anordnung.“

Beide Arten des Denkens haben ihre Vor- und Nachteile – die Komplexität des Lebens lässt sich nicht nur mit einer Art bewältigen. Aus diesem Grund greifen die Menschen gern auf Faustregeln zurück und halten sich an so genannten Ankern fest, Vergleichen oder Maßstäben, die in persönlichen Erfahrungen wurzeln. Werden etwa Dorf­be­wohner nach der Ein­wohn­erzahl einer Großstadt gefragt, liegt ihre Schätzung mit großer Wahrschein­lichkeit unter der Zahl, mit der Bewohner bevölkerungsre­icher Städte antworten würden. Oder: Gefahren wie Erdbeben werden als wahrschein­licher eingeschätzt, wenn man sie selbst schon einmal erlebt hat.

Beeinträchtigte Wahrnehmung

Eine andere Beeinträchtigung der eigenen Wahrnehmung ist unbegründeter Optimismus. Umfragen unter Studenten vor einer Prüfung zeigen, dass fast alle glauben, deutlich über dem Durch­schnitt zu landen, was natürlich nie der Realität entspricht. Genauso glauben Raucher nicht daran, selbst an Lungenkrebs zu erkranken, und frisch ver­heiratete Paare denken kaum an die Möglichkeit einer späteren Scheidung. Der vielleicht häufigste Grund für Fehlentschei­dun­gen ist jedoch Trägheit. Aus Angst vor Verlust, Anstrengung oder Veränderung vermeiden Menschen eine Handlung. Nur so lässt sich erklären, warum die meisten Handy­be­nutzer die Stan­dard­e­in­stel­lun­gen des Geräts nicht ändern und viele Funktionen ihres Telefons gar nicht erst kennen lernen. Ein anderes Beispiel ist das Festhalten an wenig lukrativen Wert­pa­pieren oder viel zu teuren Ver­sicherun­gen.

„Der menschliche Entschei­dung­sprozess ist alles andere als perfekt.“

Schließlich werden Entschei­dun­gen oft auch durch die Macht der Versuchung verzerrt. So essen Par­tybe­sucher mehr, als ihr Körper verlangt. Studien mit Kinogängern, die altes Popcorn bekamen, zeigen, dass diese Gedanken­losigkeit sogar vor schlechtem Geschmack nicht Halt macht. Überhaupt verführt der Markt Menschen zu fehlgeleit­eten Entschei­dun­gen. Bestes Beispiel sind die hohen Kred­itkarten­schulden fast überall in der Welt. Die Möglichkeit, auf Pump zu kaufen, verlockt viele, sich in den Geschäften über ihre wahren Bedürfnisse hin­wegzuset­zen.

Econs und Humans

Vielen Menschen ist ihre Fehlbarkeit bewusst. Deshalb versuchen sie, sich selbst zu diszi­plin­ieren oder Unterstützung einzuholen. Dafür hat sich sogar schon ein Markt entwickelt; so gibt es zum Beispiel einen Wecker, der beim Drücken der Schlum­mer­taste davonrollt, vom Nachttisch fällt, sich versteckt und sich erst abschalten lässt, wenn man wirklich aus dem Bett steigt. Ein anderes Beispiel sind Sparklubs, in denen Teilnehmer ohne Zinsen Geld für Wei­h­nacht­seinkäufe zurücklegen können.

„Humans machen Fehler. Ein stabiles System kalkuliert die Möglichkeit mit ein, dass seine Benutzer sich irren, und hat eine möglichst hohe Fehler­tol­er­anz.“

Nur wenige Menschen sind – wie die Psychologen sagen – „Econs“, die ausschließlich ihrem eigenen Nutzen folgen. Die meisten sind „Humans“, die sich in ihren Entschei­dun­gen irren und sich leicht von Worten, anderen Menschen oder Dingen bee­in­flussen lassen. Studien belegen, dass der Einfluss von Gruppen sogar so groß sein kann, dass Humans die Realität völlig außer Acht lassen. Genau da setzen Nudges an. Mit einem kleinen Anstoß helfen sie, die richtige Entschei­dung zu fördern. Ob Steuerehrlichkeit, En­ergies­paren, Zi­garet­tenkon­sum, Teenager­schwanger­schaften oder Renten­sicherung, bei nahezu jedem Thema könnte man von Nudges profitieren.

Nudges als Hilfe zur Selb­stkon­trolle

Besonders wirksam sind Nudges, wenn sie Entschei­dun­gen bee­in­flussen, die selten getroffen werden, für die nicht genug Wissen vorhanden ist und bei denen Kosten und Nutzen zeitlich weit au­seinan­der­fallen. Beim Kred­itkartenkauf etwa hat man das Vergnügen sofort, während die Bezahlung in Form von Schulden aufgeschoben wird. Umgekehrt müssen die Kosten für Renten­ver­sicherun­gen aus dem heutigen Einkommen beglichen werden, während die „Belohnung“ in weiter Ferne liegt und in Abhängigkeit von der Zin­sen­twick­lung ungewiss bleibt.

„Gesetze, die es Menschen untersagen, sich zu den von ihnen gewünschten Bedingungen zu einigen, verfehlen ihr Ziel, weil die Betroffenen einen Weg finden, sie zu umgehen. Doch die Vorstel­lun­gen der Menschen werden dadurch beeinflusst, was das Gesetz als Standard festlegt.“

In der Umsetzung können Nudges sowohl sehr komplex als auch einfach sein. Ein Beispiel für den ersten Fall ist die Entwicklung einer effektiven Stan­dard­e­in­stel­lung für Computer, die ohnehin von den wenigsten geändert wird. Einfache Nudges sind dagegen der Piepston im Auto, wenn der Gurt nicht eingeklickt ist, oder der Hinweis „look right“ auf Londons Bürgersteigen, der vor den Gefahren des Linksverkehrs warnt. Allen Nudges gemeinsam ist, dass sie Fehler einplanen und Rückmeldung auf ein Verhalten geben.

Besser mit Geld umgehen

Der Umgang mit Geld ist ein ideales Feld für den Einsatz von Nudges. Nirgendwo wird das irrationale Handeln der Menschen deutlicher als beim Überziehen von Kred­itkartenkon­ten, dem Reinfallen auf Lockange­bote für Hypotheken oder dem Nichtab­schließen privater Renten­ver­sicherun­gen. Diese Probleme könnten verhindert werden, wenn Nudges etabliert würden, die für Transparenz sorgen, wichtige In­for­ma­tio­nen leicht verständlich zugänglich machen und konkrete Angebote un­ter­bre­iten. Ar­beit­nehmer, die eine private Renten­ver­sicherung abschließen wollen, aber kein Know-how haben, könnten aus einem kleinen, von Experten fest­gelegten Angebot von Fonds wählen, das auf ihre Bedürfnisse zugeschnit­ten ist. Und Kred­itkarte­nun­ternehmen müssten ihre Gebühren und Zinsen so deutlich ausweisen, dass ihre Kunden sofort sehen, welche Kosten bei Abbuchungen auf sie zukommen und wann sie ihr Konto überziehen.

Gesellschaftliche Probleme lösen

Auch bei gesellschaftlichen Themen wird deutlich, wie schwer es ist, richtige Entschei­dun­gen zu treffen. Mithilfe des freien Marktes allein sind die meisten Probleme nicht zu lösen. Darum wollen jetzt viele Regierungen Umwelt­be­las­tun­gen durch Nudges wie Umwelt­s­teuern oder den Handel mit Emis­sion­srechten begrenzen. Aber auch das reicht noch nicht. Die meisten Menschen sehen trotz solcher Maßnahmen keinen Grund, Energie zu sparen, Müll zu trennen oder ihren CO2-Ausstoß zu reduzieren. Deshalb sind weitere Anreize gefragt, zum Beispiel trans­par­ente In­for­ma­tio­nen über die Sprit- und Umweltkosten beim Autokauf, das Einplanen der späteren Nebenkosten beim Hausbau, trans­par­ente Strom­rech­nun­gen oder freiwillige Leis­tungs­stan­dards für Elektrogeräte, die mit einem besonderen Siegel aus­geze­ich­net werden.

„Die Komplexität unseres modernen Lebens und die Geschwindigkeit des tech­nol­o­gis­chen und globalen Wandels entkräften die Argumente für regulative Politik und für dog­ma­tis­ches Lais­sez-faire gleichermaßen.“

Nudges könnten ebenfalls helfen, die Zahl der Or­ganspender zu erhöhen. Weltweit gibt es weit mehr Patienten auf Or­gan­wartelis­ten als potenzielle Spender. Der Grund für diese Entwicklung liegt vor allem darin, dass Or­ganspender in den meisten Ländern ihre Bere­itschaft deutlich erklären müssen. Würden dagegen wie in Österreich alle Einwohner generell als potenzielle Spender angesehen, die ihre Bere­itschaft allenfalls aktiv widerrufen müssten, stiege der Anteil sofort. Einen anderen Weg ging der amerikanis­che Bundesstaat Illinois. Dort wurde der Anteil der Spender durch eine Pflich­t­entschei­dung und eine Zus­tim­mungskam­pagne auf 60 Prozent gesteigert.

„Natürlich muss man Sorge tragen, dass bei Nudges nicht Inkompetenz und Eigennutz ins Spiel kommen.“

Ein in vielen Ländern heikles Thema für Nudges ist die Institution Ehe. Bis heute entscheiden die Regierungen, wer heiraten darf und welche Rechte und Pflichten damit verbunden sind. Sinnvoller scheint es allerdings, die Ehe zu pri­vatisieren und dem Staat nur die Oberhoheit über einge­tra­gene Part­ner­schaften zu übertragen – verbunden mit Nudges, zum Beispiel einer Stan­dard­vor­gabe für das gemeinsame Sorgerecht. Die Versorgung von Partnern und Kindern könnte man so vere­in­fachen und die Kosten von möglichen Trennungen ließen sich deutlich reduzieren.

Potenzial und Grenzen des libertären Pa­ter­nal­is­mus

Der Ein­satzbere­ich von Nudges ist unendlich. Einige besonders wirksame und bereits umgesetzte Beispiele sind Steuervergünstigungen für Spenden, eine au­toma­tis­che Steuererklärung, Sperrlisten für Glücksspieler in Kasinos oder Bonus­pro­gramme von Kranken­ver­sicherun­gen. Aber obwohl der libertäre Pa­ter­nal­is­mus of­fen­sichtlichen Nutzen für die All­ge­mein­heit stiftet, sind Nudges kein All­heilmit­tel. Auch sie haben ihre Grenzen, da die Entschei­dungsar­chitek­ten die Anstöße unter Umständen zu ihrem persönlichen Vorteil ausnutzen. Angesichts der großen sozialen Probleme und der Tatsache, dass alle Menschen irrationale Entschei­dun­gen treffen, werden Gesellschaften jedoch nicht umhinkönnen, Wahl­frei­heit mit Nudges zu verbinden. Erfolg wird der libertäre Pa­ter­nal­is­mus dann haben, wenn die Prinzipien der Transparenz und der Neutralität konsequent verfolgt werden. Dann könnte die Bewegung einen ganz neuen Weg in der Politik ebnen, jenseits der tra­di­tionellen Lager der staatlichen Regulierer und der Ne­olib­eralen.

Über die Autoren

Richard H. Thaler lehrt als Professor an der Universität Chicago. 2017 erhielt er den Wirtschaft­sno­bel­preis, in Anerkennung seiner Verdienste um die Begründung der Verhaltensökonomie. Cass R. Sunstein ist Jurist und Inhaber des Fe­lix-Frank­furter-Lehrstuhls an der Harvard Law School.