Libertärer Paternalismus
Jeder kennt es aus eigener Erfahrung: Menschen tun oft nicht die Dinge, die für sie am besten wären. Sie rauchen, obwohl es ungesund ist. Sie arbeiten auch dann noch, wenn Körper und Geist schon längst müde sind. Sie essen, obwohl sie keinen Hunger haben, und gehen trotz Übergewicht weiterhin in die ach so bequemen Fast-Food-Restaurants. Zwar haben sich diese Menschen jeweils selbst für ihre Handlungen entschieden. Doch diese Freiheit ist offensichtlich keine Garantie dafür, dass ihr Verhalten ihnen nicht schadet.
„Alle Menschen sollen generell frei entscheiden können, was sie tun möchten und was sie lieber ablehnen wollen.“
Zudem besteht die Gefahr, dass durch ihr Tun die gesamte Gesellschaft belastet wird, etwa in Form steigender Gesundheitskosten. Durch einen kleinen Anstoß, englisch „nudge“, ließe sich das oft leicht ändern. So ergaben Untersuchungen, dass Kinder in Kantinen eher zu Obst als zu Süßigkeiten griffen, wenn die Schokoriegel schwer zu erreichen waren und die Äpfel oder Bananen ganz vorne standen. Ihre Entscheidungsmöglichkeiten wurden dabei nicht eingeschränkt, sondern ausschließlich durch eine veränderte Anordnung der Waren zu ihrem Wohl beeinflusst.
„Paternalismus ist deshalb wichtig, weil es legitim ist, das Verhalten der Menschen zu beeinflussen, um ihr Leben länger, gesünder und besser zu machen.“
Die Umsetzung von Maßnahmen, die menschliches Verhalten gezielt steuern, ohne die Entscheidungsfreiheit zu begrenzen, wird als „libertärer Paternalismus“ bezeichnet. Die Menschen, die solche Maßnahmen beschließen, sind „Entscheidungsarchitekten“. Politiker wie US-Präsident Barack Obama oder der britische Tory-Führer David Cameron haben den libertären Paternalismus bereits in ihr Programm aufgenommen. Für den Ansatz spricht, dass der Mensch kein rationales Wesen ist und dass er sich oft aufgrund von Fehleinschätzungen oder aus Trägheit entscheidet. Der libertäre Paternalismus kann ein neuer Weg sein, Probleme wie Umweltverschmutzung oder Altersarmut zu lösen, indem rationales Verhalten gezielt gefördert wird.
Zwei Denkweisen
Es gibt durchaus Situationen, in denen Menschen rational entscheiden und genau das Richtige tun. Allerdings lässt sich nicht vorhersagen, wann das der Fall sein wird und wann nicht. Psychologen und Gehirnforscher erklären diese Willkür mit der Funktionsweise des Gehirns und unterscheiden zwei Arten des Denkens: das intuitiv-automatische und das reflektierend-rationale. Während Ersteres eher instinktiv, sehr schnell und unbewusst abläuft, erfolgt Letzteres bewusst, in Form von sorgfältiger Überlegung. Der Unterschied zeigt sich beispielsweise in der Anwendung von Sprachen: Ihre Muttersprache sprechen die meisten Menschen intuitiv, bei anderen Sprachen müssen sie dagegen genau überlegen, was sie sagen.
„Ein Nudge ist nur ein Anstoß, keine Anordnung.“
Beide Arten des Denkens haben ihre Vor- und Nachteile – die Komplexität des Lebens lässt sich nicht nur mit einer Art bewältigen. Aus diesem Grund greifen die Menschen gern auf Faustregeln zurück und halten sich an so genannten Ankern fest, Vergleichen oder Maßstäben, die in persönlichen Erfahrungen wurzeln. Werden etwa Dorfbewohner nach der Einwohnerzahl einer Großstadt gefragt, liegt ihre Schätzung mit großer Wahrscheinlichkeit unter der Zahl, mit der Bewohner bevölkerungsreicher Städte antworten würden. Oder: Gefahren wie Erdbeben werden als wahrscheinlicher eingeschätzt, wenn man sie selbst schon einmal erlebt hat.
Beeinträchtigte Wahrnehmung
Eine andere Beeinträchtigung der eigenen Wahrnehmung ist unbegründeter Optimismus. Umfragen unter Studenten vor einer Prüfung zeigen, dass fast alle glauben, deutlich über dem Durchschnitt zu landen, was natürlich nie der Realität entspricht. Genauso glauben Raucher nicht daran, selbst an Lungenkrebs zu erkranken, und frisch verheiratete Paare denken kaum an die Möglichkeit einer späteren Scheidung. Der vielleicht häufigste Grund für Fehlentscheidungen ist jedoch Trägheit. Aus Angst vor Verlust, Anstrengung oder Veränderung vermeiden Menschen eine Handlung. Nur so lässt sich erklären, warum die meisten Handybenutzer die Standardeinstellungen des Geräts nicht ändern und viele Funktionen ihres Telefons gar nicht erst kennen lernen. Ein anderes Beispiel ist das Festhalten an wenig lukrativen Wertpapieren oder viel zu teuren Versicherungen.
„Der menschliche Entscheidungsprozess ist alles andere als perfekt.“
Schließlich werden Entscheidungen oft auch durch die Macht der Versuchung verzerrt. So essen Partybesucher mehr, als ihr Körper verlangt. Studien mit Kinogängern, die altes Popcorn bekamen, zeigen, dass diese Gedankenlosigkeit sogar vor schlechtem Geschmack nicht Halt macht. Überhaupt verführt der Markt Menschen zu fehlgeleiteten Entscheidungen. Bestes Beispiel sind die hohen Kreditkartenschulden fast überall in der Welt. Die Möglichkeit, auf Pump zu kaufen, verlockt viele, sich in den Geschäften über ihre wahren Bedürfnisse hinwegzusetzen.
Econs und Humans
Vielen Menschen ist ihre Fehlbarkeit bewusst. Deshalb versuchen sie, sich selbst zu disziplinieren oder Unterstützung einzuholen. Dafür hat sich sogar schon ein Markt entwickelt; so gibt es zum Beispiel einen Wecker, der beim Drücken der Schlummertaste davonrollt, vom Nachttisch fällt, sich versteckt und sich erst abschalten lässt, wenn man wirklich aus dem Bett steigt. Ein anderes Beispiel sind Sparklubs, in denen Teilnehmer ohne Zinsen Geld für Weihnachtseinkäufe zurücklegen können.
„Humans machen Fehler. Ein stabiles System kalkuliert die Möglichkeit mit ein, dass seine Benutzer sich irren, und hat eine möglichst hohe Fehlertoleranz.“
Nur wenige Menschen sind – wie die Psychologen sagen – „Econs“, die ausschließlich ihrem eigenen Nutzen folgen. Die meisten sind „Humans“, die sich in ihren Entscheidungen irren und sich leicht von Worten, anderen Menschen oder Dingen beeinflussen lassen. Studien belegen, dass der Einfluss von Gruppen sogar so groß sein kann, dass Humans die Realität völlig außer Acht lassen. Genau da setzen Nudges an. Mit einem kleinen Anstoß helfen sie, die richtige Entscheidung zu fördern. Ob Steuerehrlichkeit, Energiesparen, Zigarettenkonsum, Teenagerschwangerschaften oder Rentensicherung, bei nahezu jedem Thema könnte man von Nudges profitieren.
Nudges als Hilfe zur Selbstkontrolle
Besonders wirksam sind Nudges, wenn sie Entscheidungen beeinflussen, die selten getroffen werden, für die nicht genug Wissen vorhanden ist und bei denen Kosten und Nutzen zeitlich weit auseinanderfallen. Beim Kreditkartenkauf etwa hat man das Vergnügen sofort, während die Bezahlung in Form von Schulden aufgeschoben wird. Umgekehrt müssen die Kosten für Rentenversicherungen aus dem heutigen Einkommen beglichen werden, während die „Belohnung“ in weiter Ferne liegt und in Abhängigkeit von der Zinsentwicklung ungewiss bleibt.
„Gesetze, die es Menschen untersagen, sich zu den von ihnen gewünschten Bedingungen zu einigen, verfehlen ihr Ziel, weil die Betroffenen einen Weg finden, sie zu umgehen. Doch die Vorstellungen der Menschen werden dadurch beeinflusst, was das Gesetz als Standard festlegt.“
In der Umsetzung können Nudges sowohl sehr komplex als auch einfach sein. Ein Beispiel für den ersten Fall ist die Entwicklung einer effektiven Standardeinstellung für Computer, die ohnehin von den wenigsten geändert wird. Einfache Nudges sind dagegen der Piepston im Auto, wenn der Gurt nicht eingeklickt ist, oder der Hinweis „look right“ auf Londons Bürgersteigen, der vor den Gefahren des Linksverkehrs warnt. Allen Nudges gemeinsam ist, dass sie Fehler einplanen und Rückmeldung auf ein Verhalten geben.
Besser mit Geld umgehen
Der Umgang mit Geld ist ein ideales Feld für den Einsatz von Nudges. Nirgendwo wird das irrationale Handeln der Menschen deutlicher als beim Überziehen von Kreditkartenkonten, dem Reinfallen auf Lockangebote für Hypotheken oder dem Nichtabschließen privater Rentenversicherungen. Diese Probleme könnten verhindert werden, wenn Nudges etabliert würden, die für Transparenz sorgen, wichtige Informationen leicht verständlich zugänglich machen und konkrete Angebote unterbreiten. Arbeitnehmer, die eine private Rentenversicherung abschließen wollen, aber kein Know-how haben, könnten aus einem kleinen, von Experten festgelegten Angebot von Fonds wählen, das auf ihre Bedürfnisse zugeschnitten ist. Und Kreditkartenunternehmen müssten ihre Gebühren und Zinsen so deutlich ausweisen, dass ihre Kunden sofort sehen, welche Kosten bei Abbuchungen auf sie zukommen und wann sie ihr Konto überziehen.
Gesellschaftliche Probleme lösen
Auch bei gesellschaftlichen Themen wird deutlich, wie schwer es ist, richtige Entscheidungen zu treffen. Mithilfe des freien Marktes allein sind die meisten Probleme nicht zu lösen. Darum wollen jetzt viele Regierungen Umweltbelastungen durch Nudges wie Umweltsteuern oder den Handel mit Emissionsrechten begrenzen. Aber auch das reicht noch nicht. Die meisten Menschen sehen trotz solcher Maßnahmen keinen Grund, Energie zu sparen, Müll zu trennen oder ihren CO2-Ausstoß zu reduzieren. Deshalb sind weitere Anreize gefragt, zum Beispiel transparente Informationen über die Sprit- und Umweltkosten beim Autokauf, das Einplanen der späteren Nebenkosten beim Hausbau, transparente Stromrechnungen oder freiwillige Leistungsstandards für Elektrogeräte, die mit einem besonderen Siegel ausgezeichnet werden.
„Die Komplexität unseres modernen Lebens und die Geschwindigkeit des technologischen und globalen Wandels entkräften die Argumente für regulative Politik und für dogmatisches Laissez-faire gleichermaßen.“
Nudges könnten ebenfalls helfen, die Zahl der Organspender zu erhöhen. Weltweit gibt es weit mehr Patienten auf Organwartelisten als potenzielle Spender. Der Grund für diese Entwicklung liegt vor allem darin, dass Organspender in den meisten Ländern ihre Bereitschaft deutlich erklären müssen. Würden dagegen wie in Österreich alle Einwohner generell als potenzielle Spender angesehen, die ihre Bereitschaft allenfalls aktiv widerrufen müssten, stiege der Anteil sofort. Einen anderen Weg ging der amerikanische Bundesstaat Illinois. Dort wurde der Anteil der Spender durch eine Pflichtentscheidung und eine Zustimmungskampagne auf 60 Prozent gesteigert.
„Natürlich muss man Sorge tragen, dass bei Nudges nicht Inkompetenz und Eigennutz ins Spiel kommen.“
Ein in vielen Ländern heikles Thema für Nudges ist die Institution Ehe. Bis heute entscheiden die Regierungen, wer heiraten darf und welche Rechte und Pflichten damit verbunden sind. Sinnvoller scheint es allerdings, die Ehe zu privatisieren und dem Staat nur die Oberhoheit über eingetragene Partnerschaften zu übertragen – verbunden mit Nudges, zum Beispiel einer Standardvorgabe für das gemeinsame Sorgerecht. Die Versorgung von Partnern und Kindern könnte man so vereinfachen und die Kosten von möglichen Trennungen ließen sich deutlich reduzieren.
Potenzial und Grenzen des libertären Paternalismus
Der Einsatzbereich von Nudges ist unendlich. Einige besonders wirksame und bereits umgesetzte Beispiele sind Steuervergünstigungen für Spenden, eine automatische Steuererklärung, Sperrlisten für Glücksspieler in Kasinos oder Bonusprogramme von Krankenversicherungen. Aber obwohl der libertäre Paternalismus offensichtlichen Nutzen für die Allgemeinheit stiftet, sind Nudges kein Allheilmittel. Auch sie haben ihre Grenzen, da die Entscheidungsarchitekten die Anstöße unter Umständen zu ihrem persönlichen Vorteil ausnutzen. Angesichts der großen sozialen Probleme und der Tatsache, dass alle Menschen irrationale Entscheidungen treffen, werden Gesellschaften jedoch nicht umhinkönnen, Wahlfreiheit mit Nudges zu verbinden. Erfolg wird der libertäre Paternalismus dann haben, wenn die Prinzipien der Transparenz und der Neutralität konsequent verfolgt werden. Dann könnte die Bewegung einen ganz neuen Weg in der Politik ebnen, jenseits der traditionellen Lager der staatlichen Regulierer und der Neoliberalen.