Blei zu Gold
Die moderne Finanzwirtschaft ähnelt der mittelalterlichen Alchemie in ihrem Bestreben, Blei in Gold zu verwandeln. Das Erstaunliche ist, das dieses Verfahren manchmal tatsächlich funktioniert, wie beispielsweise zur Zeit der amerikanischen Immobilienblase, deren Platzen zur weltweiten Finanzkrise der Jahre 2008 und 2009 führte.
„Vom antiken Babylon bis zum Hongkong von heute ist die Entwicklung des Kreditwesens für die Entwicklung der Zivilisation ebenso wichtig gewesen wie technische Erfindungen.“
Amerika lebt auf Pump. Deshalb war es bis vor Kurzem auch für ärmere Familien möglich, Kredite für den Hauskauf zu erlangen. Diese wurden von den Banken zu so genannten besicherten Schuldverschreibungen gebündelt und dann – ohne Wissen der Schuldner – an Banken in der ganzen Welt verkauft. So finanzierten Geldinstitute in Deutschland oder der Schweiz faule amerikanische Kredite, die Subprime-Hypotheken. Die Bündelung gab den Krediten den Anschein, ihr Risiko sei kalkulierbar, ja sogar teilweise von AAA-Bonität. Das funktionierte so lange, wie die Zinszahlungen flossen, die Häuser an Wert gewannen und die Käufer Arbeit hatten.
„Hinter jeder großen historischen Erscheinung verbirgt sich ein finanzielles Geheimnis.“
Als die Hypotheken-Lockangebote dann aber ausliefen und die Zinsschraube angezogen wurde, konnten viele Schuldner nicht mehr zahlen. Und siehe da: Das Gold verwandelte sich wieder in Blei. Die vermeintlich sicheren Immobilien sanken im Wert, viele ihrer Bewohner mussten ausziehen. Und das internationale Finanzsystem, das diese faulen Kredite zur Absicherung anderer Kredite verwendet hatte, brach Stein um Stein, wie ein Riesendomino, zusammen.
Der Aufstieg des Geldes
Wie hat das alles angefangen? Warum überhaupt Geld? Geld vereinfacht Transaktionen, es ist ein Wertspeicher und kann überall, wo es akzeptiert wird, gegen Waren aller Art eingetauscht werden. Geldmünzen bestanden fast immer aus Edelmetallen wie Gold oder Silber. Die älteste bekannte Münze von 600 v. Chr. war aus einer Gold-Silber-Legierung gefertigt und stammt aus Ephesus (in der heutigen Türkei). Die Römer verwendeten Münzen aus Gold, Silber und Bronze, deren Wert anhand der Seltenheit des Metalls bemessen wurde. In der Neuzeit machten beispielsweise die spanischen Konquistadoren und Könige die Erfahrung, dass eine zu große Menge eines Edelmetalls dessen Wert dramatisch beschädigen kann. Sie importierten so viel Silber aus den Minen in Mexiko nach Spanien, dass dessen Kaufkraft für damalige Verhältnisse dramatisch zerfiel. Klar: Güter, die in Hülle und Fülle existieren, sind weniger Wert als rare Güter.
„Märkte haben auch ein Eigenleben. Die Zukunft ist weitgehend unsicher, und das ist auch unsere Einschätzung der künftigen Profitabilität von Unternehmen.“
Bereits vor 5000 Jahren existierten im alten Babylon Tontafeln, die dem Besitzer eine bestimmte Menge Gerste zur Erntezeit versprachen. Diese in Ton gebrannten Versprechen waren nichts anderes als die frühen Vorläufer moderner Banknoten. Und diese sind auch nichts anderes als Versprechen, denen wir in der Regel Glauben schenken. Noch erstaunlicher: Heute vertrauen wir sogar dem Geld, das nur als elektronische Ziffern über Computerbildschirme und an Bankomaten flimmert.
Die Medici und der Aufstieg der Banken
Wer Geld sagt, muss auch Kredit sagen: Der professionelle Verleih von Geld durch die ersten Banken erlebte im Italien der Renaissance seine Blütezeit. Im 14. Jahrhundert hatte die Familie der Medici in Florenz großen Einfluss auf die Entwicklung dieses Stadtstaates. Einige Familienangehörige waren Devisenhändler und Mitglieder der Gilde der Geldverleiher, einem Amt, das zuvor den Juden vorbehalten war, weil den Christen Geldverleih und Wucher verboten waren. Die Medici erkauften sich über ihre Erfolge in der Finanzwelt Ämter und politischen Einfluss. Natürlich hatten sie viele Neider und politische Gegner, die ihnen mehr als einmal die Hölle heiß machten. Doch in der Mitte des 15. Jahrhunderts gehörte der Familie praktisch der Florentiner Staat – ohne dass sie formell die Königswürde innehatten. Ihr Erfolgsgeheimnis: Sie diversifizierten ihre Geschäfte, streuten ihr Risiko und wurden so binnen kurzer Zeit unermesslich reich.
„Nach der Einführung des Kredits war die Geburt der Anleihe die zweite große Revolution, die den Aufstieg des Geldes begründete.“
In den Jahrhunderten danach schossen immer neue und immer mehr Banken aus dem Boden. Die Industrielle Revolution begünstigte ihre Verbreitung. Umgekehrt war es die Kreditvergabe der Banken, die große technische Entwicklungen überhaupt erst möglich machte. Um 1900 wuchs die Bedeutung der Sparkassen, deren Aufgabe es war, private Sparer anzuziehen und ein Polster für Kreditgeschäfte zu schaffen. In Kontinentaleuropa folgte man dem britischen Beispiel und führte eine nationale Zentralbank ein, welche, dem Goldstandard folgend, die Kreditvergabe der Bankenhäuser kontrollierte und regulierte. In den USA gab es bereits im 19. Jahrhundert eine große Zahl unterkapitalisierter Banken. Erst 1913 wurde dort das Federal Reserve System, kurz „Fed“, gegründet; danach wurde der Wildwuchs auf dem Bankensektor nach und nach reguliert.
Die Erfindung der Anleihe
Banken waren die erste Revolution, die den Aufstieg des Geldes begleitete. Die zweite war die Erfindung der Anleihe (auf Englisch: Bond). Mit Anleihen wurde jahrhundertelang vor allem der Staat in Kriegszeiten finanziert. Wieder waren es zuerst die italienischen Stadtstaaten der Renaissance, die sich Geld von ihren Bürgern liehen und ihnen dafür Zins und Zinseszins versprachen. Kriege waren teuer, denn man unterhielt kein stehendes Heer, sondern musste Söldner anheuern. Innerhalb eines Jahrhunderts wuchsen die Schulden der Stadt Florenz um das Hundertfache: von 50 000 Florin Anfang des 14. Jahrhunderts auf fünf Millionen im Jahr 1427. Der Krieg war also nicht nur der Vater aller Dinge, sondern auch der Vater der Staatsanleihe.
„Der eigentliche Schlüssel zum Erfolg der Medici war Diversifikation und nicht so sehr schiere Größe.“
Die Schlacht bei Waterloo und der Untergang Napoleons waren letztlich das Ergebnis der Finanzpolitik der Briten, die sich völlig von der französischen unterschied. Die Franzosen setzten auf die Plünderung der besiegten Länder, die Briten machten Schulden – in Form von Staatsanleihen. Mächtige Anleihenhändler wie Nathan Mayer Rothschild erwarben ein Vermögen damit, den Krieg gegen Napoleon zu finanzieren. Rothschilds Bank wurde im 19. Jahrhundert die größte Bank der Welt. Seine Brüder waren in anderen Banken über ganz Europa verteilt. Daher gelang es ihm, Gold immer dort günstig anzukaufen, wo der Kurs gerade niedrig war. Sein Kalkül war, dass bei einem langen Krieg der Goldpreis steigen würde.
„Noch heute löst das Ausmaß, in dem die Rothschilds das internationale Finanzwesen beherrschten, Erstaunen aus.“
Im Juni 1815 machte die Schlacht bei Waterloo dem Krieg jedoch ein Ende. Rothschild kaufte daraufhin große Mengen britischer Staatsanleihen. Er glaubte, der Frieden würde den Wert der Anleihen steigern. Die weitere Entwicklung gab ihm Recht: Als er die Anleihen Ende 1817 verkaufte, hatte er 40 % Gewinn gemacht – nach heutigem Kurs 600 Millionen Pfund. Heinrich Heine sagte später über ihn: „Geld ist der Gott unserer Zeit und Rothschild ist sein Prophet.“
„Willkommen im wunderbaren Doppelland ,Chimerika‘, das etwas mehr als ein Zehntel der Landfläche der Erde bedeckt, ein Viertel der Weltbevölkerung besitzt, ein Drittel der weltweiten Wirtschaftsleistung erbringt und über die Hälfte des globalen Wirtschaftswachstums der vergangen Jahre getragen hat.“
Auch im Bürgerkrieg der Amerikaner spielten Anleihen eine Rolle. Die Südstaaten, vom Norden bereits arg in die Zange genommen, gaben ebenfalls Bonds aus und wandten sich damit nach Europa, in der Hoffnung auf Hilfe von kontinentaleuropäischen Banken. Da dies am Desinteresse der Anleger scheiterte, boten die Südstaaten daraufhin Cotton-Bonds an: mit Baumwolle besicherte Anleihen. Zusätzlich verteuerten sie durch Embargos gegen wichtige Baumwollabnehmer, z. B. den Hafen von Liverpool, künstlich den Baumwollpreis. 1862 lag die britische Textilproduktion aufgrund des Embargos am Boden. Das wiederum trieb den Wert der Cotton-Bonds in die Höhe und machte sie für Anleger attraktiv. Die Rechnung des Südens schien aufzugehen.
„Die Blase der Euphorie der Investoren kann von Habgier in Furcht umschlagen und erstaunlich schnell platzen.“
Doch dann, im April 1862, eroberten die Nordstaaten New Orleans und schnitten damit den wichtigsten Hafen für die Baumwollausfuhr vom Rest der Welt ab. Fortan hätten Investoren, die auf die zugesicherte Baumwolle zurückgreifen wollten, die Blockade der Nordstaaten durchbrechen müssen. Das erschien unmöglich, sodass mit dem faktischen Schwinden der Deckung auch der Wert der Anleihen sank. Insofern drehten die Nordstaaten dem Süden den Geldhahn ab – was den Wendepunkt des Krieges einläutete.
Platzende Blasen
Die dritte Revolution, die den Aufstieg des Geldes beeinflusste, war die Entwicklung der Aktiengesellschaft und des Aktienmarktes. Nur mithilfe von Aktiengesellschaften lassen sich waghalsige Unternehmungen durchführen, weil dafür Geld aus vielen Quellen gebündelt wird. Internationale Verflechtungen der Finanzwelt haben dazu geführt, dass das Geschehen auf dem Börsenparkett immer auch die Realwirtschaft beeinflusst, und zwar weltweit. Nur so ist es zu erklären, dass es heute so etwas wie „Chimerika“ gibt: Die Schulden der USA werden zu großen Teilen von den Sparern im fernen China finanziert.
„Das Enron-‚System‘ war ein ausgemachter Schwindel, der auf Marktmanipulation und Bilanzfälschung beruhte.“
Die Frage ist nur: Wie tragfähig ist diese Verbindung in Krisenzeiten? Wenn eine Kuh in einer Herde Angst bekommt, wechselt die gesamte Herde die Richtung. Genauso geht es mitunter an der Börse zu. Steigen die Kurse, was man bezeichnenderweise einen Bullenmarkt nennt, führt eine allgemeine Euphorie dazu, dass sehr viele Börsenteilnehmer investieren. Machen sich Gerüchte breit, dass die Aktienkurse nicht den tatsächlichen Gewinnen entsprechen, kann es zur Massenpanik und zum Crash kommen. Auf diese Weise ist schon so manche Spekulationsblase geplatzt. Die berühmteste führte zur Weltwirtschaftskrise der 1930er Jahre.
Das Enron-Debakel
Die Börse scheint eine Psyche zu haben: Sie leidet unter Depressionen, gerät in euphorische Stimmung, hat Zusammenbrüche und kann sich schnell wieder berappeln.
„In der Mitte des 19. Jahrhunderts war der Besitz einer Versicherung ein Zeichen der Wohlanständigkeit.“
Die Börse ist immer ein Stimmungsbild ihrer Teilnehmer. Die Manager von Enron wussten das auszunutzen: Sie schalteten Kraftwerke ab, um den Strompreis in die Höhe zu treiben, schönten ihre Bilanzen, versteckten Schulden in Partner- und Zweckgesellschaften. Das Unternehmen stellte sich selbst die besten Zeugnisse aus und machte sich für Investoren immer attraktiver.
„Dank der Versicherungsmathematik sind die Versicherungsgesellschaften gegenüber den Versicherten naturgemäß im Vorteil. Vor der Entstehung der modernen Wahrscheinlichkeitsrechnung waren Versicherer Glücksspieler, heute sind sie Kasinos.“
Doch Bilanzfälschung fliegt irgendwann auf. Der kometenhafte Aufstieg des Unternehmens endete abrupt 2001, als die Aktie des Unternehmens von über 90 $ auf 30 Cent abstürzte. Vorher hatte sich die Führungscrew um CEO Kenneth Lay noch an den Verkäufen der Enron-Aktien bereichert und zusätzlich kurz vor dem Bankrott fette Boni eingestrichen. Die Topmanager landeten im Gefängnis und die Geschichte vom Aufstieg des Geldes war um einen Skandal reicher. Aber da niemand aus der Geschichte zu lernen scheint, wird es auch in Zukunft genügend Blasen geben, die irgendwann platzen.
Risiko und Wohlfahrt
Die Einwohnerzahl einiger Stadtteile von New Orleans ist nach dem Wirbelsturm Katrina, der 2005 über das Land fegte, um zwei Drittel geschrumpft. In einem der am schlimmsten getroffenen Stadtteile haben nur fünf von 26 000 Häusern den Sturm unbeschadet überstanden. Aber warum zieht auch Jahre nach der Katastrophe niemand mehr dorthin? Weil die Versicherungen sich weigern, ein Haus in dieser Region zu versichern.
Die erste echte Versicherung wurde 1744 von den beiden schottischen Priestern Robert Wallace und Alexander Webster erfunden, die das Überleben der Nachkommen von Pfarrern absichern wollten und zu diesem Zweck einen Fonds gründeten. Daraus entwickelte sich die Versicherungsgesellschaft Scottish Widows.
Mitte des 19. Jahrhunderts waren Versicherungen in der bürgerlichen Gesellschaft gang und gäbe. Der Staat nutzte seinen Größenvorteil aus, um sich selbst in der Risikofürsorge zu engagieren. Daraus entwickelte sich das moderne Wohlfahrtssystem.
In den 1970er Jahren war Japan der Sozialstaat Nummer eins – und gleichzeitig eine führende Wirtschaftsnation. Doch was in Japan funktionierte, ging in einigen westlichen Ländern schief: Die Leute bekamen dort dank staatlicher Wohlfahrt zu wenig Anreize, Risiken auf sich zu nehmen. Länder wie Großbritannien und die USA steuerten in den 80ern gegen und begannen damit, Sozialleistungen abzubauen und die private Vorsorge zu stärken. Egal ob man auf den Sozialstaat baut oder an die Eigenverantwortung der Menschen appelliert: Beide Systeme haben Licht- und Schattenseiten. Eine Versicherung, die alle Unwägbarkeiten des Lebens versichert, kann und wird es nie geben.