Alles Zufall oder was?
Warum ist eine Person kreativ und eine andere nicht? Und warum ist der Kreative genau in seinem Bereich kreativ und nicht in einem anderen? Es waren zweifellos viele einfallsreiche Köpfe, die die Moderne eingeleitet haben. Stellvertretend für sie stehen die sieben „modernen Meister“, die unterschiedliche Betätigungsfelder repräsentativ vertreten: Freud, Einstein, Picasso, Stravinsky, T. S. Eliot, Martha Graham und Gandhi. Kennt man ihre geistigen Fähigkeiten, ihre Besonderheiten, ihren Charakter und ihren sozialen Hintergrund, fällt es leichter, ihrem kreativen Potenzial auf die Spur zu kommen und Schlussfolgerungen für das Phänomen Kreativität im Allgemeinen zu ziehen.
„Kreative Menschen wollen kreativ sein (...) und sie richten ihr Leben so ein, dass sich die Wahrscheinlichkeit einer Serie kreativer Durchbrüche erhöht.“
Von der Sozialwissenschaft aus betrachtet steht dabei die Suche nach Entwicklungsmustern im Vordergrund. Woran lag es, dass sie, jeder auf seinem Gebiet, Dinge ins Rollen brachten? Gibt es eine Richtschnur, an der sich Kreativität messen lässt? Für die Supergehirne des 20. Jahrhunderts jedenfalls kann man Gemeinsamkeiten feststellen, z. B. in ihrer Persönlichkeitsstruktur und ihren Bedürfnissen. Natürlich hat sie auf der einen Seite auch ihre Zeit geprägt – andererseits ist es ihnen gelungen, ihren Zeitläuften einen Stempel aufzudrücken. Drei Punkte sind dabei relevant und stehen als Kreativitätsdreieck in Wechselbeziehung: das kreative Individuum, die Disziplin, in der es arbeitet, und das Umfeld, in dem es lebt.
Dem Geheimnis auf der Spur
Gewährt uns das Kreativitätsdreieck tiefere Einblicke? Im übertragenen Sinne ja, denn es gibt uns ein Werkzeug an die Hand, wie wir die kreativen Denker des 20. Jahrhunderts genauer beleuchten können. Auf der persönlichen Ebene werden intellektuelle Stärken und Schwächen untersucht. Wie war das mit den Aussenbeziehungen und den Eltern-Kind-Verbindungen? Es wird der Grad an Marginalität durchleuchtet und nach Höhen und Tiefen im kreativen Prozess Ausschau gehalten. Stimmt das mit der Zehnjahres-Regel? Auf der Ebene der Domäne geht es um die Art der Symbolsysteme, um kreative Verfahrensweisen, den Status der Paradigmen und ihre Innovationsempfänglichkeit während der Schaffensperioden. Die Ebene des Feldes schliesslich zeigt uns die Beziehungen zu Mentoren, Gegnern und Freunden. Wie hat der Meister sich mit der Öffentlichkeit auseinander gesetzt? Bestimmen hierarchische Strukturen den Funktionsmechanismus des Feldes? Im Idealfall stimmen persönliche Ebene, Domäne und Feld überein. Will heissen: Es passt alles, eines ergänzt das andere, das Zusammenspiel klappt. Dann entsteht in solch einem Milieu schon mal ein Wunderkind.
From the cradle to the grave
Begabung ist eine Voraussetzung für Kreativität. Alle sieben Meister waren hochbegabte Kinder. Sich an kosmopolitischen Schauplätzen aufzuhalten, war typisch für sie. Auch sich auszugrenzen, sich „marginal zu machen“, gehört dazu. Man kann den Beweis für ein kreatives Leben auch daran erkennen, dass diesen Menschen auch im Alter viele Möglichkeiten offen stehen und sie diese nutzen. T. S. Eliot ist das markanteste Beispiel dafür, denn er wechselte nacheinander vom Dichter zum Schriftsteller, zum Dramatiker, zum Literaturkritiker. Auch Martha Graham, Picasso und Stravinsky blieben buchstäblich bis zum letzten Tag ihres Lebens kreativ.
Der schöpferische Durchbruch, oder: Mit dem Kopf durch die Wand
Welchen biologischen Background haben Kreative? Und wie war das mit den Momenten in ihrem Leben, die man als Durchbruch bezeichnen kann? Betrachtet man den Werdegang der sieben Meister, darf man nicht ausser Acht lassen, dass sie sich z. T. kannten. Da war gegenseitige Beeinflussung und Inspiration möglich. Gerade für kreative Köpfe wäre es verwunderlich, würden sie sich nicht vom Genius des anderen beeinflussen lassen. Sind Sie kreativ? Dann müssten Sie einer Untersuchung zufolge spezielle Charaktereigenschaften aufweisen wie Selbstvertrauen, Unabhängigkeit, Sensibilität, Scharfsinn, Ehrgeiz. Oder haben sich diese positiven Merkmale bei Ihnen entwickelt, eben weil Sie kreativ sind?
„Der entscheidende - und umstrittene - Punkt ist, dass nichts an sich kreativ oder nicht-kreativ ist. Was als Kreativität gilt, ist wesentlich gemeinschafts- oder kulturbedingt.“
In jedem Fall ist das Streben nach Macht und Geld die Antriebsfeder für Kreativität, da sind sich Psychoanalyse und amerikanischer Behaviorismus einig. Kreative Menschen wollen den schöpferischen Durchbruch. Darauf fokussieren sie ihr Leben. Sie wollen Probleme lösen, Produkte gestalten und neue Fragen formulieren. Jene besondere Kreativität, die zum Schluss etwas ganz Einmaliges darstellt, wird daraus aber erst, wenn die Umwelt die schöpferische Leistung auch als solche anerkennt.
Wer sagt, was Sache ist?
Kann man Kreativität analysieren? Jedenfalls braucht es viele Disziplinen dazu. Psychologen allein reichen dazu nicht aus. Vielleicht liegt es ja in der Biologie des Einzelnen, ob er ein kreatives Genie wird oder nicht. Dann gibt es die ausserpersonale Ebene, die müssen Historiker, Philosophen und Forscher künstlicher Intelligenz durchleuchten. Und weil jeder Kreative sein Spezialgebiet hat, muss man entsprechende Experten bemühen. Letztendlich wird noch ein Feldspezialist benötigt, um endlich die besten Voraussetzungen für eine umfassende Forschung über Kreativität beieinander zu haben. Wichtige Feststellung: Die anerkannt Kreativen sind nicht die „grösseren Menschen“, vielmehr sind es die Umstände, die dem einen oder anderen Kreativen zum internationalen Durchbruch verhelfen.
Kreativität und die Welt der Wissenschaft
Warum waren Freud und Einstein so genial? Beide sind sie wissenschaftliche Theoretiker, Denker im Dienst menschlicher Erkenntnis. Sie haben neue Systeme erdacht und entwickelt, der eine mit der Darstellung des Unbewussten, der andere mit der Relativitätstheorie. Dennoch sind beide absolut gegensätzliche Persönlichkeiten. Freud ist ein Sprachgenie und mit Hilfe der Sprache drückt er aus, was er in den Tiefen der menschlichen Natur entdeckt. Räumliche und logische Inhalte finden wir in seinem System nicht. Einstein war dagegen kein Freund grosser Worte. Dafür beherrschte er visuell-räumliche Bilder und logisch-mathematische Strukturen. Beiden gemeinsam ist, dass sie:
- neue Denkrichtungen oder Denksysteme erfanden,
- mit Enttäuschungen fertig werden mussten,
- ihr Ziel nicht aus den Augen verloren haben,
- auf privates (Ehe-)Glück verzichteten,
- das kindliche Bewusstsein sehr hoch einschätzten,
- aber keineswegs Menschen mit kindischen Zügen waren.
Kreativität und die Welt der Künste
Wo fängt die Moderne an? Wenn es um Kunst geht, ist die Antwort klar: bei Picasso, T. S. Eliot und Stravinsky. Sie sind die Kultfiguren des 20. Jahrhunderts. Intellektuell sind sie unterschiedlich begabt, Religion bedeutet nur Eliot und Stravinsky etwas, politisch bieten sie alle Varianten, vom konservativen Eliot bis zum Anarchisten Picasso. Gemeinsamkeiten lassen sich aber auch hier finden:
- ihre bürgerlichen Familien,
- ihr Leben in den jeweiligen Zentren ihrer Kunst – London und Paris,
- Menschen, die ihnen sehr nahe standen und die Entwicklung ihrer bahnbrechenden Werke beeinflussten,
- jugendliche Partner im greisen Alter.
„Es wäre erstaunlich, wenn hochbegabte schöpferische Menschen die neuartigen Vorstellungen anderer nicht in der einen oder anderen Form ins eigene Werk einbezögen.“
Ausserdem schufen alle drei nicht Problemlösungen und Denkprozesse fürs Lehrbuch, sondern „neue Werke innerhalb einer Gattung“. Sie waren Meister ihres Faches, verwendeten alte Strukturen neu, schufen etwas ganz Eigenes, Unverwechselbares daraus. Und zum Schluss gefiel ihre Leistung nicht nur ihnen selbst, sondern wurde auch von ihren Zeitgenossen honoriert. Darüber darf nicht vergessen werden: Alle waren sie Handwerker, die täglich an ihrer Leinwand oder ihrem Schreibtisch sassen, um zu arbeiten. Aber: Ohne Publikum läuft nichts, nicht in diesen Genres. Letztlich also brauchten sie den Kontakt zur Öffentlichkeit. Das kostet Kraft und folgerichtig verschafften sich alle drei die Möglichkeiten, sich für bestimmte Zeit immer wieder in ihr Schneckenhaus zurückziehen zu können.
Kreativität und die Welt der „Live“-Darsteller
Ihre körperliche Präsenz, ihr Charisma, das war es, was Martha Graham und Mahatma Gandhi zu den grossen Meistern ihrer Domäne machte. Ihre physische Erscheinung war notwendig, ebenso wie die spontane Reaktion des Publikums. „Mein Wirkungsfeld ist die Tat“, sagte Mahatma Gandhi, und das trifft in gleicher Weise auf Martha Graham zu. Beide unterscheidet allerdings die Konsequenz ihres Wirkens. Grahams Tänze waren formvollendete Rituale, und wenn sie Fehler machte, hatte das weniger dramatische Folgen. Bei Gandhi ging es um das Leben von Menschen. Grahams Kunst war die Interaktion ihres Körpers mit Musik, Idee und Design. Ghandi hingegen war in erster Linie „Kopfmensch“, er musste sein Vorgehen abwägen, jedes Detail genau durchdenken, die Folgen seines Tuns abschätzen. Seine Kreativität war mit einem grossen Risiko verbunden. Aber wie bei den anderen Meistern finden sich auch in Grahams und Gandhis Leben Parallelen:
- Beide kamen aus einem strengen moralischen Elternhaus.
- Der frühe Tod des Vaters beeinflusste ihre jeweilige Persönlichkeit.
- Ihre Ideen waren zeitlich begrenzt.
- Ihr Körper war das Instrument ihrer Verwirklichung.
- Um der Belastung durch äussere Einflüsse etwas entgegenzusetzen, mussten sie sich zeitweise von der Bühne ihres öffentlichen Lebens zurückziehen.
„Kreative Leistungen in den verschiedenen Tätigkeitsbereichen, so meine These, lassen sich nicht über einen Leisten schlagen.“
Als wichtige Unterscheidung kann die Tatsache angesehen werden, dass der Zweck in Grahams Tanz in sich selbst ruhte, während Gandhis Handlungen als Mittel zum Zweck dienten. Allein Gandhi war derjenige unter den sieben modernen Meistern, der den Menschen an sich ansprach, ungeachtet seiner gesellschaftlichen oder beruflichen Zugehörigkeit.
Talent, kindliches Denken und Konkurrenz: der Schlüssel zum kreativen Durchbruch?
Gibt es den Prototypen des kreativen Denkers? Zwar lassen sich für die sieben Meister der Moderne zahlreiche Gemeinsamkeiten aufzeigen, von der Region, aus der sie stammen, über ihre Familiensituation bis zur Zehnjahres-Regel ihres Durchbruchs. Aber sicher existieren ebenso viele Kreative, auf die dieses Schema nur bedingt zutrifft. Wichtig scheint, dass das Kind zu Durchhaltevermögen und Tüchtigkeit erzogen wird. Genies haben den Mut zur Ausgrenzung und den Egoismus, sich mit Freunden nur so lange zu umgeben, wie sie ihnen nutzen. Und sie im richtigen Moment fallen zu lassen. Kreative sind keine Faulenzer, die plötzlich und zufällig einen Geistesblitz haben, der sie berühmt macht. Es sind harte Arbeiter, die Unmengen produzieren. Jeder Kreative bringt es in seiner Domäne zur Meisterschaft, nachdem er sich als Kind dafür interessiert und später jahrzehntelang in eben diesem kulturell relevanten Fach arbeitet. Kreative schaffen, jeder in seinem Bereich, ein neues Symbolsystem. Der eine verwendet dafür Worte, andere brauchen Formeln, Klänge, Farben oder die Körpersprache. Man bekommt sie also nicht alle unter einen Hut. Darüber hinaus findet man für die sieben Meister mindestens fünf verschiedene Tätigkeitsformen:
- Problemlösung (Einstein),
- Entwicklung eines neuen Denkmodells, das Allgemeingut wird (Einstein und Freud),
- Produktion von Werken nach eigenen Ideen, Vorstellungen oder Gefühlen (Picasso, Stravinsky, Eliot und Graham),
- Veröffentlichung der Darstellung (Graham),
- Handeln mit erhöhtem Risiko (Gandhi).
Als Psychologe an der Harvard University, Professor an der Graduate School of Education und Forscher am Boston Veterans Administration Medical Center schlägt Howard Gardner mit dem vorliegenden Buch in der Erforschung kreativer Prozesse neue Wege ein. Er wurde ausgezeichnet mit dem Grawemeyer Award in Education wegen seiner Theorien der multiplen Intelligenzen sowie dem National Psychology Award for Excellence in the Media für seine verständliche Schreibweise.