Die Krise als Chance
Jede Krise ist auch eine Chance – dieser Satz ist so abgegriffen wie wahr. Je größer die Krise, desto umfassender die Umwälzungen und desto größer die Chance, die Wettbewerber zu schlagen. Wie bei der Tour de France: Auf der härtesten Etappe arbeiten sich die späteren Sieger nach vorne. Wer am Ende gewinnen will, hat keine Chance, wenn er nicht auch die Bergetappe meistert. In der Wirtschaft ist es ähnlich. Allerdings: Was dort wirklich Erfolg verheißt, hat in guten Zeiten oft keine Chance – weil es wie ein Einschnitt empfunden wird und sowohl Veränderungen als auch ein Umdenken erfordert. Deswegen erzeugen Manager zuweilen ein künstliches Krisengefühl, um das Ruder mit einer neuen Strategie herumzureißen.
„Die Krise als eine Reihe von Statistiken zu betrachten, ist einfach, verführerisch und doch fast nutzlos.“
Diese zehn Strategien sind am erfolgversprechendsten:
Strategie 1: Prioritäten setzen
Da die weltweite Wirtschaftskrise als Finanzkrise begann und in der Finanzbranche längst nicht ausgestanden ist, ist es vor allem wichtig, dass Sie Ihre Finanzkraft sichern – durch Einsparungen an der richtigen Stelle und durch kluge Liquiditätssicherung. Des Weiteren sollten Sie gründlich analysieren, wie die Wettbewerbsbedingungen die Situation für Ihr Unternehmen und seine Kunden verändern.
„Die Rezession als Teil einer Geschichte zu sehen, ist unsere einzige Chance, sie so weit zu verstehen, dass wir sie bewältigen können.“
In der Krise steigen Ihre Risiken. Schätzen Sie sie möglichst umfassend und vorausschauend ein. Und auch wenn es Ihnen – wie vielen Unternehmern und Führungskräften – vielleicht nicht gefällt: Durch die tief greifenden Regierungsinterventionen zählt gerade in dieser Krise wie kaum je zuvor Ihre Fähigkeit, auch diese Ressourcen anzuzapfen. In harten Zeiten kommt es darauf an, dass Sie sich auf das besinnen, was zählt, und nicht Zeit und Ressourcen auf Unwesentliches verschwenden. Militärstudien zeigen, was es hierfür braucht: das Gefühl, die Kontrolle zu behalten, sein Möglichstes zum Erfolg beitragen und den Vorgesetzten vertrauen zu können, motiviert zu sein sowie sich gut gerüstet, geschützt und geschult zu fühlen. Entscheidend sind auch der Zusammenhalt sowie ein guter Sanitätsdienst – in der Wirtschaft: faire Outplacement-Modelle für den Fall der Fälle.
Strategie 2: In die Mitarbeiter investieren
Dass die Mitarbeiter das wichtigste Kapital sind, wird in Sonntagsreden gern betont. In Krisenzeiten zeigt sich jedoch, dass viele Unternehmer hier zuerst sparen. Dabei demonstrieren gerade die auch gegen den Trend erfolgreichen Unternehmen wie der weltgrößte Autobauer Toyota, dass in der Krise der richtige Zeitpunkt für Schulung und Mitarbeiterentwicklung gekommen ist.
„Alle Marktteilnehmer der Wirtschaft sind so traumatisiert, dass sich ihre Einstellungen und Verhaltensweisen nachhaltig verändern werden.“
Statt Mitarbeiter zu entlassen, investiert Toyota in der Krise in sie. Damit sind sie besser für den anschließenden Aufschwung gerüstet als die Angestellten der Wettbewerber – und hoch loyal. Sie denken, dass Sie sich das nicht leisten können? Nun, Toyota gehört sicher nicht zufällig zu den finanziell solidesten Unternehmen der Welt. Die Beschäftigungspolitik trägt dazu bei. Auch wenn Entlassungen manchmal unvermeidlich sind: Sie sparen selten Geld. Oft kosten sie mehr, als sie bringen – weil Abfindungen teuer sind und Wissen verloren geht. Nach der Krise kostet es viel Zeit und Geld, neue Mitarbeiter einzustellen und einzuarbeiten.
Strategie 3: Die Außenbeziehungen pflegen
Gerade in der Krise können Sie paradoxerweise leichter Bewunderung erfahren als in guten Zeiten. Nutzen Sie die Tatsache, dass das Misstrauen der Menschen zwar gegen „die Politik“ oder „die Wirtschaft“ groß ist, sich aber nicht persönlich gegen den Abgeordneten oder Unternehmer von nebenan richtet. Verkriechen Sie sich nicht, sondern achten Sie darauf, sich positiv abzuheben. Nicht nur die Beziehungen zur Öffentlichkeit, sondern auch die zu Aktionären, Politikern und Regierungsmitgliedern sollten Sie aktiv und durchdacht gestalten.
Strategie 4: Strategie und Geschäftsmodell auf den Prüfstand stellen
In einer schweren Rezession kann es sinnvoll sein, große Summen in strategisch wichtige Vorhaben zu investieren. Voraussetzung dafür ist, dass Sie wissen, was Ihr Unternehmen langfristig ausmacht. Das sollten Sie spätestens in der Krise herausfinden. Klären Sie, was Sie am Status quo ändern müssen und was Sie so lassen sollten, wie es ist. Finden Sie Mittel und Wege, um Partnerschaften mit Lieferanten oder Kunden kreativ zu nutzen oder Ihre Strategie auf ein neues Fundament zu stellen. Tüfteln Sie ruhig auch utopische Nutzungsmöglichkeiten für Ihre Produkte aus – jenseits bloßer technologischer Verbesserungen. Der iPod von Apple ist ein Beispiel dafür, wie ein neues Produkt ohne technologischen Fortschritt eine Branche aufgemischt hat.
Strategie 5: Das Unternehmen wertbasiert führen
Die herkömmliche Buchführung eignet sich nicht, um ein Unternehmen wertorientiert zu führen. Kennzahlen wie etwa die Marktkapitalisierung können sogar den Blick auf den Unternehmenserfolg verstellen. So hatten Apple und Time Warner zu einem bestimmten Zeitpunkt im Jahr 2008 beide einen Unternehmenswert von 100 Milliarden Dollar. Apple investierte dafür fünf Milliarden Dollar, während Time Warner 142 Milliarden Dollar brauchte – und somit 42 Milliarden Dollar an Wert vernichtete.
„Die Wirtschaftskrise kann dazu führen, dass sich Ihr Unternehmer gegen Wettbewerber behaupten muss, die Sie bisher gar nicht zu Ihren Konkurrenten gezählt haben.“
Zumindest für Ihre internen Zwecke sollten Sie spätestens in der Krise sinnvolle Ziele formulieren und dafür eine Handvoll aussagekräftiger Kennzahlen finden. Lassen Sie die Finger von allem, was den Wert Ihres Unternehmens nicht steigert oder gar schmälert. So nahm der Landmaschinenhersteller Varity Anfang der 1990er Jahre im Überlebenskampf der Rezession Abschied vom Cashflow-orientierten Management. Jedes Geschäft musste sich nun mit Blick darauf bewähren, ob der Gewinn die Kapitalkosten überstieg oder unterschritt. Mit durchschlagendem Erfolg.
Strategie 6: Neue Lösungen für neue Kundenprobleme finden
In der Krise verändern sich die Bedürfnisse und Neigungen Ihrer Kunden. Wie genau, das müssen Sie herausfinden und dann Ihren Kunden Produkte und Dienstleistungen anbieten, die ihren neuen Bedürfnissen – nach Sicherheit, nach Zuverlässigkeit oder auch nach bleibenden Werten – Rechnung tragen. Experimentieren Sie mit neuen Angeboten, neuen Partnerschaften, neuen Bezahl- und Vertragsarten und neuen Preismodellen.
Strategie 7: Eine mutige Preispolitik verfolgen
Anders als zahlreiche Führungskräfte glauben, zählt für die Kunden selbst in der Rezession nicht der niedrigste Preis. Als Unternehmer müssen Sie natürlich wissen, wo Sie im Wettbewerb stehen. Keine Wahl haben Sie, wenn Sie etwa Rohstoffhändler sind oder wenn Sie sich als Niedrigpreisanbieter etabliert haben. Im ersten Fall bestimmen die Produzenten Ihren Preis, im zweiten diktiert ihn ein knallharter Wettbewerb. Sie brauchen natürlich die entsprechende Marktmacht, um freier agieren zu können. Dann aber können und sollten Sie in der Krise mutig sein und – wie etwa Unilever für seine Zahnpasta Colgate – es wagen, den Preis auch mal anzuheben.
Strategie 8: Die Organisation verschlanken und straffen
Nutzen Sie die harten Zeiten, um den Wert Ihrer Geschäftszweige, Kunden, Produkte, Dienstleistungen und Anlagen zu überdenken – und Ihre Organisation nötigenfalls neu auszurichten. Am aufschlussreichsten ist der Blick auf den Wert Ihrer Kunden. Der kann sich in der Wirtschaftskrise nämlich verändern. Vermeintlich lohnenswerte Kunden können durch erhöhte Ansprüche oder durch per Marktmacht ausgehandelte Preisnachlässe zum Ballast werden. Ziehen Sie Bilanz – und die Konsequenz.
„Dies ist einer der seltenen Augenblicke, in denen sich uns allen die größtmögliche Chance bietet, für lange Zeit zu den Siegern zu gehören.“
So hat es der Kreditkartenanbieter American Express gemacht. Er schickte seinen Kunden ein oberflächlich skurril anmutendes Angebot: Wer seine Kreditschulden beglich und sein Konto aufgab, dem versprach Amex einen Geschenkgutschein von 300 $. Nicht dumm in einer Krise, in der auf die faulen Immobilienkredite gleich die Welle fauler Kreditkartenschulden zu folgen drohte. Das ungewöhnliche Angebot von Amex richtete sich an Kunden, die in diesem Zusammenhang ein gewisses Risiko bargen.
„So wie sich jede Investitionsstrategie in einem Bullenmarkt bewährt, mag jede Geschäftsstrategie während eines Wirtschaftsbooms brillant erscheinen.“
Legen Sie wenige klare Ziele fest und investieren Sie die nötigen Mittel, um diese Ziele zu erreichen. Passen Sie die Vergütung Ihrer Führungskräfte entsprechend an. Widerstehen Sie indes der Versuchung, Ausgaben zu kürzen, nur weil sie sich leicht kürzen lassen – meist ist das in den Bereichen Forschung und Entwicklung, Marketing und Mitarbeiterentwicklung der Fall. Mit Blick auf den Wert Ihres Unternehmens ist das mit einiger Wahrscheinlichkeit eine kurzsichtige Fehlentscheidung.
Strategie 9: Sämtliche Risiken identifizieren
Es ist traurig, wie qualifizierte Unternehmer die höchsten Risiken verkennen. Ausgerechnet die Finanz- und die Immobilienbranche sei deutlich besser für künftige Risiken gerüstet als andere Branchen, ergab kurz vor der Subprime-Krise eine Studie unter 150 US-Topmanagern. Die Verantwortlichen der beiden Crash-Branchen glaubten nämlich, „alle potenziell signifikanten Risiken“ im Blick zu haben und wenig risikofreudig zu sein.
„Für erfolglose Unternehmen ist Risiko am Tiefpunkt einer Rezession ein heißes Thema. Für herausragende Unternehmen ist es auf der Höhe eines Booms ein heißes Thema.“
Ein blinder Fleck für Gefahren ist menschlich. Sie können und sollten darum verschiedene Risiken bewusst gedanklich und mithilfe von Szenarios durchspielen; am besten systematisch bis zum Schluss, mitsamt ihren möglichen Folgen. Sie können auch öffentlich zugängliche Szenarios von Forschungsinstituten, CIA oder Konzernen nutzen, um mögliche Folgen der diversen Risikokonstellationen für Ihr Unternehmen abzuleiten. Szenarios sind keine Hellseherei. Aber Sie helfen Ihnen, sich auf mögliche Folgen gedanklich zu wappnen und so – wenn die Zeichen danach stehen – entsprechend früher zu reagieren als Ihre Konkurrenten.
„Das gefährlichste Risiko ist per definitionem das Risiko, das Sie sich nicht vorstellen können.“
Da die Masse oft klüger ist als der Einzelne, sollten Sie auch auf so genannte Prediction-Markets zurückgreifen. In diesen schließen die Teilnehmer über das Internet Wetten ab: auf Wahlausgänge, Fußballspiele oder Oscar-Preisträger sowie auf wirtschaftliche Fragen wie etwa die Euro-Einführung. Vielleicht ist es für Sie ja sinnvoll, einen unternehmenseigenen Prediction-Market aufzuziehen, bei dem Ihre Mitarbeiter Wetten auf für Sie interessante Fragen abschließen können. Der Computerhersteller Hewlett Packard und der Pharmakonzern Eli Lilly gewinnen so Absatz- und Erfolgsprognosen, die die Aussagekraft von Marketingstudien übertreffen.
Strategie 10: Persönliche Weiterentwicklung betreiben
Die Krise bietet neben Geschäftsmöglichkeiten auch Entwicklungschancen für Sie selbst. Sie müssen sich präsent, ruhig und beherrscht, furchtlos und vorausschauend zeigen – oder diese wichtigen Führungsfähigkeiten nun ausbilden. Auch nach der Krise sollten Sie Ihre neuen Strategien nicht aufgeben. Was Ihnen geholfen hat, diese Durststrecke zu überstehen, wird Ihnen mit Sicherheit helfen, gut gerüstet auch die nächste Krise in ruhigem Fahrwasser zu durchqueren.
„Denken Sie immer daran, dass jede Krise irgendwann endet; es gilt also, keine Zeit zu verlieren.“
Zudem kann die Krise der geeignete Moment sein, um die Unternehmenskultur zu verbessern. Das demonstrierte 1994 der damalige CEO der Fluglinie Continental Airlines, Gordon Bethune. Sein Amtsvorgänger hatte in eigenen Maschinen keine geöffneten Getränke annehmen wollen – aus Angst, die eigenen Mitarbeiter würden ihn vergiften. Es gab Notrufknöpfe im Meterabstand an den Wänden. Bewaffnete Sicherheitsleute bewachten die Türen der Vorstandsetage. Bethune entfernte all diese Sicherheitsvorkehrungen und versprach den Mitarbeitern Boni für jeden Monat, in dem Continental es unter die drei pünktlichsten Fluggesellschaften brachte. Das Unternehmen schaffte es so auf die Forbes-Liste der 100 besten Arbeitgeber Amerikas.