Für Marx

Buch Für Marx

Paris, 1965
Diese Ausgabe: Suhrkamp,


Worum es geht

Der wahre Marx

Dass Schriften von großen Philosophen in ihrem his­torischen Kontext gelesen werden müssen, gilt heute als selbstverständlich. Mitte der 1960er Jahre, als Louis Althussers Für Marx erschien, war das noch nicht so. In ver­schiede­nen Beiträgen erinnerte der französische Philosoph daran, dass auch Denker wie Marx nicht im luftleeren Raum philoso­phierten, sondern in einer ganz bestimmten his­torischen Realität lebten, die bei der In­ter­pre­ta­tion ihrer Werke berücksichtigt werden muss. Mit seiner struk­tu­ral­is­tis­chen Lektüre von Marx’ Schriften wandte sich Althusser gegen linke In­tellek­tuelle in ganz Europa, die sich vom marx­is­tisch-lenin­is­tis­chen Dogmatismus lösen und in Marx einen hu­man­is­tis­chen Philosophen erkennen wollten. Marx, so Althusser, habe keineswegs die Hegel’sche Dialektik vom Kopf auf die Füße gestellt, sondern eine eigene Wis­senschaft begründet. Sein Buch löste zunächst eine lebhafte Debatte unter den Linken aus, verschwand in den 70er Jahren aber in der Versenkung. Trotzdem: ein wichtiges Werk der marx­is­tis­chen Philosophie und eine auf­schlussre­iche Zeitreise in die Debatten der 60er Jahre.

Take-aways

  • Für Marx war eines der ein­flussre­ich­sten marx­is­tis­chen Werke des 20. Jahrhun­derts und löste lebhafte Debatten unter den linken The­o­retik­ern aus.
  • Inhalt: Viele Interpreten von Karl Marx begehen den Fehler, seine frühen Schriften im Licht des Spätwerks zu lesen. Sie schenken dem his­torischen Kontext, in dem Marx allmählich seine Ideen entwickelte, keine Beachtung. Marx hat nicht, wie oft behauptet wird, Hegels Dialektik umgekehrt, sondern eine ganz neue Geschichtswis­senschaft begründet.
  • Das Buch versammelt Aufsätze, die Louis Althusser zwischen 1960 und 1964 in ver­schiede­nen Zeitschriften veröffentlichte.
  • Althusser fordert dazu auf, klar zwischen dem jungen und dem reifen Marx zu un­ter­schei­den.
  • Marx’ Bruch mit Hegels ide­al­is­tis­cher Philosophie verortet er im Jahr 1845.
  • Mit seinen Aufsätzen reagierte Althusser auf linke In­tellek­tuelle in ganz Europa, die die hu­man­is­tis­chen Aspekte in Marx’ Philosophie betonten.
  • Zugleich wandte er sich gegen den dog­ma­tis­chen Stalinismus, den er als Fehlen­twick­lung des Marxismus abtat.
  • Althussers Texte sind von hohem Ab­strak­tion­s­grad und im Ton oftmals polemisch.
  • Mit seinem struk­tu­ral­is­tis­chen In­ter­pre­ta­tion­sansatz bee­in­flusste Althusser Philosophen wie Michel Foucault, Jacques Derrida und Judith Butler.
  • Zitat: „Die ausdrückliche Fragestellung: ob der junge Marx bereits voll und ganz Marx ist.“
 

Zusammenfassung

Der junge und der reife Marx

Im Jahr 1840 erwarteten junge radikale In­tellek­tuelle, die so genannten Junghegelianer, dass die Geschichte im Sinne der Vernunft auf ein Ziel hin fortschre­ite. Die Realität unter Friedrich Wilhelm IV., der zunächst als liberal galt, sich aber bald zum Despoten entwickelte, enttäuschte ihre Hoffnungen. Begeistert reagierten sie auf die Schriften Ludwig Feuerbachs, dessen Philosophie mit Hegel und allen Illusionen über eine ver­nun­ft­gerichtete Geschichte gründlich aufräumte. Zu ihnen zählte auch der junge Karl Marx, der von Feuerbach nicht nur einzelne Begriffe, sondern die ganze Problematik übernahm. Der Bruch mit Feuerbach, den Marx später in Schriften wie Das Elend der Philosophie oder Das Kapital vollzog, lässt sich darauf zurückführen, dass sich Feuerbach in Marx’ Augen nie vollständig von Hegels Denken gelöst, sondern dessen the­o­retis­che Vo­raus­set­zun­gen übernommen hatte.

„Die Geschichte mochte von Rechts wegen Vernunft und Freiheit sein; faktisch war sie nur Unvernunft und Knechtschaft. Man musste die Lehre der Tatsachen, diesen Widerspruch als solchen annehmen.“ (S. 47)

In aktuellen marx­is­tis­chen Debatten taucht immer wieder die Frage auf, ob der junge Marx mit dem reifen Marx identisch sei oder ob dazwischen ein Bruch stattge­fun­den habe. Um die Behauptung, der späte Marx habe sich vom jungen entfernt, zu entkräften, lassen manche keinerlei Widersprüche innerhalb dessen Werk gelten. Um die Ein­heitlichkeit zu bewahren, lesen sie das Jugendwerk durch die Brille des Spätwerks. Alle Schriften Marx’ sollen letztlich im Marxismus münden. Manche Kritiker un­ter­schei­den bei Marx Elemente, die noch ide­al­is­tisch, also von Hegel geprägt, oder schon ma­te­ri­al­is­tisch, also von Feuerbach inspiriert, seien. Mit einem derart an­a­lytisch-tele­ol­o­gis­chen (und damit letztlich hegelian­is­chen) The­o­riemod­ell zerstört man jedoch den lebendigen Text und verschließt sich dem Sinn von Marx’ Denken.

„Die ausdrückliche Fragestellung: ob der junge Marx bereits voll und ganz Marx ist.“ (S. 57)

Um Marx wirklich zu verstehen, muss man sich seinen Texten mit einer marx­is­tis­chen Theorie nähern – und nicht etwa mit einer auf Hegels ide­ol­o­gis­chen Prinzipien beruhenden. Danach sollte eine Weltan­schau­ung als Ganzes betrachtet werden, ohne einzelne Elemente her­auszubrechen. Eine Ideologie entwickelt sich nämlich nicht im luftleeren Raum von einem An­fangspunkt hin zu einer endgültigen Wahrheit, sondern in einem konkreten gesellschaftlichen und ide­ol­o­gis­chen Umfeld, das es genau zu analysieren gilt. Der Autor ist ein lebendiges Wesen, das zu einer bestimmten Zeit in einer wirklichen Geschichte existiert. Selbst Philosophen haben eine Jugend, sie leben und bewegen sich in ihrer Welt, setzen sich mit ihr auseinander und lernen allmählich, sich davon zu befreien. Man muss den Anfang eines Denkers betrachten, ohne schon das Ende im Auge zu haben. Um das wirklich Neue eines in­di­vidu­ellen Denkers zu erfassen, muss man die reale Geschichte und das ide­ol­o­gis­che Umfeld, in dem seine Gedanken entstanden, stets im Blick behalten.

Die Entdeckung der Realität jenseits der Ideologie

Oftmals wird die Erklärung für Marx’ Wandel innerhalb der Ide­olo­giegeschichte gesucht. Da heißt es dann, Marx habe Hegels spekulative Philosophie vom Kopf auf die Füße gestellt; er habe Feuerbachs Ma­te­ri­al­is­mus auf die Geschichte ausgedehnt und konsequent zu Ende gedacht; er habe die Feuerbach’sche oder Hegel’sche Ent­frem­dungs­the­o­rie auf die Gesellschaft angewandt. All diese In­ter­pre­ta­tio­nen beruhen auf der Annahme, Marx’ Entwicklung habe in einer abgehobenen Sphäre der Ideen stattge­fun­den, als hätte er, um zu neuen Schlüssen zu gelangen, nur ausreichend über Hegel und Feuerbach nachdenken müssen. Die For­mulierung, Marx habe Hegel auf die Füße gestellt, suggeriert seine grundsätzliche Übere­in­stim­mung mit Hegels Philosophie, ja sogar eine gewisse Kontinuität. Dabei übersieht man, dass Marx sich unter einer ungeheuren Kraftanstren­gung zunächst von der erdrückenden ide­ol­o­gis­chen Last des Hegelian­is­mus befreien musste.

„Die erste Bedingung, die erfüllt sein muss, damit das Problem der Marx’schen Ju­gend­schriften richtig gestellt wird, liegt demnach einfach darin, einzusehen, dass selbst die Philosophen eine Jugend haben.“ (S. 73)

Marx lebte im Deutschland der 1830er und 1840er Jahre, einem Land, das seine politische Rückständigkeit mit einer the­o­retis­chen und ide­ol­o­gis­chen Überen­twick­lung kom­pen­sierte. Die Ideologie – das war ein spezifisch deutsches Phänomen – hatte keinen Bezug zur wirklichen Geschichte. In diesem in­tellek­tuellen Klima wuchs Marx auf, und diese Realitätsferne überwand er, indem er die reale Geschichte und au­then­tis­che Gegenstände wieder­ent­deckte. In Frankreich, in den Augen deutscher In­tellek­tueller die Heimat von Aufklärung und Vernunft, entdeckte Marx die or­gan­isierte Ar­beit­erk­lasse, so wie Engels in England den Klassenkampf entdeckte. Diese radikale Realität, die ohne Philosophie und Philosophen auskam, prägte sein Denken mehr als alle Reflexionen. Erst durch die konkreten Erfahrungen im Ausland erkannte Marx hinter all den Illusionen die wahren Zustände im ide­al­isierten Frankreich sowie die Misere in seiner deutschen Heimat, die Klassenverhältnisse und die Ausbeutung.

Marx’ Blick auf die Wirk­lichkeit

Was ist eigentlich gemeint, wenn man sagt, Marx habe Hegels Philosophie auf die Füße gestellt, sie umgestülpt? Marx selbst schrieb, er habe bei Hegel den „rationellen Kern in der mystischen Hülle“ entdeckt. Hat er vielleicht die Methode der Dialektik aus dem ide­al­is­tis­chen System herausgeschält und auf die reale Welt, auf das Leben, übertragen? Wer Marx genau liest, wird feststellen, dass er mit der „mystischen Hülle“ keineswegs die ide­al­is­tis­che Weltan­schau­ung meint, sondern die Struktur der Dialektik selbst. Marx’ Dialektik un­ter­schei­det sich grundlegend von Hegels Dialektik, die nicht nur Methode, sondern Teil einer Weltan­schau­ung ist. Die beiden Aspekte lassen sich nicht voneinander trennen: Das Modell des di­alek­tis­chen Wider­spruchs bei Hegel hat eine ide­ol­o­gis­che Funktion, nämlich seine tele­ol­o­gis­che, durch das Wirken der Vernunft bestimmte Geschicht­sauf­fas­sung zu spiegeln und die konkrete Realität eines Volks in einer his­torischen Epoche auf ein ide­ol­o­gis­ches Endziel auszurichten.

„Sicherlich wissen wir, dass der JUNGE MARX zu Marx werden wird, aber wir wollen nicht schneller leben als er, wir wollen nicht an seiner Stelle leben, für ihn den Bruch vollziehen oder für ihn die Ent­deck­un­gen machen.“ (S. 82)

Während Hegel das materielle Leben eines Volks, seine Geschichte und Ökonomie auf dessen poli­tisch-ide­ol­o­gis­ches Selb­st­be­wusst­sein (Religion, Philosophie) zurückführt, ist für Marx das materielle Leben in letzter Instanz maßgebend für das poli­tisch-ide­ol­o­gis­che Bewusstsein. Die ökonomischen Verhältnisse einer Gesellschaft bestimmen langfristig deren Überbau, die Form des Klassenkampfs, die Verfassung und die Rechts­for­men des Staates sowie die politischen, philosophis­chen und religiösen An­schau­un­gen. Insofern scheint also die Behauptung, Marx habe Hegel umgekehrt, zunächst zuzutreffen. Doch dabei wird außer Acht gelassen, dass Marx’ Philosophie auf ganz anderen Begriffen beruht. Unter „Staat“ etwa versteht er – ganz und gar unide­al­is­tisch – ein Herrschaftsin­stru­ment in den Händen der aus­beu­ten­den Klasse und nicht ein abstraktes Phänomen wie Hegel. Marx’ Denken dreht sich nicht um abstrakte Ideen, sondern um konkrete Wirk­lichkeiten.

Hegels Irrtum

Marx­is­tis­che Wis­senschaftler benötigen eine marx­is­tis­che Dialektik, die nicht von der Hegel’schen Ideologie belastet ist. Marx selbst hat keine eigene Theorie der Dialektik formuliert, er hat die Dialektik aber in seinem Werk Das Kapital angewandt. Er behauptet, er habe Hegels Methode „umgekehrt“, doch diese Aussage sollte man nicht für bare Münze nehmen, denn der Begriff der Umkehrung entstellt das Marx’sche Denken. Worin aber besteht nun das Spezifische der marx­is­tis­chen Dialektik? Wis­senschaften – gleich ob Natur- oder Gesellschaftswis­senschaften – arbeiten nie nur mit „reinen“ Fakten, sondern immer mit ide­ol­o­gis­chen Begriffen, die ihnen von Vorläufern hin­ter­lassen wurden. Auf Grundlage einer älteren Theorie produzieren Wis­senschaftler ihre eigene, neue Theorie. Sie gehen ganz im Sinne von Marx vom Abstrakten aus und produzieren das Konkrete, also einen konkreten Gedanken, eine Erkenntnis über einen Gegenstand. Der Irrtum Hegels bestand darin, dass er meinte, durch wis­senschaftliche Erkenntnis entstehe etwas Reales. Ebenso gut könnte man behaupten, dass Steinkohle durch den di­alek­tis­chen Prozess die Dampf­mas­chine und die Fabriken her­vor­bringe.

„Mehr als jemals zuvor kommt es heute darauf an, zu sehen, dass eines dieser ersten Phantome der Schatten Hegels ist. Man muss ein bisschen mehr Licht auf Marx werfen, damit dieses Gespenst wieder in die Nacht zurücktritt, oder, was dasselbe ist, ein wenig mehr marx­is­tis­che Aufklärung über Hegel selbst betreiben.“ (S. 144)

Hegel erlag dieser Illusion, weil er dem wis­senschaftlichen Erken­nt­nis­prozess seine Ideologie überstülpte, ihm eine Funktion, einen Sinn un­ter­stellte. Er verkannte, dass zwischen der Aus­gangssi­t­u­a­tion und dem Endprodukt keine Kontinuität besteht, sondern dass im wis­senschaftlichen Prozess eine sub­stanzielle Trans­for­ma­tion stattfindet. In seiner ide­al­is­tis­chen, speku­la­tiven Philosophie setzte er Denken mit Sein, Theorie mit Realem gleich. Das ist, wie Marx sagte, als ob die Abstraktion, die Idee einer Frucht durch di­alek­tis­che Selb­sten­twick­lung die konkrete Birne oder Rosine hervorbrächte. Wer nun behauptet, Marx habe Hegel einfach „umgekehrt“, verbleibt im Rahmen dieser Ideologie, die abstrakte Gedanken und konkrete Wirk­lichkeit auf unzulängliche Weise vermengt. Eine bloße „Umkehrung“ liefe nämlich auf die Annahme hinaus, das Wirkliche erzeuge Begriffe. Diese rein ide­ol­o­gis­che Theorie aber hat nichts mit der Wirk­lichkeit der wis­senschaftlichen Praxis zu tun.

Das Spezifische der Marx’schen Dialektik

Hegels di­alek­tis­ches Modell beinhaltet die Vorstellung von der Einheit der Gegensätze. Es geht von einem einfachen Prozess mit zwei Gegensätzen aus, die Einheit spaltet sich in zwei widersprüchliche Teile auf und wird auf dem Weg der Negation sowie der Negation der Negation schließlich auf einer höheren Ebene wieder­hergestellt und so weit­er­en­twick­elt. Nach Marx hingegen sind gesellschaftliche und ökonomische Prozesse bereits in ihrem Ursprung viel komplexer, sie weisen eine Vielzahl von Widersprüchen auf und lassen sich nicht auf einen einzigen Gegensatz reduzieren. Der Marxismus verträgt sich nicht mit dem Hegel’schen Modell, denn er schließt den ide­ol­o­gis­chen Mythos von einer ursprünglichen Einheit grundsätzlich aus und erkennt die Komplexität jedes Gegen­standes an. In der Theorie und in der politischen Praxis des Marxismus, in der marx­is­tis­chen Wis­senschaft und in der Arbeit für den Klassenkampf spielen die Hegel’schen Kategorien keine Rolle. Sie sind Relikte einer längst vergangenen Zeit – darüber sollte auch die Tatsache, dass Marx im Kapital an einer einzigen Stelle auf sie zurückgreift, nicht hinwegtäuschen.

„Wenn man also den Begriff ‚Umkehrung‘ für eine Erkenntnis hält, so hieße das, sich die Ideologie zu eigen zu machen, die ihm zugrunde liegt, das heißt eine Vorstellung anzunehmen, die die Wirk­lichkeit der the­o­retis­chen Praxis als solche leugnet.“ (S. 241)

Das Spezifische an der marx­is­tis­chen Dialektik ist also, dass sie – anders als Hegels Modell – nicht von einer ursprünglichen Einheit ausgeht, die auf dem Weg über Entfremdung und Negation von Gegensätzen wieder­hergestellt wird. Vielmehr setzt sie eine komplexe Struktur und eine Vielzahl von Widersprüchen schon im Ursprung voraus, allerdings mit einem dominanten Hauptwider­spruch, der die Einheit des Ganzen ausmacht – das Prinzip der Überde­ter­mi­na­tion. Das bedeutet: Je nach konkreter his­torischer Situation dominiert jeweils ein Widerspruch neben vielen Widersprüchen, die in ihrem Zusam­men­wirken ein komplexes Ganzes bilden. In Russland etwa spitzten sich im Jahr 1917 alle möglichen his­torischen Widersprüche zu; sie ver­schmolzen und führten zum Ausbruch der Revolution. Die Neben­wider­sprüche re­flek­tieren jeweils den Hauptwider­spruch. Dieser ist von vornherein durch eine komplexe, ungleichmäßige Struktur de­ter­miniert. Das Ganze ist nicht starr, sondern flexibel: Neben­wider­sprüche können zu Hauptwider­sprüchen werden und umgekehrt. Zwar herrscht in letzter Instanz das Primat des Ökonomischen, doch gerade im Klassenkampf, der aus marx­is­tis­cher Sicht der „Motor der Geschichte“ ist und die Entwicklung vorantreibt, verdichten sich das Ökonomische, Politische und Ide­ol­o­gis­che zu einem komplexen Ganzen.

Marx’ totale the­o­retis­che Revolution

Marx’ Bruch mit der alten, an­thro­pol­o­gisch aus­gerichteten Philosophie lässt sich auf das Jahr 1845 datieren. Seine Geschicht­s­the­o­rie operiert mit vollkommen neuen Begriffen und lehnt jeden philosophis­chen Humanismus, in dem er eine Ideologie erkennt, ab. Die Vorstel­lun­gen des Individuums und des men­schlichen Wesens werden durch Begriffe wie „Produktivkräfte“ und „Pro­duk­tionsverhältnisse“ ersetzt. Insofern kann Marx’ Philosophie – entgegen jüngeren Tendenzen, die den Marxismus als „Philosophie des Menschen“ und als „sozial­is­tis­chen Humanismus“ deuten – als zutiefst an­ti­hu­man­is­tisch bezeichnet werden.

„Indem Marx das Wesen des Menschen als the­o­retis­che Grundlage verwirft, verwirft er dieses ganze organische System von Postulaten.“ (S. 291)

Der Unterschied zwischen Wis­senschaft und Ideologie besteht darin, dass in Letzterer die praktische Funktion die the­o­retis­che Funktion, d. h. die Suche nach Erkenntnis, überlagert. Ideologie als System von Vorstel­lun­gen, in denen Menschen ihre eigenen Ex­is­tenzbe­din­gun­gen re­flek­tieren, ist un­ent­behrlich; ohne sie kommt keine menschliche Gemein­schaft aus. Die marx­is­tis­che Ideologie hat die Funktion, das Bewusstsein der Menschen zu verändern und sie den Bedingungen einer klassen­losen Gesellschaft anzupassen – im Klassenkampf hat sie also durchaus ihre Berech­ti­gung. Nicht jedoch in der Wis­senschaft! Der Rückgriff mancher Kommunisten auf ide­ol­o­gis­che statt wis­senschaftliche Begriffe verschließt uns die Möglichkeiten von Erkenntnis, die uns Marx mit seiner kritischen, revolutionären Theorie gegeben hat. Marx zog die Grenze zwischen Ideologie und Wis­senschaft. Hinter diese Er­run­gen­schaft dürfen wir nicht zurückfallen.

Zum Text

Aufbau und Stil

Für Marx versammelt ver­schiedene Aufsätze Louis Althussers aus den Jahren 1960–1964. In höchst engagiertem, mitunter auch polemischem Tonfall setzt sich Althusser mit Karl Marx’ Schriften und mit zu seiner Zeit aktuellen Positionen des Marxismus auseinander. Althussers Sätze sind oft lang und ver­schlun­gen, seine Erörterungen insgesamt von hohem Ab­strak­tion­sniveau, oftmals bis an die Grenze der Verständlichkeit. Nur selten findet er an­schauliche Beispiele, um seine Thesen zu verdeut­lichen. Althusser bescheinigt sich selbst eine gewisse Un­ge­nauigkeit in der For­mulierung – ob sich dahinter eine Beschei­den­heits­formel oder ehrliche Selb­stkri­tik verbirgt, sei dahingestellt. Er setzt voraus, dass der Leser mit der marx­is­tis­chen Ter­mi­nolo­gie und Philosophie vertraut ist, und verwendet Begriffe wie „Klassenkampf“, oder „Pro­duk­tionsverhältnisse“ mit größter Selbstverständlichkeit. Manchmal blitzt zwischen den Zeilen Humor auf, etwa wenn der Autor auch Philosophen zugesteht, dass sie eine Jugend haben und nicht schon weise geboren wurden.

In­ter­pre­ta­tion­sansätze

  • Gegen die aus seiner Sicht re­vi­sion­is­tis­chen Tendenzen in den westlichen kom­mu­nis­tis­chen Parteien erinnert Althusser in Für Marx an Marx’ Grundidee: die Überwindung von kap­i­tal­is­tis­chen Herrschaftsverhältnissen, von Ausbeutung, Krieg und Knechtschaft.
  • Zugleich wendet er sich gegen den stal­in­is­tis­chen Dogmatismus und die Entwicklung in der Sowjetunion, der er Per­so­n­enkult sowie Missbrauch und Verfälschung des Marxismus vorwirft. Seiner Ansicht nach war der Stalinismus eine Fehlen­twick­lung, an der Marx’schen Theorie lässt sich aber dennoch weiter festhalten.
  • Der Titel Für Marx lässt sich auch pro­gram­ma­tisch verstehen: als Auf­forderung, wieder Marx selbst zu lesen, statt sich mit der in der Folgezeit ent­stande­nen marx­is­tisch-lenin­is­tis­chen Literatur zu begnügen.
  • Nach Althusser hat Marx mit seiner Trennung von Ideologie und Wis­senschaft eine neue Geschichtswis­senschaft begründet. Die Folgen dieses Bruchs hält er in ihrer Bedeutung für ver­gle­ich­bar mit den umwälzenden Ent­deck­un­gen Galileo Galileis und Sigmund Freuds.
  • Althusser wendet sich gegen jedes tele­ol­o­gis­che Geschichts­bild und gegen sub­jek­tivis­tis­che Ansätze in der Philosophie. Stattdessen un­ter­schei­det er ver­schiedene Arten der men­schlichen Praxis: die the­o­retisch-wis­senschaftliche, die ökonomische, die politische und die ide­ol­o­gis­che Praxis. In jeder Art von Praxis wird ein bestimmtes Aus­gangs­ma­te­r­ial durch Menschen bearbeitet und in einem Prozess der Trans­for­ma­tion in ein neues wis­senschaftliches, politisches oder ide­ol­o­gis­ches Produkt verwandelt. Sein Konzept der the­o­retis­chen Praxis erlaubt es Althusser, in der Philosophie nicht eine abgehobene, wirk­lichkeits­ferne Disziplin, sondern den Klassenkampf in der Theorie zu sehen.
  • Den Begriff der Überde­ter­mi­na­tion entlehnte Althusser der Psy­cho­analyse. In seiner Lesart bezeichnet er eine Situation, die sich nicht auf eine einzige Ursache zurückführen lässt, sondern sich aus ver­schiede­nen Elementen speist, die sich gegenseitig bee­in­flussen.

His­torischer Hintergrund

Der hu­man­is­tis­che Marxismus

Nach Josef Stalins Tod im Jahr 1953 setzte in den kom­mu­nis­tis­chen Parteien Europas ein Prozess des Nachdenkens und der Selb­stfind­ung ein, der durch Nikita Chr­uschtschows Enthüllungen über die Verbrechen des Stalinismus auf dem 20. Parteitag der KPdSU und ins­beson­dere durch die Nieder­schla­gung des Aufstands in Ungarn 1956 durch sowjetische Truppen noch an Fahrt gewann. Die Enttäuschung der Genossen war allerorten spürbar und stürzte die kom­mu­nis­tis­chen Parteien Westeuropas in eine tiefe Krise. In Italien verlor die Kom­mu­nis­tis­che Partei innerhalb weniger Jahre Hun­dert­tausende Mitglieder, und auch die französische PCF und die britische KP blieben nicht verschont. In dieser Situation galt es, ide­ol­o­gis­chen Ballast abzuwerfen und sich von autoritären Parteistruk­turen, orthodoxem Marxismus und stal­in­is­tis­chem Dogmatismus zu ve­r­ab­schieden. In Großbritannien etwa forderte der marx­is­tis­che Historiker Edward Palmer Thompson, einer der promi­nen­testen Vertreter der britischen Neuen Linken, eine offene Debatte über den Stalinismus und eine grundle­gende Demokratisierung der Partei. Auch in Frankreich wurde zunehmend Kritik an der Kom­mu­nis­tis­chen Partei laut. So wandte sich Jean-Paul Sartre nach der sow­jetis­chen In­ter­ven­tion in Ungarn von den Kommunisten ab und plädierte zeitweise für einen gemäßigteren Kurs und den Dialog mit den Sozialisten.

Unter diesem Eindruck lasen linke In­tellek­tuelle das Frühwerk von Karl Marx, vor allem die 1844 ent­stande­nen Ökonomisch-philosophis­chen Manuskripte, die lange unbekannt geblieben und erst 1932 veröffentlicht worden waren. Aus ihnen trat ein anderes als das kon­ven­tionelle, von Friedrich Engels und den frühen sozial­is­tis­chen Bewegungen propagierte Marx-Bild hervor. Marx – hier weniger Nationalökonom als Philosoph – trug ide­al­is­tis­che Züge und strebte nicht nur eine soziale Revolution, sondern eine grundsätzliche moralische Besserung des Menschen an. Dieser Marx mit seinen hu­man­is­tis­chen Aspekten übte vor allem auf Linke in Italien und in den angelsächsischen Ländern eine große Anziehungskraft aus. Man erkannte in seinen frühen Schriften mit ihrer Anbindung an Ludwig Feuerbach und selbst noch im Spätwerk Das Kapital einen the­o­retis­chen Humanismus, der den Klassenkampf als Kampf gegen die Entfremdung des Menschen von sich selbst in­ter­pretierte.

Entstehung

Ab 1948, dem Jahr seines Beitritts in die Kom­mu­nis­tis­che Partei Frankreichs, lehrte Louis Althusser Philosophie an der elitären Pariser École normale supérieure. Unter den Studenten galt er als eine Art Guru und übte großen Einfluss auf die in­tellek­tuelle Szene aus. In der Folge des Struk­tu­ral­is­mus, der ursprünglich aus der Linguistik und Ethnologie stammte und ab den 60er Jahren auch in anderen Disziplinen wie der Philosophie und Soziologie Fuß fasste, entwickelte er seine spezifische Marx-Lektüre. Immer wieder griff er in die aktuellen Diskus­sio­nen und die Au­seinan­der­set­zun­gen innerhalb der Linken um die richtige In­ter­pre­ta­tion von Marx’ Schriften ein. In ver­schiede­nen Aufsätzen, die zwischen 1960 und 1964 in Zeitschriften der Kom­mu­nis­tis­chen Partei Frankreichs veröffentlicht wurden, wandte sich Althusser strikt gegen die Idee eines hu­man­is­tisch geprägten Marx und bescheinigte deren Anhängern Un­wis­senschaftlichkeit. 1965 erschienen diese gesammelten Beiträge in Buchform, eine deutsche Übersetzung folgte bereits 1968.

Wirkungs­geschichte

Louis Althussers in Für Marx formulierte These vom Bruch zwischen dem jungen und dem reifen Marx löste eine lebhafte Debatte innerhalb der Linken in Frankreich, Italien und Lateinamerika aus. Im deutschsprachi­gen Raum dagegen stieß das Buch auf wenig Resonanz. Althussers Thesen fanden bei seinen Anhängern und Studenten große Zustimmung, und noch in der Revolte vom Mai 1968 spielten sie eine Rolle, wenn er sich selbst mit Äußerungen auch zurückhielt. Zugleich wurden aber skeptische Stimmen laut. Der Philosoph François Châtelet etwa lehnte die Vorstellung eines tiefen Einschnitts im Marx’schen Denken ab und behauptete, gewisse Spannungen seien generell kennze­ich­nend für dessen Werk. Auch Étienne Balibar, Althussers Schüler und prominenter politischer Philosoph, meinte, hu­man­is­tis­che, ide­al­is­tis­che Züge sowie das Konzept der Entfremdung seien auch noch in Marx’ Spätwerk spürbar.

Von Beginn an sah sich Althusser mit dem Vorwurf kon­fron­tiert, er verfolge mit seinen Thesen zu Marx eine Re­ha­bil­i­tierung des orthodoxen Marxismus und verharmlose die stal­in­is­tis­chen Verbrechen. Zu seinen schärfsten Kritikern zählte der britische Historiker Tony Judt, der Althusser vorwarf, mit seiner In­ter­pre­ta­tion die verlorene Glaubwürdigkeit des Marxismus wieder­her­stellen zu wollen, und von einer „absurden di­alek­tis­chen Posse“ sprach. Auch wenn sein politischer Einfluss in den 70er Jahren zunehmend verblasste, übte Althussers diskur­s­an­a­lytis­cher, struk­tu­ral­is­tis­cher Ansatz als wis­senschaftliche Methode großen Einfluss auf seine Schüler Jacques Derrida und Michel Foucault ebenso wie auf die amerikanis­che Philosophin Judith Butler aus.

Über den Autor

Louis Althusser wird am 16. Oktober 1918 im algerischen Birmandreis in eine bürgerliche französische Familie geboren. Im Alter von zwölf Jahren zieht er mit seiner Familie nach Lyon, wo er das Gymnasium absolviert und sich in der katholis­chen Ju­gen­dor­gan­i­sa­tion engagiert. 1939 erhält er die Zulassung an der Pariser Elite-Uni­ver­sität École normale supérieure (ENS), doch direkt danach wird er zum Kriegs­di­enst eingezogen und gerät schon ein Jahr später in deutsche Gefan­gen­schaft, ohne in Kriegshand­lun­gen verwickelt worden zu sein. Nach dem Krieg nimmt er an der ENS sein Studium auf und un­ter­richtet nach glänzendem Ab­schlus­sex­a­men dort Philosophie. Auf dem Umweg über die Ju­gen­dor­gan­i­sa­tion „Action catholique“ zum Kommunismus gelangt, tritt er 1948 in die Kom­mu­nis­tis­che Partei Frankreichs ein, der er trotz mancher Au­seinan­der­set­zun­gen bis an sein Lebensende verbunden bleiben wird. In dieser Zeit lernt er seine spätere Frau Hélène Rytman kennen. Als Professor an der ENS übt er maßgeblichen Einfluss auf Schüler und Weggefährten aus, z. B. Michel Foucault, Nicos Poulantzas und Bernard-Henri Lévy. Er veröffentlicht viele Beiträge zu Marx und zum Marxismus, darunter Pour Marx (Für Marx, 1965) und Lire le capital (Das Kapital lesen, 1965). Schon in jungen Jahren leidet Althusser unter man­isch-de­pres­siven Schüben, die mit Psy­chother­a­pie, aber auch Elek­troschocks und Medika­menten behandelt werden. Im November 1980 erwürgt er seine Frau in der gemeinsamen Wohnung. Das Gericht erklärt ihn für nicht schuldfähig und weist ihn in eine geschlossene psy­chi­a­trische Anstalt ein – das Ende seiner wis­senschaftlichen Karriere. Drei Jahre später wird Althusser wieder freige­lassen. Die letzten Lebensjahre verbringt er zurückgezogen in seiner Pariser Wohnung und schreibt mehrere Essays sowie zwei ver­schiedene Fassungen seiner Au­to­bi­ografie, die 1992 posthum veröffentlicht werden. Louis Althusser stirbt am 22. Oktober 1990 in Paris.