Solaris

Buch Solaris

Warschau, 1961
Diese Ausgabe: Suhrkamp,


Worum es geht

Die Kon­fronta­tion mit dem Anderen

Solaris ist ein fan­tastis­cher Roman. Den Begriff „Sci­ence-Fic­tion“ hat Stanisław Lem für seine Bücher stets abgelehnt, da er sie allein nach lit­er­arischen Maßstäben beurteilt sehen wollte. Die Geschichte kreist im Wesentlichen um eine Frage: Wie würde sich der Mensch verhalten, wenn er mit einer Lebensform kon­fron­tiert wäre, die sich seinen gewohnten Wahrnehmungs- und Beurteilungskri­te­rien vollständig entzieht – und die doch eindeutige Zeichen von Intelligenz aufweist? Die Atmosphäre in der Forschungssta­tion auf dem fernen Planeten Solaris ist beklemmend, der drohende Wahnsinn mit Händen zu greifen; ohne billige Effekte gelingt es Lem, die Handlung vo­ranzutreiben und trotzdem immer wieder, wie nebenbei, philosophis­che Aspekte aufzu­greifen. Souverän vermeidet er es außerdem, sich allzu sehr auf eines der klassischen Genres festzulegen – das Buch lässt sich weder der Sci­ence-Fic­tion noch dem Thriller eindeutig zuordnen und ist ebenso eine Liebesgeschichte wie ein philosophis­cher Roman. Bei Lem gibt es keine Tech­nikbegeis­terung ohne die zugehörige Skepsis, keinen Fortschritt ohne Pessimismus, keine Men­schlichkeit ohne deren ständige Bedrohung. Dank der spannenden Story und der philosophis­chen Fragen, die der Roman aufwirft, ist er nach wie vor sehr lesenswert.

Take-aways

  • Solaris ist ein Klassiker der Sci­ence-Fic­tion-Lit­er­atur.
  • Inhalt: Die Besatzung einer Forschungssta­tion auf dem weit entfernten Planeten Solaris kämpft mit dem Wahnsinn: Der Planet bringt Lebewesen hervor, die aus den Erin­nerun­gen der Menschen stammen. So begegnet der Forscher Kelvin seiner früheren Freundin, die sich umgebracht hat.
  • Solaris handelt von der Begegnung der Menschen mit außerirdischem Leben – aber auch von der mit sich selbst.
  • Immer wieder wird die Frage aufgeworfen, wieweit man seiner Wahrnehmung trauen kann.
  • Eng mit der Geschichte verwoben sind philosophis­che Fragen.
  • Die für Zukun­ft­slit­er­atur typische Faszination für die Technik spielt eine un­ter­ge­ord­nete Rolle.
  • Erzählt wird aus der Ich-Per­spek­tive, in einer größtenteils einfach gehaltenen Sprache.
  • Als Lem Solaris zu schreiben begann, hatte er keine genaue Vorstellung, wo die Geschichte hinführen sollte.
  • Solaris leistete einen wichtigen Beitrag dazu, Sci­ence-Fic­tion in den Augen der Lit­er­aturkri­tiker hoffähig zu machen.
  • Zitat: „Ich war nicht wahnsinnig. Der letzte Hoff­nungsstrahl erlosch.“
 

Zusammenfassung

Der Neue

Der Psychologe und Wel­traum­forscher Kris Kelvin landet auf einer Forschungssta­tion auf dem Planeten Solaris und merkt sofort, dass etwas nicht stimmt: Sein geliebter Lehrer, der renommierte So­lar­is­forscher Gibarian, den er hier anzutreffen erwartete, ist tot; offenbar hat er Selbstmord begangen. Kelvin ist schockiert; er war der Meinung, dass Gibarian von nichts zu erschüttern sei. Die beiden verbliebe­nen Forscher, Snaut und Sartorius, verhalten sich merkwürdig. Letzterer hat sich im Labor eingeschlossen, während Ersterer Kelvin mit kryptischen For­mulierun­gen vor ir­gendwelchen Begegnungen warnt, die er nicht genau benennen kann.

Die Solaristen

Der Planet Solaris weist zwei Beson­der­heiten auf: Er umkreist zwei Sonnen, eine rote und eine blaue, und er besitzt einen Ozean aus einer zähen, galler­tar­ti­gen Masse, die of­fen­sichtlich mit irgendeiner Form von Leben begabt ist. In unregelmäßigen Abständen bringt der Ozean eine Vielzahl riesen­hafter Gebilde hervor, die meist aus erstarrtem sprödem Schaum bestehen und deren Bedeutung die So­lar­is­forschung auch nach mehreren Jahrzehnten noch nicht restlos entschlüsseln konnte. Versuche der Kon­tak­tauf­nahme mit elek­tro­n­is­chen Geräten ergaben, dass der Ozean die Signale zwar aufzunehmen und teilweise auch zu trans­formieren scheint, aber was das bedeutet, weiß man nicht. Schon seit einigen Jahren steckt die So­lar­is­forschung in einer Sackgasse.

„Die Entdeckung der Solaris erfolgte nahezu hundert Jahre, bevor ich geboren wurde. Der Planet kreist um zwei Sonnen, eine rote und eine blaue.“ (S. 24)

Kelvin durchsucht ein Zimmer, das Gibarian neben seiner persönlichen Kammer offenbar auch benutzt hat. Der Raum ist in extremer Unordnung. Kelvin stöbert in Aufze­ich­nun­gen, Kleidern und persönlichen Dingen, um zu verstehen, was passiert ist.

Gäste

Eine Notiz Gibarians verweist auf zwei Bücher in der Bibliothek der Station. Auf dem Flur hat Kelvin eine bizarre Begegnung: Eine große und dicke schwarze Frau, angetan nur mit einem Baströckchen, watschelt an ihm vorbei, ohne ihn eines Blickes zu würdigen, und ver­schwindet in Gibarians Kammer. Kelvin ist verstört. Er besucht Snaut in der Funkstation, die ihm offenbar auch als Wohnraum dient. Das Gespräch verläuft zäh; Snaut kann oder will nicht erklären, was es mit der schwarzen Frau auf sich hat.

„Die Finsternis starrte mich an, gestaltlos, riesig, augenlos, ohne Grenzen. (...) Noch keine Stunde lang war ich in der Station, aber ich begann schon zu verstehen, warum hier Fälle von Ver­fol­gungswahn vorgekommen waren.“ (S. 36)

Es gelingt Kelvin, eine der Buch­pas­sagen ausfindig zu machen, auf die die Notiz aus Gibarians Zimmer verweist; sie enthält aber nur einen weiteren Verweis, und zwar auf eine Expedition aus der Frühzeit der So­lar­is­forschung, bei der ein erfahrener Raumpilot einen Ner­ven­zusam­men­bruch erlitt.

Kelvin sucht Sartorius im Labor auf. Der eigenbrötlerische Forscher weigert sich zunächst, die Tür aufzumachen; erst als Kelvin mit Gewalt droht, tritt Sartorius zu ihm hinaus. Irgendetwas quält ihn enorm. Es scheint einen Besucher im Labor zu geben, den Sartorius krampfhaft vor Kelvin zu verbergen sucht; offenbar handelt es sich um ein Kind oder einen Zwerg. Auf seinem weiteren Streifzug durch die Station sucht Kelvin, einem plötzlichen Impuls folgend, den Kühlraum auf. Dort entdeckt er Gibarians Leiche. Etwas anderes bringt ihn aber noch mehr aus der Fassung: Neben dem Leichnam liegt zusam­mengekauert die Schwarze! Als Kelvin sie berührt, bewegt sie sich sogar, ihr Körper fühlt sich nicht einmal besonders kalt an. Kelvin ist völlig verstört, geht zurück in die Station und versucht sich wieder zu sammeln.

Eine alte Bekannte

Er überlegt, ob er vielleicht wahnsinnig geworden sei und alles Gesehene nichts als Hal­luz­i­na­tio­nen sein könnten. Um dies her­auszufinden, macht er ein Experiment: Er stellt dem um den Planeten kreisenden Verbindungssatel­liten per Funk eine kom­plizierte Frage zu seiner Umlaufbahn und verlangt eine Lösung, die auf fünf Kom­mas­tellen genau ist; diese lässt er sich ausdrucken und steckt sie ungesehen in eine Schublade. Dann rechnet er mithilfe des Sta­tion­scom­put­ers seine eigene Lösung aus. Das Ergebnis: Die Zahlen stimmen überein; es gibt den Satelliten, es gibt den Computer der Station, es gibt ihn selbst und seine Berechnung. Er ist nicht wahnsinnig, all das passiert wirklich.

„Snaut setzte sich langsam in den Lehnsessel. Dort presste er die Hände gegen die Schläfen. – Wie es hier zugeht ... – sagte er leise. – Delirium ...“ (S. 48)

Kelvin legt sich schlafen. Als er wieder erwacht, sitzt plötzlich seine ehemalige Freundin Harey im Zimmer. Dies, obwohl sie sich vor zehn Jahren umgebracht hat, weil er sie verlassen wollte. Lange denkt er, es sei ein Traum, und macht alle möglichen Gedanken­ex­per­i­mente, um seine Vermutung zu bestätigen. Aber Harey ist real: Sie hat ihre Impfnarbe am Oberarm und sogar die Ein­stich­stelle der Spritze, mit der sie sich getötet hat, ist vorhanden; sie bewegt sich, sie spricht, er kann sie anfassen, und sie ist 19, wie damals. Kelvin kommt zu dem Schluss, dass es kein Traum ist, aber dass diese Person auch nicht die echte Harey sein kann. Offenbar weiß sie das selbst nicht. Sie erkennt ihn zwar, aber sie hat keine Erinnerung an die frühere Zeit.

„Ich nahm nicht an, dass überhaupt ir­gend­je­mand zu einer Ganzheit zusammenfügen könnte, was ich bislang erlebt hatte, gesehen, mit eigenen Händen berührt. Die einzige Rettung – Flucht – Erklärung – war die Diagnose auf Wahnsinn.“ (S. 64)

Kelvin gibt ihr eine Überdosis Schlafmit­tel zu trinken, das allerdings keine Wirkung zeigt. Er widersteht der Versuchung, sie zu erwürgen, weil er ahnt, dass es ohnehin nicht gelänge. Schließlich will er sie auf eine Umlaufbahn der Station zu schießen, um wenigstens einige Stunden Zeit zu gewinnen. Er lässt die arglose Harey in die Rakete einsteigen und startet diese; in der Kabine schlägt die Eingeschlossene um sich und bringt die ganze Rakete zum Wackeln – sie muss ungeheure Kräfte haben.

Antworten und neue Fragen

Kelvin spricht mit Snaut über die seltsamen Gäste in der Station. Snaut berichtet, dass sie bei jedem in anderer Form auftreten und dass Gibarian der Erste war, der Besuch bekam. Das Auftreten der Gäste ist möglicher­weise eine Reaktion des So­lar­isozeans auf ein Experiment, bei dem die Forscher ihn mit Rönt­gen­strahlen beschossen haben. Der Ozean scheint seinerseits mit einer Strahlung zu reagieren, mit der er die Gehirn­struk­turen der Menschen in der Station aufnimmt und ihre stärksten Gedächt­nis­spuren als lebendig er­scheinende Formen re­pro­duziert. Obwohl die Gäste scheinbar aus Fleisch und Blut sind, ist es unmöglich, sie umzubringen; versucht man es, re­gener­ieren sie sich unglaublich schnell. Wenn sie dann aufs Neue erscheinen, haben sie keine Erinnerung daran, dass man sie loswerden wollte. Aber, so Snaut, man wisse überhaupt nicht, was das alles bedeute.

„Ich war nicht wahnsinnig. Der letzte Hoff­nungsstrahl erlosch.“ (S. 69)

Snaut übergibt Kelvin die Kleine Apokryphe, das zweite Buch, auf das Gibarians Notiz verweist. Kelvin erfährt daraus, dass der in der anderen Quelle bereits erwähnte Raumpilot den Solarisphänomenen schon auf der Spur war, dass die Forschungskom­mis­sio­nen seinen Berichten aber keinen Glauben schenkten. Nach dem Gespräch und der Lektüre fühlt Kelvin sich ruhig und frei. Als Harey wie erwartet wieder erscheint und aufgewühlt wirkt, ist er es, der sie beruhigt.

Der Plan

Kelvin und Harey liegen im Bett. Harey scheint zu ahnen, dass mit ihr etwas nicht stimmt. Kelvin kämpft immer wieder mit seinen Gefühlen. Der unheimliche Anblick von ihren zwei völlig gleichen Kleidern auf dem Stuhl – eins von ihrem ersten Besuch, das zweite von jetzt – bringt ihn aus der Fassung. Schließlich verlässt er das Zimmer und hält von außen die Tür zu; Harey zieht von innen mit derart übermen­schlicher Kraft, dass die Tür sich verbiegt und aus dem Rahmen springt. Als Kelvin Hareys stark blutende Hand verbinden will, sieht er, wie die Wunde in Windeseile verheilt. Er untersucht einen Blut­stropfen unter dem Neu­tri­nomikroskop und entdeckt, dass die Moleküle nicht aus Atomen bestehen – unterhalb der molekularen Ebene findet er nichts! Bei weiteren Un­ter­suchun­gen sieht er, dass Hareys von Säure zersetztes Blut sich von selbst regeneriert.

„Ich wusste eigentlich schon sicher, dass das nicht Harey war, und beinahe sicher, dass sie selbst das nicht wusste.“ (S. 76)

Kelvin, Snaut und Sartorius diskutieren in einer Tele­fonkon­ferenz, wie die Gäste physikalisch gebaut sein könnten. Sie kommen überein, dass es sich um Pro­jek­tio­nen handeln muss, die der Ozean anhand der jeweils nach­haltig­sten Erin­nerungsspuren der Menschen anfertigt – womöglich ohne böse Absicht. Snaut bittet Kelvin, etwas Plasma aus dem Ozean für Experimente zu besorgen: Der Ozean und die Gäste sollen desta­bil­isiert werden. Kelvin geht zunächst in die Bibliothek, um sich in den Forschungs­stand einzulesen. Doch dann kommt Snaut und schlägt ein anderes Vorgehen vor: den Ozean mit harter Rönt­gen­strahlung zu bom­bardieren, die mit Kelvins Gedanken im Wachzustand moduliert wird – diese sollen als Gegensatz zu den Träumen, aus denen der Ozean offenbar für seine Pro­jek­tio­nen schöpft, eine Auflösung herbeiführen. Kelvin erfährt außerdem von Snaut, dass Sartorius nicht mehr erreichbar ist; er hat die Verbindung zum Labor un­ter­brochen.

Das Experiment

Einerseits fürchtet Kelvin Hareys Anwesenheit, an­der­er­seits vermisst er sie, sobald sie nicht mehr bei ihm ist. Harey versucht derweil, zu ergründen, wer oder was sie ist. Eines Tages findet er sie in einem Labor, wo sie offenbar größere Mengen an flüssigem Sauerstoff getrunken hat, um sich umzubringen. Sie wirkt ster­ben­skrank und tödlich verletzt, aber ihr Körper regeneriert sich rasch. Kelvin gesteht ihr, dass er beginne, sie zu lieben, weil die neue Harey beginne, die Erinnerung an die alte zu überdecken. Snaut und Kelvin sprechen über das geplante Experiment, das die Gäste vernichten soll. Dabei wirft Snaut Kelvin vor, mit seiner Liebe zu Harey etwas Unsinniges und Unmögliches zu wollen und sich nur etwas vorzumachen; er wisse im Grunde selbst, dass sie kein echter Mensch sei, sondern nur eine Reaktion auf seine Gedanken.

„Also was ist das? – fragte ich, nachdem ich ihn geduldig angehört hatte. – Das, was wir gewollt haben: der Kontakt mit einer anderen Zivil­i­sa­tion. Da haben wir den Kontakt!“ (Kelvin und Snaut, S. 96)

Das Experiment wird durchgeführt: Snaut greift mit Elektroden Kelvins Hirnströme ab und schickt sie, in harte Rönt­gen­strahlung moduliert, in den Ozean. Zunächst ist keine Wirkung zu beobachten, trotzdem wiederholen die Forscher den Vorgang fortlaufend während ganzer drei Wochen. Das Leben auf der Station verläuft indes eintönig. Kelvin und Harey leben nur noch nebeneinan­der her. Sie pflegen zwar die Vorstellung, sie könnten die Station verlassen und gemeinsam auf der Erde leben, aber eigentlich wissen beide, dass das eine Illusion ist.

Der Erfolg

Auch zwei Wochen nach Abbruch des Experiments ist noch keine Änderung sichtbar, bis alle eines Tages Zeugen eines ungewöhnlichen Phänomens werden: Es gibt eine gewaltige, lautlose und zeitlu­pe­nar­tige Explosion von Ozean­ma­te­r­ial, viele Kilometer hoch. Das beein­druck­ende Schauspiel wird von einem ungewöhnlichen Leuchten im Ozean begleitet, das irgendwann erstirbt.

„Das sind weder Personen noch Kopien bestimmter Personen, sondern ma­te­ri­al­isierte Pro­jek­tio­nen dessen, was zum Thema der be­tr­e­f­fenden Person in unserem Gehirn enthalten ist.“ (Sartorius, S. 132)

Eines Morgens erwacht Kelvin mit einem furchtbaren Kater, der von einem Schlafmit­tel herrührt, das Harey ihm verabreicht hat. Sie ist weg. Wie von Sinnen rennt er durch die Station. Endlich erfährt er von Snaut, dass Harey nicht mehr existiert: Snaut hat auf ihre Bitte hin mit einem Annihilator ihre Substanz aufgelöst. Sie wird auch nicht wiederkom­men, denn seit der Explosion hat der Ozean keine Gäste mehr geschickt. Während Kelvin bestürzt ist, Harey vermisst und am liebsten sofort zurück zur Erde möchte, wertet Snaut das Experiment als Erfolg; er will jetzt erst recht auf Solaris bleiben und versuchen, mit dem Ozean Kontakt aufzunehmen. Im Gespräch mit Snaut wird Kelvin klar, dass er die wahre Natur des Ozeans niemals erkennen kann, solange er ihn hasst und ihn somit nach men­schlichen Maßstäben beurteilt.

Das alte Mimoid

Kelvin muss noch ein paar Monate bis zur Ankunft des nächsten Raumkreuzers warten. Die Aussicht, zur Erde zurückzukehren, macht ihn nicht recht froh. Eines Tages beschließt er, den Ozean endlich direkt in Augenschein zu nehmen. Er landet mit dem Helikopter auf einem Mimoid, einer jener Inseln, die der Ozean von Zeit zu Zeit her­vor­bringt. Im direkten Kontakt erlebt er erstmals, was er bislang nur aus der Theorie kannte: Der Ozean nimmt die Formen ab, die er ihm hinstreckt; die Wellen umfließen seine Finger, die Hand, den Arm, ohne sie aber direkt zu berühren. Kelvin ist fasziniert – und spürt zugleich, dass er Harey immer noch nachtrauert. Die vage Erwartung – er nennt es ausdrücklich nicht „Hoffnung“ –, dass der Ozean doch noch ir­gendwelche Überraschun­gen bereithält, dass er vielleicht sogar Harey wieder­aufer­ste­hen lassen könnte, bringt ihn zu dem Entschluss, sein Leben weiterhin der Erforschung von Solaris zu widmen.

Zum Text

Aufbau und Stil

Solaris ist sorgfältig konstruiert. Die meist recht kurzen Kapitel mit ihren bewusst nüchtern gehaltenen Überschriften wirken wie Mo­saik­steine, die jeweils einen Hand­lungsaspekt beleuchten und sich allmählich zu einem komplexen Bild verdichten. Rasch beginnt man den Wahnsinn zu erahnen, der in der Station herrscht; mit Kelvins Erlebnissen in den ersten Stunden nach seiner Ankunft werden schon die Grundmuster der Handlung festgelegt. Auch die Perspektive ist konsequent: Es wird durchgängig in der ersten Person, aus Kelvins Sicht, erzählt. Die Konflikte zwischen den Figuren werden vor allem im Dialog her­aus­gear­beitet. Die Sprache ist überwiegend einfach gehalten, nur an bestimmten Stellen, etwa bei der Beschrei­bung der ständig wechselnden Licht- und Wellen­ef­fekte des Ozeans und der beiden un­ter­schiedlich farbigen Sonnen, gestattet Lem sich zuweilen eine bilder- und meta­phern­re­iche Sprache. Etwas langatmig geraten ist die an mehreren Stellen eingestreute Forschungs­geschichte des Planeten Solaris. Leider ist die Übersetzung insgesamt von schwank­ender Qualität. An vielen Stellen herrscht eine gespreizte und aufgeblähte Sprache, zudem fehlt häufig das Gespür für das treffende Wort (so heißt es etwa „Unter ihrer weißen Haut jagten ihr die Rippen“ oder „Ich kletterte auf die nächste, schiefe Gurtung der Wand“). Diese Mängel schwächen die Qualität der von ihrer Grundidee, ihrer Anlage und ihrem philosophis­chem Gehalt her großartigen Geschichte für deutschsprachige Leser.

In­ter­pre­ta­tion­sansätze

  • Der Roman kreist um die Fragen: Was ist Realität und was Einbildung? Was kann man erkennen und was nicht? Wieweit kann man seiner Wahrnehmung trauen? Und was geschieht mit Menschen, die auf bisher nie gekannte Weise mit diesen Fragen kon­fron­tiert werden?
  • Die Rückblicke auf die Forschungs­geschichte von Solaris werden oft als Parodie auf den Wis­senschafts­be­trieb gedeutet; auf den heutigen Leser aber wirken diese Passagen langatmig und unkomisch, was womöglich auch eine Folge der zaghaften Übersetzung ist.
  • Erhellend ist die Szene, in der Kelvin ein Experiment ersinnt, um festzustellen, ob es eine objektive Wahrheit außerhalb seines Gehirns gibt und ob er in der Lage ist, diese wahrzunehmen. Die Antwort: Ja, es gibt sie, und er kann sie auch erkennen. Seine Schlussfol­gerung ist furchtbar: „Ich war nicht wahnsinnig. Der letzte Hoff­nungsstrahl erlosch.“ Lem entwirft ein Szenario, in dem der eigentlich er­schreck­ende Gedanke, den Verstand zu verlieren, weniger Angst macht als die Alternative, das Wahrgenommene als Realität zu akzeptieren.
  • Die psy­chol­o­gis­che Zeichnung der Figuren ist nicht übermäßig fein; ein Umstand, der gele­gentlich kritisiert wird. Auch das Kon­flik­t­poten­zial zwischen den Figuren wird nicht völlig ausgereizt. Der Roman bleibt in dieser Hinsicht relativ schlicht – und damit vielleicht näher an der Realität als manch andere Fiktion.
  • Solaris lässt sich auf vielerlei Art verstehen: als kafkaeske Novelle, als Gleichnis über Schuld und Ve­r­ant­wor­tung, als Satire auf Wis­senschaft und Raumfahrt. Fest steht dabei nur eins: Keine dieser un­ter­schiedlichen Lesarten ist die einzig richtige.

His­torischer Hintergrund

Aufbruch in den Weltraum

En­twick­lun­gen und Versuche mit Raketen zur Wel­traum­fahrt gibt es seit Beginn des 20. Jahrhun­derts, sie wurden parallel zur For­ten­twick­lung der Flugzeuge durchgeführt. Doch dass Menschen irgendwann einmal tatsächlich zum Mond oder gar zum Mars fliegen könnten, lag lange in schier un­err­e­ich­barer Ferne. So waren solche Reisen lange der Fantasie der Künstler vorbehalten. Jules Verne setzte mit Von der Erde zum Mond das Thema geschickt in Szene, H. G. Wells ließ in Krieg der Welten die Marsianer ein­drucksvoll die Erde angreifen. In Deutschland entfachte Fritz Lang in den 20er Jahren mit seinem Stumm­filmthriller Frau im Mond eine regelrechte Wel­traumhys­terie; zugleich erschienen mehrere populärwis­senschaftliche und technisch fundierte Bücher, etwa Der Vorstoß in den Weltenraum von Max Valier.

Das Zeitalter der bemannten Raumfahrt begann erst viel später. Im Jahr 1957 schoss die Sowjetunion mit Sputnik 1 den ersten künstlichen Satelliten auf eine Umlaufbahn um die Erde. 1960 umkreisten die ersten Tiere die Erde, 1961 der erste Mensch. Damit war das Wettrüsten angefacht, das dazu führen sollte, dass 1969 Neil Armstrong als erster Mensch den Mond betrat.

Entstehung

Stanisław Lem widmete sich bereits in seinem ersten, 1946 geschriebe­nen Roman Der Mensch vom Mars der Wel­traum­fahrt. Schon in diesem Text steht nicht die Faszination für die Technik im Vordergrund, sondern die Neugier darauf, wie die Begegnung mit dem Außerirdischen die Menschen verändern würde. Zu dem Thema inspiriert wurde der polnische Autor von der Schrift The Human Use of Human Beings des amerikanis­chen Ky­ber­netik­ers Norbert Wiener, die ihn zutiefst beein­druckte. Fortan war die Ma­nip­ulier­barkeit des Menschen eines seiner großen Themen. Auch sein 1951 er­schienener offizieller Debütroman Die Astronauten warf bereits solche moralischen Fragestel­lun­gen auf.

Die Art und Weise, wie Lem seine Bücher schrieb, ist be­merkenswert. Obwohl die Grundidee etwa von Solaris so schlüssig wirkt, war sie offenbar keineswegs von Beginn an vorhanden. In Bezug auf Solaris und andere Romane sagte Lem mit leiser Selb­stironie: „Sie wuchsen aus dem Nichts. (...) Als ich Kelvin in die So­laris­sta­tion brachte und ihm befahl, den er­schrock­e­nen und betrunkenen Snaut zu erblicken, wusste ich selbst noch nicht, was ihn eigentlich erschreckte; ich hatte nicht die leiseste Idee, warum Snaut durch einen normalen Ankömmling in Angst versetzt wurde. In diesem Moment wusste ich es nicht, aber ich sollte es bald erfahren, denn ich schrieb ja weiter.“

Wirkungs­geschichte

Eine deutsche Ausgabe von Solaris kam zunächst nicht zustande: Der DDR war die Geschichte zu subversiv (man erkannte nichts als „Pessimismus und Negation“ in der Handlung), die anderen deutschsprachi­gen Länder zeigten kein Interesse. 1972 erschien die Übersetzung von Irmtraud Zim­mer­mann-Göllheim, die allen seitherigen Auflagen diverser west­deutscher Verlage zugrunde liegt; 1983 kam dann die inzwischen vergriffene ostdeutsche Übersetzung von Kurt Kelm heraus. Auch in anderen Ländern erlebte das Buch einen verhalten beginnenden Erfolg, der sich mit den Jahren stetig steigerte und bis heute nicht abgeklungen ist: Solaris gilt als einer der großen Sci­ence-Fic­tion-Klas­siker, und es ist das bekannteste und meistverkaufte Werk Lems. Das Buch ist wesentlich dafür ve­r­ant­wortlich, dass heute auch Sci­ence-Fic­tion als Literatur gelten darf.

Der Roman wurde zweimal fürs Kino verfilmt, beide Male auf durchaus kongeniale Art: Andrei Tarkowskis Version aus dem Jahr 1972 bleibt relativ nah an der Vorlage und kreist vor allem um die philosophisch-moralis­chen Aspekte. Steven Soderberghs bildmächtige In­ter­pre­ta­tion von 2002 dagegen konzen­tri­ert sich auf die Liebesgeschichte zwischen Kelvin und Harey und das Drama von Identität und Erin­nerungsfähigkeit.

Das Motiv des in­tel­li­gen­ten Ozeans ist mit Wucht in Frank Schätzings Bestseller Der Schwarm (2004) zurückgekehrt. Wie in Solaris geht es hier um den Versuch, eine Lebensform zu begreifen, die jenseits unseres Vorstel­lungsvermögens liegt; gesteigerte Dramatik ergibt sich dadurch, dass die Handlung auf der Erde stattfindet.

Über den Autor

Stanisław Lem wird am 12. September 1921 in Lemberg (heute Ukraine) als Sohn eines Arztes geboren. Im reichhaltig bestückten Ar­beit­sz­im­mer des Vaters wurzelt seine Faszination für Wis­senschaft und Technik. Nach dem Abitur beginnt Lem 1940 in seiner Heimatstadt ein Medi­zin­studium, das er nach dem Einmarsch der Deutschen abbrechen muss; es gelingt ihm dank gefälschter Papiere, seine jüdische Herkunft zu verbergen. Nach der Besetzung Lembergs durch die Rote Armee darf er wieder studieren, als die Stadt aber mit Ende des Krieges endgültig an die Sowjetunion fällt, wechselt Lem nach Krakau. Bereits als Ju­gendlicher hat er zu schreiben begonnen; ab 1946 werden seine Gedichte und Erzählungen auch in Zeitschriften veröffentlicht. Sein erster Roman Der Mensch vom Mars erscheint im gleichen Jahr, weitgehend unbeachtet, in einem Romanheft. Die Approbation als Arzt erhält er nicht, weil er eine der letzten Prüfungen nicht besteht: Er weigert sich, Antworten im Sinne einer damals herrschen­den pseudowis­senschaftlichen Lehre zu geben. Darum arbeitet er nach dem Studium in der neu­ro­phys­i­ol­o­gis­chen Forschung. 1951 erscheint der Roman Die Astronauten, der ihn leidlich bekannt macht; bald verlegt er sich vollends aufs Schreiben. Seine pro­duk­tivste Phase erlebt Lem von Mitte der 50er bis Mitte der 70er Jahre. Solaris, sein bekan­ntestes Buch, erscheint 1961. Lem bleibt zeit seines Lebens ein kritischer und unabhängiger Geist. Als er in den 70er Jahren die rein kom­merzielle amerikanis­che Sci­ence-Fic­tion-Szene kritisiert, dauert es nicht lange, bis ihm die Ehren­mit­glied­schaft in der Vereinigung Science Fiction Writers of America entzogen wird. Als 1981 in Polen das Kriegsrecht verhängt wird, verlässt Lem das Land, er lebt zunächst in Westberlin und dann in Wien, bis er 1988 nach Polen zurückkehrt und sich endgültig in Krakau niederlässt. 1997 macht ihn Krakau zum Ehrenbürger; im Jahr darauf erhält er gleich drei Ehren­dok­tor­ti­tel: von den Universitäten in Krakau, Oppeln und Lemberg. Lem schreibt und publiziert bis kurz vor seinem Tod. Am 27. März 2006 stirbt er nach längerer Krankheit an Herzver­sagen.