Eine merkwürdige Verbindung
Auf den ersten Blick mag es merkwürdig erscheinen, dass Unternehmer und Manager etwas aus Märchen lernen könnten. Doch wer sich intensiver etwa mit den von den Gebrüdern Grimm vor rund 300 Jahren publizierten Geschichten befasst, wird schnell erkennen, dass Märchen einen großen Fundus an Erkenntnissen über menschliches Verhalten und dessen Veränderungspotenzial liefern. In der Managementforschung spielt diese Tatsache bislang jedoch keine Rolle.
„Man kann die Managementforschung als ,märchenfrei‘ charakterisieren.“
Der Begriff „Märchen“ taucht in der deutschen Wirtschaftsliteratur nicht auf. Und auch in der Praxis gelten die oft wundersamen und geheimnisvollen Geschichten fast nur noch als Vorlesevergnügen für Kinder bis zur Grundschule. Waren noch vor wenigen Jahrzehnten Märchen in fast jedem Haushalt bekannt, so weiß heute kaum noch jemand, wer etwa das tapfere Schneiderlein, der gestiefelte Kater, der Froschkönig, die Bremer Stadtmusikanten oder Hans im Glück sind.
„Mitunternehmer sind neben der unternehmerischen Orientierung noch am Unternehmen und seinen Bezugsgruppen, an sozialen Netzwerken sowie an langfristigem Austausch orientiert.“
Dabei sind diese Geschichten exzellente Fallstudien für Führungskompetenzen oder den Umgang mit Veränderungen. So stehen der gestiefelte Kater für kreatives Unternehmertum, der Froschkönig für gehaltene Versprechen oder die Bremer Stadtmusikanten für gute Teamarbeit.
Management und Märchen
Ein Unternehmen setzt sich aus Menschen zusammen, die Projekte gemeinsam umsetzen wollen und z. T. bewusst Risiken eingehen. Aufgabe des Managements ist es dabei, Mitarbeiter zu finden, die sich als Mitunternehmer verstehen, also Menschen einzustellen, die sich mit ihrem Wissen und Handeln für das Unternehmen stark machen und sich gleichzeitig teamorientiert verhalten. Dies gelingt allerdings nur in einem Umfeld, in dem Offenheit und Vertrauen herrschen und die Führung den Mitarbeitern Verantwortung überträgt, Freiräume gewährt, Aufgaben delegiert und sie individuell fördert. Ein Mittel, auf das Manager häufig zurückgreifen, um eine solche Unternehmenskultur zu etablieren, sind Leitsätze, Verhaltensregeln und Visionen. Hierin ist auch die entscheidende Parallele zu den Märchen zu sehen, deren Kernaussagen vor allem in moralischen Verhaltensnormen für die Menschen bestehen. Im Vergleich zum Management sind diese Leitsätze im Märchen aber konkreter und wesentlich öfter mit Sanktionen verbunden.
„In der Managementpraxis sollen Leitsätze die strategische Ebene, die taktischen Programme sowie die operative Umsetzung zugleich beeinflussen.“
Unternehmen dagegen beschreiben ihre Verhaltenswünsche an die Mitarbeiter umfassender und abstrakter und sie setzen Schulungsmaßnahmen ein. Gerade der Verzicht auf Sanktionen ist jedoch für Unternehmen ein großer Nachteil, da dies egoistisches Verhalten eher begünstigt. Ein Vergleich von 70 Leitsätzen aus Grimms Märchen mit 70 Firmenleitsätzen zeigt, dass es zahlreiche Übereinstimmungen in den genannten Werten gibt. Gemeinsame Leitsätze sowohl in den Märchen als auch im Management sind etwa: Verhalte dich intelligent, lerne aus Fehlern, halte dein Wort, rechne mit Prüfungen und Konsequenzen und verdränge nicht deine Gefühle.
„In der Psychoanalyse und -therapie zeigen Märchen oft erkennbare Wirkungen bei Projektionen auf eigene Entwicklungsphasen und -konflikte.“
Darüber hinaus zeigen die Helden in den Märchen eine Reihe von Eigenschaften, die in der Unternehmenswelt sehr gefragt sind. So gehen sie Probleme zielgerichtet an – auch wenn sie ihr eigenes Verhalten dabei nicht unbedingt auf den Prüfstand stellen –, sie gehen Risiken ein und sie beziehen ihre Stärke aus ihrer emotionalen Intelligenz, vor allem Armen und Schwachen gegenüber.
„Kinder- und Hausmärchen vermitteln noch heute gültige gesellschaftliche Werte einer geforderten Soll-Kultur auch von Unternehmen.“
Auch lassen sie sich nicht durch gebrochene Verträge etwa von höhergestellten Personen entmutigen. Im Gegenteil, sie erhöhen in diesen Fällen sogar ihre Anstrengungen. Während Unternehmen die Auseinandersetzung mit Verhaltensweisen vor allem über Mitarbeitergespräche, Assessments oder Anerkennungen fördern, lassen sich die Erkenntnisse der Märchen eher über Selbstreflexion und das Diskutieren über die Geschichten verinnerlichen.
Kreativität als Erfolgsgeheimnis von Märchenhelden
Um als Unternehmen Gewinne zu erwirtschaften, braucht es Innovationsfähigkeit. Wer dauerhaft in hart umkämpften Märkten bestehen will, muss Herausforderungen kreativ bewältigen können. Dies verlangt von den Menschen vor allem Offenheit für Neues, den Willen zur Zusammenarbeit, das Einhalten von sozialen Regeln, Forscherdrang, Begeisterungsfähigkeit und den Aufbau von Netzwerken.
„Weil Firmenleitsätze neben Normen auch unterstützende Instrumente, Führungsstile und Fördermaßnahmen enthalten, sind sie umfassender, strukturierter und abstrakter als die aus einem Fallbeispiel abgeleiteten und meist am Schluss platzierten Märchenmaximen.“
Das zentrale Thema in vielen Märchen ist die Fähigkeit des Helden, Probleme kreativ zu lösen. Bestes Beispiel ist die Geschichte des gestiefelten Katers. Mit einer Reihe von ungewöhnlichen Ideen und Einfällen verhilft der Kater seinem Herrn zur Herrschaft im Königreich. Aschenbrödel dagegen verdankt die Hochzeit mit dem Prinzen zuallererst ihrer Gutherzigkeit und der Freundschaft mit Verbündeten. In beiden Fällen allerdings ist der Erfolg nur möglich, weil Kreativität mit sozialer und emotionaler Intelligenz verbunden wird.
„Neben Problemlösungs- und Sozialkompetenzen zeigen Helden und Heldinnen entschlossenes, aber unreflektiertes Umsetzungsverhalten.“
Das Management kann von den Märchen im Umgang mit Herausforderungen aber noch etwas viel Wesentlicheres lernen: Neue Ideen lassen sich nur durch die Tat verwirklichen. Gerade in Unternehmen wird die Fähigkeit, Dinge konsequent umzusetzen, nicht ausdrücklich gefördert. Weitere Aspekte, die die Märchen verdeutlichen, sind das Scheitern von klugen, aber asozial handelnden Menschen sowie das Bestrafen von Misserfolgen.
Lernpotenzial Fehler
Mit Leitsätzen und Verhaltensregeln sollen in Unternehmen vorrangig Fehlentwicklungen und Konflikte vermieden werden. In der Formulierung der Normen betonen die Manager oft eine fehlertolerante Firmenkultur. In der Praxis kollidieren diese abstrakt gefassten Maximen jedoch nicht selten mit den tatsächlichen Verhaltensweisen. Personalentwicklungsmaßnahmen wie Coaching sollen die Missstände dann mithilfe von Rückmeldungen beheben oder das Fehlerbewusstsein der Mitarbeiter schärfen.
„Firmenleitsätze haben auch idealisierte Ansprüche und sind dabei indikativ statt als Leitziele formuliert.“
Märchen dagegen befassen sich von vornherein mit dem individuellen und sozialen Lernen aus Fehlern durch Selbstreflexion, Erfahrung sowie Sanktionen. Wer konkret handelt, erzielt konkrete Ergebnisse. Da Märchenhelden Fehler als Chance betrachten, zeigen sie oft Mut, geben nicht auf, bitten um Hilfe, vertrauen sich selbst und lassen sich nicht durch äußere Reize wie Geld oder Status motivieren. Allerdings gehen sie oft auch allzu leichtfertig hohe Risiken ein.
„Märchen schildern Kreativität nicht nur als mentale Kreativität, sondern erweitern sie um soziale Kreativität.“
Unabhängig davon, dass die Gebrüder Grimm die schon vor ihrer Zeit bestehenden Märchen unter dem Einfluss der damals herrschenden Werte bearbeiteten, bieten die Geschichten auch für heutige Generationen viel Lernstoff. Hierzu zählt vor allem, dass Fehler neue Chancen eröffnen, dass gemeinsame Reflexion gegenseitiges Verständnis fördert und dass Sanktionen nicht von vornherein ausgeschlossen werden sollten.
Die Bedeutung der emotionalen Intelligenz
Während in Unternehmensleitsätzen und -visionen das rationale Denken betont wird, handeln Märchen vor allem von Gefühlen und sozialen Beziehungen. Emotionale Intelligenz ist ein Hauptmerkmal von Märchenhelden. Was genau darunter zu verstehen ist, lässt sich jedoch nur schwer erfassen.
„Viele Märchen vermitteln implizit die Botschaft, prosoziales Verhalten lohne sich.“
Eine konkrete Definition konnte bislang auch die Wissenschaft nicht erarbeiten. Der Amerikaner Daniel Goleman, der den Begriff geprägt hat, bezeichnet emotionale Intelligenz als das „Erzeugen von Resonanz“, um gemeinsam mit anderen Menschen Dinge in die Tat umzusetzen. Aus Sicht der Hirnforscher wird die emotionale Intelligenz durch Gene, Erziehung, frühgeburtliche Bindungen und die Entwicklung des Gehirns geprägt. Zudem gelten rationales Denken und Gefühle als eng miteinander verbunden.
„Selbstvertrauen scheint als Basis für Fremdvertrauen ebenso wichtig, auch weil man mit Vertrauensbrüchen dann besser umgeht.“
In Märchen bedeutet emotionale Intelligenz immer ein Verhalten, das sozial ausgerichtet ist. Der Erfolg der Helden beruht sogar meist darauf, dass sie sich für andere Personen einsetzen, ohne einen eigenen Vorteil daraus zu ziehen. Besonders trifft das auf Figuren zu, die mit mäßigen intellektuellen Fähigkeiten ausgestattet sind. Emotionale und soziale Intelligenz machen in den Märchen zudem häufig den Nachteil mangelnden Vermögens oder fehlender Macht wett.
„Märchenleitsätze bewirken Selbstreflexion und Kommunikation, wenn sie damit konkrete Erfahrungen verbinden.“
Es ist eine der Kernaussagen der alten Geschichten, dass die Kooperation mit anderen, Einfühlungsvermögen, konstruktives Streiten und Respekt Glück verheißen. Auch eigenständiges Denken und eigenwillige Handlungen sind möglich, solange die Beweggründe sozialer Art sind. Damit emotionale Intelligenz wirkt, wird allerdings die Selbstreflexion der eigenen Sozialkompetenz vorausgesetzt.
Auch wenn die Bedeutung von Emotionen in der Öffentlichkeit zunehmend diskutiert wird, herrscht in der Managementausbildung noch immer die Vermittlung von fachlichen und kognitiven Fähigkeiten vor. Die Potenziale von Mitarbeitern lassen sich jedoch nur dann optimal entwickeln, wenn die emotionale Prägung, die jeder Mensch erfährt, berücksichtigt und regelmäßig reflektiert wird.
Untersuchungen zeigen zudem, dass Menschen, die ihre eigenen Gefühle immer wieder auf den Prüfstand stellen, eine deutlich stabilere Persönlichkeit aufweisen. Deshalb sollte man bei Ausbildung und Auswahl von Führungskräften künftig das Hauptaugenmerk auf die emotionale und soziale Intelligenz legen.
Ethisches Verhalten als Führungskapital
Vertragstreue gilt schon seit jeher als Markenzeichen eines guten Unternehmers. Auch wenn sich die Zeiten geändert haben und Verträge nur noch selten per Handschlag abgeschlossen werden, zählt das Worthalten zu einem der wichtigsten Anforderungskriterien für Manager.
Genauso bedeutet die Einhaltung von Versprechen und Absprachen für Märchenhelden eine ständige Herausforderung. Ein Beispiel dafür ist die Geschichte des Froschkönigs, der darauf besteht, dass die Prinzessin ihr Versprechen hält und den Frosch zum Dank für das Wiederbringen ihrer goldenen Kugel in ihr Schloss holt. Die Hauptpersonen in Märchen rechnen allerdings oft mit Vertrauensbruch und verfolgen hartnäckig ihre Ziele. Unterstützend verwenden sie auch Sanktionen, damit das Gute letztlich über das Böse siegen kann.
Das Management setzt dagegen auf die Selbstverpflichtung. Die Realität zeigt jedoch, dass das freiwillige Worthalten kein zuverlässiges Mittel ist, um Vertrauen in einem Unternehmen aufzubauen. Führungskräfte sollten sich daher an die Erkenntnisse der Märchen halten und durchaus die Möglichkeit in Betracht ziehen, z. B. Lohnbestandteile wie Boni nicht zu zahlen oder aufzuschieben, wenn Mitarbeiter nicht glaubwürdig handeln.
Der Vergleich von Leitsätzen in Märchen und Management belegt, dass die alten Geschichten ein sehr gutes Mittel sind, um die Menschen zum Überdenken ihrer Gefühle und ihres Handelns anzuleiten.
Märchen können als Fallbeispiele für konkrete Konfliktsituationen, Projektherausforderungen oder Weiterbildungen eingesetzt werden. Die gemeinsame Diskussion über die gesellschaftlichen Werte der Märchen fördert nicht nur eine offene, vertrauensvolle Unternehmenskultur, sondern verstärkt auch die Verbreitung von erwünschten Verhaltensweisen. Unternehmer und Manager, die sich dafür starkmachen, tragen dazu bei, dass Märchen nicht mehr ausschließlich eine entscheidende Rolle bei der Sozialisierung von Kindern spielen. Sie machen vielmehr deutlich, dass auch Erwachsene ihre emotionale Intelligenz bis ins hohe Alter schulen können.