Orientalismus

Buch Orientalismus

New York , 1978
Diese Ausgabe: S. Fischer,


Worum es geht

Ein akademis­ches Enthüllungsbuch

Ori­en­tal­is­mus war ein Schlag ins Gesicht einer jahrhun­derteal­ten Forschungsrich­tung. Edward Said wies der Ori­en­tal­is­tik nach, ihren Forschungs­ge­gen­stand fortwährend in Misskredit gebracht zu haben. Alte Vorurteile gegen die Menschen im Orient wurden nie hinterfragt, sondern sys­tem­a­tisch wiederholt. So machte sich die Forschung zum Handlanger der westlichen Großmächte und bestätigte sie in dem Glauben, dass der Orient gelenkt, also beherrscht werden müsse. Saids akademis­ches Enthüllungsbuch hatte durch­schla­gen­den Erfolg, leitete einen tief greifenden Wandel innerhalb der Ori­en­tal­is­tik ein und begründete sogar eine neue Stu­di­en­rich­tung, die „postkolo­nialen Studien“. Said, ein gebürtiger Palästinenser mit US-Pro­fes­sur, galt fortan als wichtige arabische Stimme im Westen. Obwohl Ori­en­tal­is­mus zum modernen Klassiker avanciert ist, wird das Buch auch kritisch bewertet. Saids selektiver Umgang mit den Quellen rückt seine Un­ter­suchung in die Nähe zur Polemik und schränkt damit ihre fachliche Glaubwürdigkeit ein. Die Lektüre lohnt sich dennoch: Saids grundle­gende Au­seinan­der­set­zung schärft den Blick für den Umgang mit frem­dar­ti­gen Kulturen.

Take-aways

  • In seiner his­torischen Studie Ori­en­tal­is­mus entlarvt Edward Said die Grundlagen der westlichen Ori­ent­forschung als Cocktail aus Vorurteilen und Rassismus.
  • Das Buch wurde zum akademis­chen Skan­daler­folg und rev­o­lu­tion­ierte die Ori­en­tal­is­tik.
  • Inhalt: Die Ori­en­tal­is­tik dient ihrem Wesen nach der Erforschung und Darstellung des Orients. Tatsächlich aber basieren ihre Texte meist auf überkommenen Vorurteilen, sind von Rassismus geprägt und liefern dem kolo­nial­is­tis­chen Westen Argumente, die Kulturen des Ostens als min­der­w­er­tig zu behandeln.
  • Edward Said, Palästinenser, wurde an US-Eli­te­u­ni­ver­sitäten ausgebildet.
  • Mithilfe der so genannten Diskur­s­analyse entdeckt Said tief sitzende Vorurteile bei ori­en­tal­is­tis­chen Autoren.
  • Saids Kritik des kolo­nial­is­tis­chen Blicks machte Schule und führte zur Einrichtung des Forschungs­feldes „postkolo­niale Studien“.
  • Said ar­gu­men­tiert nicht aus arabischer, sondern aus hu­man­is­tis­cher Perspektive. Er tritt allgemein für die Achtung des anderen ein.
  • Said be­ab­sichtigte mit seinem Buch auch, eine neue Politik gegenüber dem Nahen Osten anzuregen.
  • Von Anfang an war Ori­en­tal­is­mus heftiger Kritik ausgesetzt. Saids selektive Lektüre einschlägiger Quellen wurde als manipulativ ge­brand­markt.
  • Zitat: „Wenn die Erken­nt­nisse der Ori­en­tal­is­tik einen Sinn haben, so den, daran zu gemahnen, wie sehr das Wissen, und zwar jedes Wissen, zur Erniedri­gung verführt.“
 

Zusammenfassung

Orient – kein un­schuldiger Begriff

Der Begriff „Orient“ bezieht sich nicht allein auf eine Weltregion, sondern ist an einen bestimmten Blick gebunden, den Europa auf diese Region wirft. Der Orient ist nicht einfach da, sondern ist – als Region mit einer ver­meintlich eigenen Identität – erst von europäischen Autoren geschaffen worden; ein Konstrukt, das auf einen ge­ografis­chen Sektor übertragen wurde. Es dient dem Okzident als Kon­trast­bild und trägt damit dazu bei, dass dieser sich genauer definieren kann. Obwohl der Orient also gewissermaßen ein Produkt der europäischen Kultur ist, ist er nicht einfach nur eine Idee, die keine Entsprechung in der Wirk­lichkeit hat: Die autoritäre Haltung der Europäer gegenüber dem Osten hat ihre Spuren hin­ter­lassen und ein Machtgefüge zwischen den beiden Regionen entstehen lassen. Der Ori­en­tal­is­mus – worunter hier dieses Machtverhältnis zwischen Westen und Osten verstanden wird – geht auf eine lange Tradition zurück. Als Diskurs und Denkweise hat die Ori­en­tal­is­tik dem Westen immer dazu gedient, den Orient zu vere­in­nah­men und ihn damit zu beherrschen.

„Der Ori­en­tal­is­mus entsprach stets mehr der ihn gebärenden Kultur als seinem ver­meintlichen, ja ebenfalls vom Westen her­vorge­brachten Gegenstand (...)“ (S. 33)

Aus his­torischen Gründen steht hier der Ori­en­tal­is­mus in Frankreich, Großbritannien und den USA im Mittelpunkt der Un­ter­suchung. Diese beschränkt sich außerdem, um nicht auszuufern, auf die arabische Welt und den Islam – dies u. a., weil der Autor sich selbst als Orientale versteht: Er geht den Spuren nach, die der Ori­en­tal­is­mus im eigenen Bewusstsein hin­ter­lassen hat. Als Palästinenser in den USA lebt er in einer von Vorurteilen geprägten Umgebung. Das Buch soll dazu beitragen, das prob­lema­tis­che Be­griff­s­paar „Orient“ und „Okzident“ künftig zu überwinden.

Eine Kultur mit Charak­ter­schwäche?

Bereits im frühen 20. Jahrhundert hatte sich im Westen ver­meintliches Wissen über den Orient und die Orientalen verfestigt, das kaum mehr hinterfragt wurde. Es diente u. a. dazu, den fort­dauern­den Kolo­nial­is­mus und die Zweiteilung der Welt zu recht­fer­ti­gen: in Völker, die herrschen durften, und andere, die es zu beherrschen galt. Der Ori­en­tal­is­mus lieferte den Kolonialmächten die Grundlage für ihre Politik. Einer seiner Pfeiler war schon früh die Behauptung einer grundsätzlich un­ter­schiedlichen Persönlichkeitsstruk­tur von Orientalen und Europäern. Demnach sind Orientalen un­or­gan­isiert, antriebslos, tendenziell hinterhältig und nur begrenzt zu höherer Vernunft und logischem Denken befähigt. Angesichts dieser Vorurteile ging man davon aus, dass die na­tion­al­is­tis­chen Bewegungen in ver­schiede­nen Kolonien dem Naturell ihrer Bewohner wesensfremd waren. Die Orientalen – so die Theorie – bedürften gerade deshalb der Fremd­herrschaft, denn mit ihrer Charak­ter­schwäche brächten sie kein or­dentliches Staatswesen zustande.

„(...) genau darin liegt das in­tellek­tuelle Haupt­prob­lem des Ori­en­tal­is­mus. Kann man, allein dem äußeren Anschein folgend, die Menschheit in streng voneinander geschiedene Kulturen, Stränge, Traditionen, Gesellschaften, ja sogar Völker unterteilen und trotzdem Humanist bleiben?“ (S. 60)

Das ori­en­tal­is­tis­che „Wissen“ hat sich zwar vom späten 18. bis zur Mitte des 20. Jahrhun­derts mehrfach mod­ernisiert, doch sein fragwürdiges Fundament wurde nicht angetastet. Selbst nach dem Zweiten Weltkrieg und dem Untergang des Kolo­nial­is­mus fällen Politiker noch immer Pauschalurteile über „die arabische Welt“ oder über Kulturen, denen angeblich die Eignung zum logischen Denken fehlt.

Der Traum vom Orient

Die Ori­en­tal­is­tik als wis­senschaftliche Disziplin entstand bereits im frühen 14. Jahrhundert, aber bis Mitte des 18. Jahrhun­derts waren Ori­en­tal­is­ten vor allem Bibelkundler, Is­lam­spezial­is­ten oder Sprach­forscher. Dann begann das Interesse am Orient zu wachsen, im 19. Jahrhundert nahm es sogar Züge einer Mode an. Bei aller Neugier wurden jedoch immer wieder alte Vorurteile erneuert, die teilweise noch auf Grenzziehun­gen der alten Griechen zwischen Europa und dem mysteriösen Osten zurückgingen. Ein wiederkehren­des Muster in der Au­seinan­der­set­zung mit dem Unbekannten war der Bezug zu dem bereits Bekannten, was dazu führte, dass der Islam lange als eine per­vertierte Form des Chris­ten­tums angesehen wurde. Diese verzerrte Perspektive ließ vieles, was genuin Ori­en­tal­isch war, wie die schlechte Kopie eines europäischen Originals erscheinen und machte ein wahrhaftiges Verständnis des Orients unmöglich. Die Ori­en­tal­is­tik unternahm zwar im Verlauf der Jahrhun­derte enorme Anstren­gun­gen zur Sys­tem­a­tisierung ihres Wissens, unterzog dabei aber die eigene Herange­hensweise an ihren Gegenstand nie einer grundle­gen­den Kritik.

„Ein Orientale lebt im Orient, in ori­en­tal­is­chem Müßiggang, ori­en­tal­is­chem Despotismus, ori­en­tal­is­cher Sinnlichkeit, ist erfüllt von ori­en­tal­is­chem Fatalismus. So un­ter­schiedliche Schrift­steller wie Marx, Disraeli, Burton und Nerval konnten sich anhaltend in derlei Allgemeinplätzen ergehen, ohne sie zu hin­ter­fra­gen (...)“ (S. 124)

Napoleon war einer derjenigen, die mit einem entsprechend schiefen Blick gegen Osten auszogen. Der Plan zum Ägypten­feldzug 1798 wurde entschei­dend durch fixe Ideen über den Orient angestoßen. Napoleon glaubte, mit Europas wis­senschaftlichem Rüstzeug der danieder­liegen­den ägyptischen Kultur positive Impulse geben zu können. Die Besetzung des Landes würde diesem folglich eher aufhelfen, als dass es dadurch unterworfen werde. Die Vere­in­nah­mung Ägyptens zog eine gewaltige Enzyklopädie, eine Beschrei­bung Ägyptens nach sich, die erneut ori­en­tal­is­tis­che Vorurteile un­ter­mauerte. Als späte Konsequenz des napoleonis­chen Zivil­isierung­spro­jekts kann sogar die Errichtung des Suezkanals gelten, mit dem der Westen die Distanz zum Orient abermals eindampfte – natürlich wie immer in seinem Sinne.

Angelesene Urteile statt gelebter Erfahrung

Eine große Schwäche des Ori­en­tal­is­mus war stets das ungesunde Übergewicht von angelesener gegenüber erlebter Materie. Nicht zuletzt deshalb setzte sich der von Vorurteilen geprägte Diskurs auf Dauer gegen die tatsächliche Erfahrung durch und sorgte für eine gelenkte Wahrnehmung. Der Orientboom im 19. Jahrhundert führte denn auch zu Fällen herber Enttäuschung: Ein romantisch gefärbtes Orientbild zerbrach auf Reisen plötzlich am Alltag. In die Krise geriet die Ori­en­tal­is­tik freilich erst, als sein Forschungs­ge­biet sich auf die Kolo­nial­re­iche erstreckte und politische Machtkämpfe, Unabhängigkeits­be­we­gun­gen und neuartige Block­bil­dun­gen den Forschungs­ge­gen­stand aus den Angeln hoben. Trotzdem versuchten viele Ori­en­tal­is­ten weiterhin, auch die jüngsten En­twick­lun­gen und Kon­stel­la­tio­nen in die alten Schubladen zu zwängen.

„Zum Beispiel gelten Araber als Kamel reitende, ter­ror­is­tis­che, hakennasige, käufliche Wüstlinge, deren un­ver­di­en­ter Reichtum einen Affront für jede wahre Zivil­i­sa­tion bedeutet. Dahinter verbirgt sich immer die Annahme, dass der westliche Verbraucher, obwohl er doch nur eine Minderheit bildet, eigentlich ein Anrecht auf den Großteil der Wel­trohstoffe hätte. Warum? Weil er im Unterschied zum Orientalen ein richtiger Mensch ist.“ (S. 130 f.)

Die Ori­en­tal­is­tik erneuerte sich im 18. und 19. Jahrhundert, u. a. durch Fortschritte der wis­senschaftlichen Aufklärung. Länder jenseits der islamischen Ein­flusszone wurden erforscht. Historiker regten zum Vergleich ver­schiedener Zivil­i­sa­tio­nen und ihrer Geschichte an. Andere Denker forderten sogar, dass man sich in fremde Völker einfühlte, um deren Eigenarten besser zu begreifen. Außerdem gewannen an­thro­pol­o­gis­che Typenlehren und Klas­si­fika­tion­ssys­teme an Einfluss. Alle diese Tendenzen waren zugleich Bausteine einer schrit­tweisen Säku­lar­isierung: Das Christentum als Maßstab allen Urteilens verlor an Boden. Die Ori­en­tal­is­ten un­tere­inan­der verhielten sich allerdings nicht selten wie eine religiöse Brud­er­schaft, deren Mitglieder fast schöpfergleich entlegene Kulturen aus der Dunkelheit ins Licht führen wollten.

Gesehen wurde, was zu beweisen war

Bei zwei zentralen Weg­bere­it­ern des modernen Ori­en­tal­is­mus, Silvestre de Sacy und Ernest Renan, war die religiöse Vorprägung entschei­dend für die Art ihres wis­senschaftlichen Engagements. Beide bee­in­flussten mit grundle­gen­den Arbeiten den Blick gegen Osten und beide gingen wie selbstverständlich von einer Min­der­w­er­tigkeit der ori­en­tal­is­chen Kulturen aus. Während de Sacys didaktische Werke sug­gerierten, der Orient sei jenseits des von ihm Mit­geteil­ten weitgehend un­in­ter­es­sant, versuchte Renan philol­o­gisch nachzuweisen, dass die semitischen Sprachen – ebenso wie die dazugehörigen Kulturen – in ihrer Entwicklung stecken geblieben seien. Selbst die Empfind­ungsfähigkeit der Semiten sei im Verhältnis zu in­doger­man­is­chen Völkern un­ter­en­twick­elt.

„Der moderne Orientalist hielt sich für einen Helden, der den Orient aus einer von ihm persönlich di­ag­nos­tizierten Dunkelheit, Entrücktheit und Frem­dar­tigkeit errettete.“ (S. 146)

Immer wieder entstanden oder festigten sich Stereotypen, wenn europäische Wis­senschaftler meinten, die Fülle des Materials in bündige Thesen oder einfache Darstel­lun­gen packen zu müssen. Diese gestutzten Ori­ent­mod­elle kamen dem Horizont und den Interessen der herrschen­den Kultur sehr entgegen. Neben denjenigen Ori­en­tal­is­ten, deren Werke sich vor allem der Auswertung früherer Quellen verdankten, gab es aber auch solche, die wirklich vor Ort unterwegs waren. Doch selbst sie struk­turi­erten ihr Material vor allem nach den Er­fordernissen der eigenen Disziplin und weniger nach denen des Gegenstands. Wichtiger als die wahrheits­gemäße Erfassung des Orients war die Po­si­tion­ierung des eigenen Werks innerhalb einer Ori­en­tal­is­tik, deren in­sti­tu­tionelle Macht durch neu gegründete Forschungs­ge­sellschaften beständig wuchs.

Ori­en­tal­is­ten im Dienst des Imperiums

Obwohl sich britische und französische Ori­en­tal­is­ten in ihren Grun­dan­nah­men einig waren, hatten ihre Arbeiten un­ter­schiedlichen Stellenwert – denn lange verfügte nur Großbritannien über bedeutende Kolonien im Orient. Erst der verlorene Krieg 1870/71 gegen Preußen führte auch in Frankreich zu einem Ex­pan­sions­fieber. Um dieses ideologisch zu unterfüttern, lieferten die nationalen Ori­en­tal­is­ten abermals passende Argumente. Als es nach dem Ersten Weltkrieg darum ging, die Türkei zwischen England und Frankreich aufzuteilen, konnten die Forscher beider Länder gle­ich­berechtigt Rat geben.

„Bald trat der Orient als solcher hinter dem zurück, was der Orientalist daraus machte, und derart von ihm ins pädagogische Tableau gebannt, verlor er zunehmend seinen Realitätsbezug.“ (S. 153)

Die westlichen Kolo­nial­her­ren gingen wie selbstverständlich davon aus, dass sie als Weiße besser zum Lernen und zum Fortschritt befähigt waren als jene un­or­gan­isierten, denkfaulen und dahindämmernden Orientvölker, die durch die Frem­dregierung erstmals eine effektive Verwaltung zu spüren bekamen. Ähnlich arrogant und rassistisch ar­gu­men­tierte oft der wis­senschaftliche Ori­en­tal­is­mus, indem er mehrere Völker über einen Kamm scherte. Zu den er­fol­gre­ich­sten Ori­en­tal­is­ten gehörten jene, die am konkreten Menschen und dessen Lebenswelt kühn vor­bei­dachten und stattdessen „kulturelle Urformen“ und unverrückbare Wesenheiten definierten. So galt bizarrerweise: Je weiter der Blick von der Wirk­lichkeit abhob, desto kon­se­quenter schien der Forscher den Dingen auf den Grund zu gehen.

„Wer in der Ori­en­tal­is­tik ein lebendiges Bild der ori­en­tal­is­chen Lebenswelt oder Gesellschaft sucht (...), der sucht vergebens.“ (S. 205)

Allerdings hatte sich der Ori­en­tal­is­mus zunehmend in der Wirk­lichkeit zu bewähren. In der ersten Hälfte des 20. Jahrhun­derts wandelte er sich immer mehr von einer philol­o­gis­chen Wis­senschaft zu einem Teilbereich der praktischen Politologie. Die Großmächte verlangten nach tauglicher Expertise über mögliche Risiken und Neben­wirkun­gen ihres kolonialen Engagements. Dabei fiel es den Ori­en­tal­is­ten oft genauso schwer wie den Politikern, sich einer rapide ändernden Realität anzupassen. Erstaunlich lange verwendeten die Fachkräfte ihren Ehrgeiz darauf, lieb gewonnene Stereotype zu verteidigen. Noch die aktuellsten Arbeiten aus dem Bereich der Orient- oder Is­lam­stu­dien leiden an einer gewissen gedanklichen Rückständigkeit.

Die USA gehen anders vor – aber nicht klüger

Nach dem Zweiten Weltkrieg ging nicht nur der Kolo­nial­is­mus seinem Ende entgegen, auch der Ori­en­tal­is­mus hatte in seiner bisherigen Form ausgedient. Die amerikanis­che Vorherrschaft löste Frankreich und Großbritannien ab. Umgehend sorgte das Verhältnis der USA zu Israel einerseits und die Abhängigkeit der Vereinigten Staaten vom Erdöl an­der­er­seits für eine vielfältige Beschäftigung mit dem arabischen Raum. Diese reichte bis in die populäre Filmkultur, wo der Muslim allerdings in aller Regel negativ dargestellt wurde. Das Stu­di­enge­biet des Ori­en­tal­is­mus ging in den USA bald in den Sozial­wis­senschaften auf. Die waren zwar kaum von Europas his­torischem Ballast beschwert, re­pro­duzierten aber dennoch die von dort bekannte Geringschätzung des Fremden.

„Thesen über die Rückständigkeit, De­gener­iertheit und Abartigkeit des Orientalen gingen Anfang des 19. Jahrhun­derts meist mit Ideen über die bi­ol­o­gis­chen Grundlagen von Rasse­nun­ter­schieden einher.“ (S. 236 f.)

Abermals trifft man in diesen Schriften auf die ver­schla­ge­nen, triebges­teuerten und der islamischen Irrlehre verfallenen Araber, die in ihrem massen­haften Auftreten bedrohlich, aber aufgrund ihrer struk­turellen Unfähigkeit zu strate­gis­cher Intelligenz letztlich ungefährlich sind. Die entsprechen­den Vorurteile werden nun oft milder formuliert, sind jedoch eindeutig auf diese Kern­vorstel­lun­gen zurückzuführen. Dabei ist es ein besonders unglücklicher Be­glei­tum­stand, dass der gewandelte Im­pe­ri­al­is­mus der USA die arabische Welt praktisch rekolo­nial­isiert hat. Die akademische Forschung zum islamischen Orient konzen­tri­ert sich in den USA, während sie vor Ort kaum anspruchsvoll betrieben werden kann. Kommt dazu, dass die jüngste Generation von Arabern in ihrer zunehmenden Kon­sumori­en­tierung eindeutig US-Mustern folgt. Viele Araber beginnen, sich selbst fast so zu sehen, wie Hollywood sie mit Vorliebe darstellt.

„Neben anderen Völkern, die ver­schiedentlich als rückständig, entartet, un­zivil­isiert und retardiert galten, sah man auch die Orientalen oft durch die Brille des bi­ol­o­gis­chen De­ter­min­is­mus und der moralisch-poli­tis­chen Un­ter­weisung. Insofern standen sie auf einer Stufe etwa mit Delin­quenten, Geis­teskranken, Frauen oder Armen (...)“ (S. 237)

Gibt es eine Alternative zum Ori­en­tal­is­mus? Vorerst muss es bei der Hoffnung bleiben, dass sich die Forschung schrit­tweise von alten Vorurteilen trennen kann. Im Prinzip hat sie das Zeug dazu. Von der Geschichte des Ori­en­tal­is­mus wird dann womöglich nur eine Mahnung bleiben: wie sehr das Wissen zur Erniedri­gung verführt.

Zum Text

Aufbau und Stil

Saids Ori­en­tal­is­mus folgt formal dem Muster, das man von einer his­torischen Studie dieses Typs erwartet: In einer Einleitung umreißt der Autor zunächst sein Thema und seine Herange­hensweise, anschließend verfolgt er die Entwicklung des Ori­en­tal­is­mus von den Anfängen bis in die Gegenwart. Dieses Gerüst erweist sich allerdings als locker: Regelmäßig wechselt Said den zeitlichen Rahmen, springt von einem Jahrhundert ins andere, spricht mal nur über eine kurze Phase, dann wieder über zwei oder drei Jahrhun­derte gle­ichzeitig. Ähnlich verfährt er im Hinblick auf Orient und Okzident. Mal nimmt er den gesamten Orient in den Blick, dann nur einen kleinen Teil, mal untersucht er die französischen Reis­eschrift­steller des 19. Jahrhun­derts, dann wieder spricht er ganz allgemein über die Sicht des Westens. Said versucht sein Thema aus immer neuen Blick­winkeln zu betrachten. Dabei fällt es im Einzelnen nicht schwer, seiner Ar­gu­men­ta­tion zu folgen, denn er schreibt weitgehend klar. Prob­lema­tis­cher sind Passagen von versteckter oder offener Ironie. Sie lassen die akademische Un­ter­suchung mitunter polemisch wirken.

In­ter­pre­ta­tion­sansätze

  • Edward Said bürstet die jahrhun­dertealte Tradition der Ori­ent­forschung gegen den Strich. Sein Buch beleuchtet die Wahrheit hinter den Worten. Er entdeckt in Büchern, Aufsätzen und Reden westlicher Ori­ent­forscher einen harten Kern von Vorurteilen, der dem erklärten Ziel der Zunft zuwiderläuft: Die Ori­en­tal­is­tik sollte ihren Gegenstand erhellen und aufschließen, hält aber an abschätzigen Stereotypen fest.
  • Methodisch benutzt Said das Verfahren der Diskur­s­analyse, wie sie vom französischen Philosophen Michel Foucault entwickelt wurde: Er versucht zu zeigen, inwieweit überge­ord­nete Machtverhältnisse ve­r­ant­wortlich sind für die Art und Weise, wie Menschen einer Einflusssphäre über Menschen anderer Einflusssphären urteilen. Die Sprache ist demnach nicht unschuldig oder neutral: Sie re­pro­duziert – mitunter gegen den Willen der Sprecher – herrschende Macht­struk­turen.
  • Der Philologe Said benutzt sein Handw­erk­szeug in politischer Mission. Im Detail analysiert er Texte wie ein Philologe, der seinem Material durch genaues Hinsehen neue Lesarten abgewinnt. Diese In­ter­pre­ta­tio­nen werden dann aber in einen politischen Zusam­men­hang überführt. Die Neube­w­er­tung der westlichen Ori­ent­forschung soll in einem zweiten Schritt zur Neuori­en­tierung der westlichen Ori­ent­poli­tik führen.
  • Saids Vorgehen ist nicht un­prob­lema­tisch: Er nimmt sich Freiheiten heraus, die einem Lit­er­atur­wis­senschaftler zustehen mögen, die aber im Rahmen einer his­torisch-poli­tis­chen Analyse zu weit gehen. Manche Schlussfol­gerun­gen basieren auf Un­ter­stel­lun­gen oder verdanken sich einer einseitigen Auswahl von Texten.
  • Ori­en­tal­is­mus ist auch ein Text der Selb­stvergewis­serung: Edward Said, der als Palästinenser geboren wurde, seine in­tellek­tuelle Ausbildung allerdings in den USA erhielt, erkämpft sich mit dem Buch eine Position jenseits jener Diskurse, die ihn als Araber von vornherein mit bestimmten Attributen belegen wollen.
  • Said ar­gu­men­tiert nicht aus arabischer oder gar mus­lim­is­cher Perspektive, sondern im Sinne eines uni­versellen Humanismus, dem die Achtung des anderen bei aller kulturellen Differenz am Herzen liegt.

His­torischer Hintergrund

Na­hostkon­flikt und Ölkrise

Im Jahr 1973 bekamen die Bürger der USA die Folgen des fort­dauern­den Na­hostkon­flikts deutlich zu spüren. Israel war am 6. Oktober im Jom-Kip­pur-Krieg von syrischen und ägyptischen Truppen angegriffen worden. Im folgenden Konflikt unterstützten die USA die israelische Regierung durch Waf­fen­liefer­un­gen. Nach der auf in­ter­na­tionalen Druck erfolgten Beendigung des Krieges binnen drei Wochen entschlossen sich die Öl ex­portieren­den arabischen Länder zu einem Liefer­boykott gegen die USA. Obwohl dieser kaum ein halbes Jahr durchge­hal­ten wurde, hatte die Maßnahme doch weit reichende Folgen, denn die parallele Drosselung der Ölfördermengen führte in den USA zu einem Preisschock und zu drastischen Ra­tionierungsmaßnahmen. Das Ansehen der Araber, die schon vorher ein schlechtes Image hatten, ver­schlechterte sich weiter. Zum einen lebten tra­di­tionelle Klischees im Bewusstsein der Bevölkerung fort, zum anderen schienen die arabischen Diktaturen ein Gegenmodell zum lib­eral-demokratis­chen Amerika zu verkörpern.

Zudem pflegten die USA bereits seit den 60er Jahren eine besondere Beziehung zu Israel. Dies hatte zur Folge, dass die Entwicklung des Na­hostkon­flikts in der amerikanis­chen Öffentlichkeit selten ausgewogen und un­partei­isch dargestellt wurde. Von der Situation in den palästi­nen­sis­chen Flüchtlingslagern oder der UN-Res­o­lu­tion über die Gründung eines palästi­nen­sis­chen Staates war selten die Rede. Gle­ichzeitig schürten Ter­ro­rak­tio­nen palästi­nen­sis­cher Gruppen stets aufs Neue das generelle Misstrauen gegen die Araber.

Entstehung

Als sich Edward Said Mitte der 70er Jahre an die Nieder­schrift von Ori­en­tal­is­mus machte, war er bereits seit mehr als zehn Jahren Professor für Ver­gle­ichende Lit­er­atur­wis­senschaft an der New Yorker Columbia University. Er war ein angesehenes Mitglied der akademis­chen Gemein­schaft – und fühlte sich als In­tellek­tueller doch heimatlos. Aufgrund seiner ara­bisch-palästi­nen­sis­chen Herkunft und Identität lag sein kulturelles Fundament eindeutig außerhalb des gewohnten US-amerikanis­chen Spektrums. Er musste seine merkwürdige Außen­seit­er­po­si­tion – westlich gebildet, östlich verwurzelt – nicht nur anderen gegenüber ständig erläutern, sondern hatte auch Probleme mit der eigenen Situierung zwischen zwei Kulturen. Insofern stellte seine Au­seinan­der­set­zung mit dem Blick des Westens auf den Osten auch ein Stück in­tellek­tueller Archäologie dar. Sie konnte helfen, jene Denkmuster zu sezieren, die er selbst als dif­famierend empfand, obwohl sie zugleich Teil des eigenen Bil­dungswegs waren.

Said hielt zunächst einige Jahre Vorlesungen zum Thema, dann machte er sich an die Nieder­schrift des Buches. Die einseitige Wahrnehmung des Na­hostkon­flikts in den USA, die ihn beim Sech­stagekrieg 1967 entsetzt hatte, befeuerte das Buchprojekt zusätzlich. 1974, als die Palästi­nen­sis­che Be­freiung­sor­gan­i­sa­tion (PLO) einen offiziellen Beobachter­sta­tus in der UN-Vol­lver­samm­lung erhielt, lernte Said deren Präsidenten Jassir Arafat kennen; 1977 wurde er selbst Mitglied im Palästi­nen­sis­chen Nationalrat, dem Leg­isla­tivkomi­tee der PLO. Parallel dazu beendete er die Arbeit an Ori­en­tal­is­mus. Das Werk hatte er vor allem während eines Gas­taufen­thalts an der kali­for­nischen Stanford University 1975/76 niedergeschrieben.

Wirkungs­geschichte

Das Buch wurde schon bald nach seiner Veröffentlichung 1978 zu einem durch­schla­gen­dem Erfolg. Es bedeutete einen tiefen Einschnitt für die westlichen Ori­entstu­dien und sorgte dafür, dass die Berufs­beze­ich­nung „Orientalist“ mit der Zeit nicht mehr neutral benutzt werden konnte: Sie hatte sich durch Saids kritische Be­stand­sauf­nahme in einen abwertenden Begriff verwandelt. Ori­en­tal­is­mus erntete Ruhm weit über sein akademis­ches Feld hinaus. Saids Entlarvung des kolo­nial­is­tis­chen Blicks mithilfe der diskur­s­an­a­lytis­chen Methode machte Schule. Sein Werk führte zur Gründung eines neuen Forschungs­feldes, der postkolo­nialen Studien.

Innerhalb der Ori­en­tal­is­tik besetzten Anhänger von Saids Thesen nach und nach wichtige Positionen. Der Autor selbst wurde durch sein Buch zu einer öffentlichen Figur, galt umgehend als das in­tellek­tuelle Sprachrohr der Palästinenser in den USA und als her­aus­ra­gende Kapazität im Hinblick auf arabische und islamische Fragen.

Zugleich war sein Buch von Anfang an scharfer Kritik ausgesetzt. Zunächst kam sie aus kon­ser­v­a­tiven Kreisen der Ori­en­tal­is­tik, die eine derart radikale Umwertung ihrer Disziplin nicht hinnehmen wollten. Mit der Zeit verstärkte sich eine grundsätzlichere und besser begründete Kritik. Ins­beson­dere Saids sehr selektive Quellenlektüre hat eine Reihe akademis­cher Gegen­stu­dien provoziert, die den Nachruhm des Buches deutlich geschmälert haben. Der Rang von Ori­en­tal­is­mus als klassischem Text des Postkolo­nial­is­mus ist aber unbe­strit­ten.

Über den Autor

Edward Said wird am 1. November 1935 in Jerusalem geboren. Sein Vater ist ein palästi­nen­sis­cher Geschäftsmann mit US-Pass, seine Mutter eine Hal­blibanesin, beide sind Christen. Said wächst zunächst zwischen Jerusalem und Kairo auf, bis die Familie 1947 endgültig nach Kairo zieht. 1951 muss er die Schule als Störenfried verlassen und wird zur weiteren Ausbildung in die USA geschickt. Er studiert an den Eli­te­u­ni­ver­sitäten Princeton und Harvard und wird 1963 Professor für Englische und Ver­gle­ichende Lit­er­atur­wis­senschaft an New Yorks Columbia University – eine Position, die er bis zu seinem Tod innehat. Mit seinem Buch Orientalism (Ori­en­tal­is­mus) begründet er 1978 seinen akademis­chen Ruhm. Ein Jahr zuvor ist er als unabhängiges Mitglied in den Nationalrat der Palästi­nen­sis­chen Be­freiung­sor­gan­i­sa­tion (PLO) eingetreten. Fortan gilt Said als her­aus­ra­gen­der in­tellek­tueller Vertreter palästi­nen­sis­cher Interessen in den USA. Er veröffentlicht sowohl Bücher zur Na­host­poli­tik als auch lit­er­atur­wis­senschaftliche und musik­the­o­retis­che Werke und publiziert regelmäßig in wichtigen in­ter­na­tionalen Zeitschriften. Said ist außerdem ein beachtlicher Pianist. 1999 gründet er zusammen mit dem Dirigenten Daniel Barenboim das West-East­ern Divan Orchestra, in dem Juden und Palästinenser gemeinsam musizieren. 1991 verlässt er den Palästi­nen­sis­chen Nationalrat wieder. Mit PLO-Führer Jassir Arafat überwirft er sich wegen un­ter­schiedlicher Auf­fas­sun­gen zum Frieden­sprozess. Im Jahr 2000 wird er fo­tografiert, als er während einer Protestkundge­bung im Südlibanon einen Stein gegen israelische Gren­zan­la­gen schleudert. Said gerät deswegen in die Kritik. Im September 2003 stirbt er in New York an Leukämie.