Fehlende Skepsis
Manchmal sind Marketingleute wie die Lemminge: Sie folgen blind den Trends der Branche und vergessen, ihr eigenes Gehirn einzuschalten. Das ist gefährlich, denn allzu schnell schleichen sich Glaubenssätze und Rituale ein, deren Nutzwert kaum hinterfragt wird. Glaubenssätze basieren auf Erfahrungen, werden aber irgendwann einfach geglaubt, ohne dass sie erneut auf den Prüfstand gestellt werden. Rituale bauen auf Glaubenssätzen auf und werden immer weitergeführt, optimiert und verbessert, ohne dass sie als Ganzes überdacht werden. Beides verbaut den klaren Blick auf die Wirklichkeit. Wenn man einige der bekanntesten Expertenmeinungen und Marketingweisheiten kritisch hinterfragt, stellt sich schnell heraus, dass nicht alles in der Marketingwelt so ist, wie wir es seit Jahren und Jahrzehnten annehmen.
Horizonterweiterung
Trendapostel gibt es viele. Aber die ständige Hetzjagd nach dem neuesten Trend ist schädlich für viele Innovationen. Die meisten Manager wollen sofort „schlüsselfertige“ Lösungen, die sie unmittelbar nutzen können. Deshalb begnügen sie sich mit 60 %-Lösungen, und bevor die neuen Produkte und Ideen richtig ausgereift sind, kommen schon die nächsten dran. Das ist im Marketing nicht anders. Investieren Sie in Innovationen, aber lassen Sie den Lösungen Zeit zu reifen!
„Manche Erklärungen im Marketing sind nicht nur ziemlich falsch, sie wirken sich gleichzeitig schlecht aus.“
Im Unternehmen bilden Technikabteilung und Marketingabteilung zwei Pole. Am einen Pol wird an Produktspezifikationen gedacht und eine technikzentrierte Sichtweise gepflegt, am anderen geht es um Nutzenversprechen, Kundenorientierung und Markttauglichkeit. Beide Pole müssen zusammenwachsen, denn weder selbstverliebtes Technikgeschwurbel noch der aalglatte Marketingslang können alleine bestehen.
„Technik und Marketing betrachten das Gleiche aus unterschiedlicher Perspektive.“
Betreiben Sie Benchmarking? Gut so, aber machen Sie bitte nicht den Fehler, Ihr Wettbewerbsumfeld zu klein zu definieren. Wenn Sie immer nur reaktiv das machen, was andere auch tun, werden Sie keine Innovationen schaffen. Orientieren Sie sich lieber an den Kunden und schielen Sie über den Tellerrand: Vielleicht hat ein Unternehmen, das nicht zu Ihren Wettbewerbern gehört, gerade die Lösung gefunden, die Ihren Kunden noch fehlt. Der Kunde ist König: Beteiligen Sie ihn an Produktentwicklungen, wie es in der Open-Source-Gemeinde bei Softwareprodukten der Fall ist. Das Minimum ist, dass Sie Ihre Kunden regelmäßig befragen.
Kunden ernst nehmen
Nehmen wir an, ein bestimmter Aktienfonds notiert leicht über dem Index. Was macht die Bank? Klar, sie lässt ihre Marketingabteilung aus allen Rohren feuern und posaunt es in die Welt hinaus. Und was macht sie, wenn die Kurse vollkommen abgestürzt sind? Normalerweise nichts. Der Kunde soll stillhalten. Und nun will man sich allen Ernstes einreden, dass dieser Kunde zum Unternehmen dazugehört wie Buchhaltung oder Personalabteilung? Allzu oft streicht das Marketing die Vorteile heraus und kehrt die Nachteile elegant unter den Teppich. Die Kunden fühlen sich laufend getäuscht und haben damit meist auch Recht. Wenn der Kunde wirklich König wäre, wie immer wieder betont wird, würde die Bank ihn gerade dann aktiv beraten, wenn die Kurse sinken. Vielleicht gibt es ja ein besseres Angebot für ihn, das die Verluste kompensiert?
Den Kaufstau lösen
Überdenken Sie die Zumutbarkeit Ihres Marketings. Wollen Sie die Nachteile für die Kunden wirklich weiterhin wegreden, oder lässt sich auch ehrlich und vielleicht humorvoll damit umgehen? So hat es IKEA gemacht und bewusst mit den Unwägbarkeiten des Eigentransports und dem Selbstaufbau der Möbel geworben, um den günstigen Preis zu rechtfertigen. Es ist ein himmelweiter Unterschied, ob der Hersteller sagt: „Sie als Kunde müssen ein wenig mitarbeiten, dafür bekommen Sie die Möbel zum unschlagbaren Preis“ – oder ob er den Preis hochjubelt und die Nachteile verschweigt. Der Kunde fühlt sich ernst genommen, wenn er selbst entscheiden kann, ob er die Nachteile in Kauf nehmen will oder lieber für den besseren Service etwas drauflegt.
„Wer neue Märkte öffnen will, sollte sich nicht an der Konkurrenz ausrichten, sondern neue Lösungen für Kunden entwickeln.“
Viele Kunden haben einen regelrechten „Kaufstau“: neue Möbel, die geplante Reise, neue Garderobe. Nur: Sie kaufen nicht. Das liegt oft daran, dass sie sich nicht entscheiden können. Der Nichtkauf lässt ihnen alle Optionen offen. Hier muss kaufauslösendes Marketing ansetzen, z. B. mit Gratisangeboten oder „Jetzt kaufen, später zahlen“-Lösungen. Auch die Strategie von Druckerherstellern – der Drucker ist billig, das Verbrauchsmaterial teuer – kann die Reizschwelle zum Kauf herabsetzen.
Inbound statt Outbound
Marketing versucht permanent, die passiven Kunden unter Druck zu setzen. Diese aggressive Haltung schädigt das Geschäft. Die Kunden werden noch passiver und merken sich die Hersteller mit der penetrantesten Werbung als inakzeptable Anbieter. Nutzen Sie die Chance zu mehr Inboundmarketing. Nicht Sie sollten den Kunden auf den Wecker gehen, sondern die Kunden sollten sich bei Ihnen melden. Das schließt Beschwerden mit ein, denn gerade im Reklamationsmanagement haben viele Unternehmen ihre Hausaufgaben noch nicht gemacht. Jeder Kunde, der freiwillig mit dem Unternehmen Kontakt aufnimmt, sollte besonders geschätzt und geehrt werden. Stattdessen wird er oft in die Warteschlangenhölle der Callcenter geschickt. Haben auch Sie Ihre Kunden in A-, B-, und C-Kunden aufgeteilt? Die A- oder Großkunden sind für das Volumen wichtig, die C-Kunden für die besseren Margen. Viele C-Kunden muss man aber wie A-Kunden behandeln, sonst wandern sie ab. Deshalb sollten Sie sich überlegen, spezialisierte Ansprechpartner für jede Kundengruppe einzuführen.
Marketingchancen erkennen
Die Instrumente im Marketing wachsen und wuchern ungezügelt. Fokussieren Sie! Sie müssen nicht jede angebliche Marketinginnovation für sich nutzen. Sonst verhalten Sie sich wie eine Fußballmannschaft, die keine Tore schießt und deshalb den Sieger im Schwimmen rekrutiert. Was fehlt, sind nachhaltige und geschlossene Marketingsysteme, die zusammenfügen, was zusammengehört.
„Der Kunde wird bedrängt, belästigt, von Marken angeschrien.“
Wann sind Sie besonders innovationsfreudig? Wahrscheinlich in der Krise, denn so geht es auch dem Rest der Wirtschaftsunternehmen. Wenn das Wasser bis zum Hals steht, lernen viele Geschäftsführer das Fliegen. Welche Unternehmen sind für den Wettbewerb am gefährlichsten? Die jungen, neuen, die Start-ups. Diese stehen einer gewaltigen Kraftanstrengung gegenüber und müssen den etablierten Markt bezwingen. Entsprechend modern und einfallsreich, kreativ und unkonventionell machen sie Marketing. Lernen Sie von ihnen! Wer glaubt, dass vor allem die großen Konzerne wirklich gutes Marketing machen, täuscht sich. Gerade die vielen Mittelständler sind gut darin, die richtigen Kundensegmente anzusprechen. Da wird kein Millionenbudget verbrannt, sondern es werden ganz gezielt Klein- und Kleinstaktionen mit überzeugendem Ergebnis lanciert. Marketing mit Augenmaß.
Moderierendes Marketing
Viele Strategen drängen fortdauernd darauf, dass ihre Unternehmen die Produktpalette erweitern, diversifizieren und neue Lösungen anbieten. Manchmal geht das aber am Bedarf vorbei. Dann wird nicht mehr nach einer Lösung für ein Problem gesucht, sondern Lösungen suchen ein Problem. Vereinfachen und entschlacken Sie, wo immer Sie können. Setzen Sie auf Vielfalt, aber innerhalb Ihres Kernbereichs. Es ist nur wichtig, dass Sie den richtigen Fokus finden und alles Unnütze weglassen.
„Viele Merkmale, die mit Millionenbudgets propagiert werden, nimmt der Kunde entweder gar nicht wahr oder hält sie für unerheblich.“
Apropos Fokus: Alle reden von der Individualisierung und vom Wegbrechen des Volumengeschäfts. Doch individuelles Marketing findet in den seltensten Fällen wirklich statt – obgleich ständig davon gesprochen wird. Das führt zu der Vermutung, dass das Massengeschäft immer noch funktioniert und noch lange nicht out ist. Statt der Individualisierung mit halbherzigen Lösungen nachzulaufen, sollten sich Unternehmen viel mehr um Standardisierung und Modularisierung kümmern. Das ist derzeit noch die bessere Wahl.
„Wo Ideen fehlen, wuchern die Konzepte.“
Wie steht es um die permanente Forderung nach Einzigartigkeit? Tatsache ist, dass die meisten Marketingfachleute nach Schema F vorgehen. Sie glauben, Erwartungshaltungen bedienen zu müssen. Eine Bank, die anders als alle anderen Banken ist, wird nicht mehr als Bank akzeptiert. Herausfallen aus der Masse: Diese Forderung können eigentlich nur Topmarken wie Coca-Cola oder Nike erfüllen, weil sie nicht erklärungsbedürftig sind. Mittlere und kleine Marken sollten versuchen, „moderierendes Marketing“ einzusetzen. Soll heißen: Keine Einzigartigkeit propagieren, sondern im Konzert der Marken eine solide Rolle einnehmen und „den Markt moderieren“.
Echte Emotionen und Transparenz
Es wird viel darüber geschrieben, wie der Kaufprozess von Kunden abläuft und wie man ihn begleiten kann. Vieles davon ist zu oberflächlich. Es gibt nicht nur eine Phase vor dem Kauf, sondern viele kleine Etappen, die auf den Kauf zulaufen. Hier muss die Marktforschung unbedingt aktiver werden, damit diese Etappen wirkungsvoll begleitet werden können. Werbung soll Emotionen wecken – klar, das ist landläufig bekannt. Aber leider wird Marketing häufig zu einer sterilen und unwirklichen Kitschkulisse aufgeblasen, die kein Kunde mehr wahrnimmt. Deshalb gilt: Weg von künstlicher Emotionalität, hin zu echten Emotionen, die das Produkt weckt. Das Produkt steht im Mittelpunkt. Basta.
„Below-the-line-Marketing entspricht der Philosophie des Bottom-up-Marketing.“
Ist Marketing transparent? Das sollte so sein, aber durch die immer verzweigteren Lösungen vieler Unternehmen bewegt es sich oft im Nebel. Zu viele Angebote, zu viele Tarife, zu viele Wahlmöglichkeiten. Transparenz und Einfachheit tun not. Der Telekommunikationsanbieter Orange rechnet mit seinen Kunden automatisch den günstigsten Tarif ab. Da gibt es keine Qual der Wahl mehr, entsprechend zufrieden sind die Kunden.
Bottom-up statt top-down
Gute Einfälle zählen in der Praxis mehr als formale Konzepte. Wichtig: Jeder Marketingplan sollte verbindlich sein, damit alle Beteiligten ihn nicht als nebulöses Wolkengebilde auffassen und innerlich ablehnen können. Innerhalb des Unternehmens sind die Marketingleute meist die Frohnaturen vom Dienst. Vor allem am Anfang des Jahres, wenn das Budget noch erreichbar scheint, drücken sie heftig aufs Gas. Doch spätestens wenn im zweiten Quartal die Ist-Zahlen nicht so schwarz sind wie die Soll-Zahlen, treten ihre natürlichen Antagonisten auf den Plan: die Controller. Das Zerren der beiden Kräfte ist normal. Je nach wirtschaftlicher Lage behält einmal die eine, dann die andere die Oberhand.
„Wir brauchen wieder mehr Generalisten mit ‚Kraft und Saft‘ im Marketing, sonst werden die Unternehmen handlungsunfähig.“
Marketing wird gerne top-down vorgegeben, doch diese Strategie funktioniert selten. Besser ist es, auf die Kräfte zu vertrauen, die direkt am Markt arbeiten, also Bottom-up-Marketing zu betreiben. Noch mehr Gewicht als bisher wird zukünftig die Below-the-line-Kommunikation erhalten. Was „unterhalb“ der Standard-Marketingwerkzeuge (Plakate, Inserate, TV-Spots usw.) angewendet wird, also z. B. Direktmarketing, Events oder Kundenschulungen, ist oft effizienter und flexibler, es lässt sich besser von unten nach oben planen. Zum Schluss eine wichtige Erkenntnis: Im Marketing braucht es wieder mehr Generalisten! Die Themen und Fragestellungen haben sich in den letzten Jahren so dramatisch vervielfacht, dass man jetzt Leute braucht, die den Überblick behalten.