Krise als Chance
Die Zeiten des sorglosen Wirtschaftens sind spätestens seit dem Überschwappen der US-Immobilienkrise auf den Weltmarkt vorbei. Unternehmen aller Größen müssen sich nicht zuletzt auch wegen der weiterhin zunehmenden Internationalisierung darauf einstellen, dass Krisen und die damit verbundenen Gefahren künftig zu ihrem Alltag gehören. Eine verantwortungsbewusste Geschäftsführung ist daher verpflichtet, dem Aufdecken von Risiken höchste Priorität einzuräumen. In der Realität wird jedoch genau dies vernachlässigt. Maßnahmen werden erst ergriffen, wenn die Ertragssituation der Firma bereits bedrohlich ist.
„Die Bewältigung von Unternehmenskrisen nimmt eine unangefochten hohe Bedeutung ein.“
Oft fällt den Entscheidern dann nichts weiter ein als kurzsichtige, radikale Einschnitte vor allem in den Personalbestand oder eine Standortverlagerung. Diese Aktionen mögen zwar die finanzielle Situation auf die Schnelle verbessern, den langfristigen Bestand des Unternehmens sichern sie jedoch nicht. Denn beide Maßnahmen ziehen unter dem Strich meist weniger Vorteile als Probleme nach sich, z. B. Streitereien vor dem Arbeitsgericht oder Produktivitätsnachteile. Darüber hinaus verstellen sie den Blick für das größte Kostensenkungspotenzial in Unternehmen: die Materialaufwendungen, die rund zwei Drittel aller Aufwendungen ausmachen. Krisen sind jedoch allein schon von der Wortbedeutung her keine Situationen, in denen es ausreicht, einfach ein paar Lücken zu stopfen. Das Wort „Krise“ bedeutet in seinem griechischen Ursprung „Wendepunkt“. Bezogen auf Unternehmen beschreibt eine Krise eine aktuelle wirtschaftliche Bedrohung etwa durch finanzielle Engpässe und fordert zu einer Neuausrichtung der Unternehmensstrategie auf. Nur so ergeben sich durch Krisen ganz neue Marktchancen.
Die Risiken der Unternehmensführung
Das Aufdecken von Gefahren dient zuallererst dazu, die künftige wirtschaftliche Entwicklung so aussagekräftig wie möglich einschätzen zu können. Auf diese Weise sollen die Unsicherheiten von Planung und Projektumsetzung reduziert und Handlungsoptionen für eventuelle Fehlentwicklungen frühzeitig entwickelt werden. Aus rechtlicher Sicht steckt ein Unternehmen dann in der Krise, wenn unmittelbar Zahlungsunfähigkeit, also Insolvenz, droht. Wirtschaftlich beginnt die Gefahrenzone allerdings schon viel früher. Dabei werden drei Krisen unterschieden, die oft fließend ineinander übergehen: die strategische Krise, die Ertragskrise und die Liquiditätskrise.
- In der strategischen Krise schreibt das Unternehmen zwar noch schwarze Zahlen. Aber die Marktanteile sinken, ebenso die Auftragsbestände und schließlich die Umsätze.
- In der Ertragskrise werden die Wettbewerbsnachteile auch in der Bilanz als Verluste sichtbar. Zudem werden mehr Kredite aufgenommen, in der Absicht Zahlungsverpflichtungen weiterhin erfüllen zu können, und es kann zur Abwanderung wichtiger Fachkräfte kommen.
- Ohne geeignete Gegenmaßnahmen mündet diese Entwicklung schließlich in die Liquiditätskrise, in der dem Unternehmen zunehmend Geld fehlt, um seine laufenden Rechnungen und Zinsen zu bezahlen.
„Aufgrund restriktiver arbeits- und betriebsverfassungsrechtlicher Vorschriften ist Personalabbau mit hohen Gegenaufwendungen (Gerichtskosten, Abfindungen) verbunden und verursacht zudem soziale Unruhen und Produktivitätsnachteile bei den Unternehmen.“
Die Gründe für diese wirtschaftliche Abwärtsspirale sind vielfältig. Einerseits sind sie oft auf Managementfehlentscheidungen zurückzuführen, etwa bei der Finanzierung von Projekten, bei der Wahl von geeigneten Märkten oder bei der Einführung eines Controllings als Frühwarnsystem. Andererseits können äußere Faktoren wie Preisverfall, Marktsättigung oder sich verändernde Kundenpräferenzen ein Unternehmen leicht in die Krise stürzen.
Erfolgreiches Risikomanagement
Da die Materialaufwendungen das höchste Kostensenkungspotenzial in Krisenzeiten bieten, fällt dem Einkauf bei der frühzeitigen Erkennung von Gefahren die größte Bedeutung zu. Diese Abteilung ist nahe an Kunden und Märkten dran, daher ist sie besonders geeignet, Risiken frühzeitig zu erkennen.
„Im Allgemeinen ist ,Risiko‘ ein Maß für die Unsicherheit des Eintritts von Prognosen und Planungen.“
Auf solche hindeuten können z. B. höhere Preise für Rohstoffe, Probleme bei Lieferanten oder fehlerhafte Zulieferprodukte. Der Einkauf kann und muss rasch handeln, wenn Gefahr im Verzug ist. Wie wichtig eine schnelle Reaktionsfähigkeit ist, zeigt das Beispiel eines Brandes im amerikanischen Philips-Halbleiterwerk: Während der eine Kunde (Nokia) sofort Kontakt zu dem Chiphersteller aufnahm und gemeinsam mit ihm die Produktion der wichtigen Lieferteile für den Mobilfunk an einen anderen Ort verlagerte, rührte sich der andere Kunde (Ericsson) nicht und verlor rund 400 Millionen US-Dollar.
„Der Einkauf von Kernmaterialien bei Kern- oder strategischen Lieferanten steht im Zeichen der Normstrategie ,Marktpotenzial nutzen, dann partnerschaftliche Zusammenarbeit‘.“
Obwohl ein verantwortungsvolles Risikomanagement vom Gesetz zur Kontrolle und Transparenz im Unternehmensbereich (KonTraG) sowie von den Bilanzrichtlinien vorgeschrieben ist, verzichten noch immer viele Unternehmen auf die Institutionalisierung einer frühzeitigen Gefahrenerkennung. Dabei ließe sich dieser Prozess mit wenig Aufwand in die bestehenden Abläufe integrieren.
„Parallel zur Erstellung des Maßnahmenplans im Einkauf gilt es, ein schlagkräftiges Projektteam mit klar abgegrenzten Rollen und Aufgaben einzurichten.“
Ein erfolgreiches Risikomanagement im Einkauf beginnt mit einer umfassenden Gefahrenanalyse. Risiken identifizieren Sie anhand von Planungen, einem umfassenden Controlling, Umfragen oder Workshops. Dann klassifizieren Sie die einzelnen Bedrohungspotenziale hinsichtlich ihrer Eintrittswahrscheinlichkeit und ihrer möglichen Auswirkungen. Zudem fassen Sie die einzelnen Gefahren zusammen, um das Gesamtrisiko zu ermitteln. Anschließend müssen Sie mögliche Ursachen für Lieferausfälle und dergleichen bestimmen, um geeignete Gegenmaßnahmen zu entwickeln. Diese können sich auf drei Ziele beziehen: die Risikovermeidung, die Verringerung der Eintrittswahrscheinlichkeit eines Risikos oder die Übertragung einer Gefahr auf Geschäftspartner. Damit dieser Prozess langfristig seine volle Wirkung entfalten kann, müssen Sie vorher die Verantwortlichkeiten genau festlegen, eine umfassende Dokumentation etablieren und ein Überwachungssystem einrichten.
Präventionsmaßnahmen des Einkaufs
Ein wichtiger Bestandteil des Risikomanagements sind vorbeugende Maßnahmen, mit denen substanzielle Bedrohungen wie Produktionsausfälle schon im Keim erstickt werden. Ein kritischer Punkt für jedes Unternehmen ist die Abhängigkeit von Lieferanten. Um Engpässe zu vermeiden, sollten Firmen sich nie auf nur einen oder zwei Zulieferer verlassen, sondern die Aufträge breit streuen. In Fällen, in denen dies etwa aufgrund hoher Qualitätsansprüche nicht möglich ist, sollten die Einkaufsmanager die finanzielle Situation des Lieferanten immer genau im Blick haben. Als geeignete Kennzahlen stehen dabei u. a. die Eigenkapitalquote und die Schuldentilgungsdauer zur Verfügung. Droht einem Unternehmen trotz aller Prävention dennoch ein Engpass, weil ein wichtiger Geschäftspartner insolvent zu werden droht, lässt sich die Krise evtl. durch eine Beteiligung am Lieferanten oder eine Kreditgewährung an ihn verhindern. Weitere präventive Maßnahmen sind ein ständiger intensiver Qualitätscheck (Ziel: Vermeidung von Reklamationen), eine an Sicherheit und Nähe orientierte Auswahl von Zulieferern, Lagerstätten und Transportwegen (Ziel: Sicherung des Materialflusses) oder Finanzinstrumente wie Futures und Swaps (Ziel: Sicherung stabiler Rohstoffpreise).
Handlungsoptionen des Einkaufs in der strategischen Krise
Tritt eine der genannten drei wirtschaftlichen Hauptkrisen tatsächlich ein, steht dem Einkauf ein ganzer Maßnahmenkatalog zur Verfügung, um Bedrohungen abzuwenden oder wenigstens zu verringern. Im Fall einer strategischen Krise gilt es die Einkaufspolitik neu und vor allem einheitlich zu strukturieren. Ausgangspunkt ist eine Veränderung der Materialbeschaffung. Dabei müssen die Einkaufsmanager entscheiden, ob die einzelnen Teile von einem oder mehreren Lieferanten bezogen, die Materialien standardisiert, durch vergleichbare ersetzt oder selbst gefertigt werden sollen. Wesentlich für diese Entscheidungen ist die Frage, welche Materialien und Lieferanten eine hohe und welche eine niedrige Bedeutung für die Gesamtfertigung haben. Auf dieser Basis können die Einkaufsexperten schließlich festlegen, wie die Teile angeliefert werden: Sollen sie nach Bedarf in der Produktion eintreffen oder zur Sicherheit im Lager jederzeit bereitstehen? Weitere Handlungsoptionen sind die stärkere Einbindung der Lieferanten in die hauseigene Fertigung und Entwicklung, die Auslagerung bestimmter Arbeitsschritte und die mit den Geschäftspartnern abgestimmte Ausrichtung der Produktion an den Kundenbedürfnissen. Als gutes Beispiel für die Kostenoptimierung durch eine enge Zusammenarbeit mit Lieferanten dient der VW-Konzern: Dort feilen die hauseigenen Mitarbeiter in speziellen Klausuren zusammen mit 38 Zulieferern an sparsameren Lösungen in der Materialbeschaffung und der Produktentwicklung.
Handlungsoptionen des Einkaufs in der Ertragskrise
In der Ertragskrise steht die Verbesserung der finanziellen Situation im Vordergrund. Eine der wichtigsten Aufgaben des Einkaufs ist in dieser Lage deshalb die intensive Preisverhandlung mit den Lieferanten. Hierbei gilt es die wesentlichen Argumente für Preissenkungen deutlich herauszustreichen. Als nächste Maßnahme stehen Gespräche mit den Kreditversicherern über günstigere Konditionen und damit eine verbesserte Liquidität auf dem Plan. Verhandlungsgegenstand kann z. B. die Höhe der Lieferantenforderungen sein, die abgesichert werden können.
„Entscheidend für den Erfolg einer Restrukturierung ist die Analyse der strategischen und operativen Krisenursachen und eine realistische Einschätzung über den verbleibenden Handlungsspielraum.“
Eine weitere wichtige Handlungsoption in der Ertragskrise ist die weltweite Ausrichtung der Beschaffung. Allerdings sind damit auch neue Risiken verbunden, etwa das Wechselkursrisiko oder unsichere rechtliche und politische Rahmenbedingungen. Eine Alternative zur Globalisierung der Lieferantenwahl sind Einkaufskooperationen, wie sie etwa die beiden Autohersteller BMW und Daimler praktizieren. Durch die so erzielten Mengenrabatte für Bauteile wie Klimaanlagemotoren oder Gurtlaufroller sparten die beiden Unternehmen allein im ersten Jahr der Zusammenarbeit rund 350 Millionen Euro ein. Als letzte Maßnahme in der Ertragskrise bleibt der Personalabbau. In dieser Situation oft unumgänglich, birgt er jedoch aufgrund vieler rechtlicher Hürden große Kostenrisiken.
Handlungsoptionen des Einkaufs in der Liquiditätskrise
Mit zunehmender Schwere einer wirtschaftlichen Krise nehmen die Handlungsmöglichkeiten ab. Droht aufgrund von Liquiditätsengpässen die Insolvenz, ist ein Unternehmen zunehmend auf externe Unterstützung angewiesen. Die wichtigste Maßnahme in diesem Fall ist der außergerichtliche Vergleich. Ziel dieser Sanierungsmaßnahme ist der Verzicht der Gläubiger auf ihre Ansprüche. Der Einkauf verfügt allerdings noch über weitere Handlungsoptionen, um kurzfristig die Zahlungsfähigkeit des Betriebs zu sichern. Dazu zählt z. B. das Einfordern von Unterstützung seitens der Lieferanten. Diese kann vom völligen Forderungsverzicht oder der Stundung über den Rücktritt in der Gläubigerrangfolge bis zur Umwandlung von Lieferantenansprüchen in Eigenkapital reichen. Weitere Maßnahmen des Einkaufs sind Verhandlungen mit den Geschäftspartnern über die Gewährung von Lieferantenkrediten, die Senkung der Materialbestände oder der Verkauf von Vermögensgegenständen.
Kriterien für ein erfolgreiches Krisenmanagement
Trotz der zahlreichen Möglichkeiten, die den Unternehmen zur Bewältigung von Gefahrensituationen zur Verfügung stehen, entscheiden über den Erfolg einer Neuausrichtung oder Restrukturierung letztlich psychologische Aspekte. Dazu gehören der Mut zum schnellen Handeln und die Fähigkeit zur Entwicklung eines geeigneten Konzepts gegen die Krise. Ferner muss die Bereitschaft zum Wechsel des Führungspersonals bestehen und die Verantwortlichkeiten für das Sanierungsprojekt müssen klar definiert werden. Darüber hinaus muss dafür gesorgt werden, dass der Umfang der Krisen allen Beteiligten offengelegt wird. Alle Mitarbeiter müssen die Notwendigkeit der Umsetzung auch unliebsamer Maßnahmen verstehen.