Ökonomische Entscheidungen aus dem Bauch heraus
Der Mensch kann zwar logisch denken und rechnen. Wird eine Aufgabe aber zu komplex, riskant oder unsicher, ist es vorbei mit der Vernunft. Viele Menschen machen sich darüber keine Gedanken, sie suchen auch nicht nach besseren, fundierteren Lösungen. Sie trainieren ihre Muskeln, nicht aber ihre Hirnwindungen. Dabei könnte sich diese Arbeit lohnen: Gerade ökonomische und finanzielle Entscheidungen sollten Sie stärker als bisher hinterfragen. Viele davon werden leichtsinnig getroffen – und später bereut. Wenn Sie wissen, wie Ihr Gehirn in Geldfragen tickt, werden Sie lernen, Ihre Entscheidungen distanzierter zu betrachten. Abnehmen kann Ihnen diese Aufgabe ohnehin niemand.
Fehler werden wiederholt
Einer der Gründe, weshalb dreiste Anlagebetrüger wie Bernard Madoff Erfolg haben und weshalb viele Menschen auf Börsenblasen hereinfallen, ist schlicht und einfach das Vergessen. Madoffs Masche – ein Pyramidensystem der Geldzu- und -abflüsse plus manipulierende Beziehungspflege – war nicht neu. Ebenso wenig ist die aktuelle Finanzkrise die erste ihrer Art. Von psychologischen Mechanismen wie der Gier getrieben, gehen Anleger seit jeher in bestimmte Fallen, sei es auf der Jagd nach Tulpenzwiebeln, Eisenbahnaktien oder Dotcom-Unternehmen. Sie lernen nicht aus der Vergangenheit, vertrauen zu sehr auf die Aufsicht staatlicher Institutionen und scheitern an der Komplexität der Finanzprodukte. Bei Geld hört die Vernunft auf. Und die Psychologie fängt an.
Von der Börsenpsychologie zur Neuroökonomie
Im Zuge der Industrialisierung geriet das ökonomische Verhalten der Menschen ins Blickfeld von Sozialwissenschaftlern und Psychologen. Sie untersuchten Phänomene wie die Anfälligkeit der Anleger für Gerüchte. Aus diesen Forschungen entwickelte sich schließlich die wissenschaftliche Disziplin der Finanzpsychologie, später folgte die Behavioral Finance. Deren Vertreter untersuchen mithilfe von Experimenten z. B. die so genannte Geldillusion. Das ist die Unfähigkeit der Menschen, konsequent zwischen nominalem und realem Wert des Geldes zu unterscheiden. Denken Sie auch in Zahlen statt in Werten? Das könnte zum Problem werden, etwa bei Lohnerhöhungen, Zinsversprechen oder Preisen, die günstig erscheinen, aber tatsächlich unvorteilhaft sind. Dass uns die absolute Einkommenshöhe weniger interessiert als die relative, lässt sich nur psychologisch erklären: Verdient der Nachbar mehr, dann wurmt uns das, selbst wenn wir genug zum Leben haben.
„Das menschliche Gehirn ist ein soziales Organ, aber kein ökonomisches.“
Die Neuroökonomie macht sich solche finanzpsychologischen Erkenntnisse zunutze und verknüpft sie mit dem aktuellen Wissen über die Funktionsweise des Gehirns. Die relativ junge Wissenschaft sucht nach neuronalen Erklärungen für die Entscheidungen der Menschen in ökonomischen Fragen. Der Teilbereich Neurofinance widmet sich speziell dem Kalkül und der Risikowahrnehmung von Investoren. Grundlage des neuen Wissenschaftszweigs sind die Fortschritte in der Hirnforschung, auch wenn diese von vielen überschätzt werden. Obwohl derzeit mehr als 50 000 Forscher weltweit der Funktionsweise des Gehirns auf den Grund gehen, hat man erst einen Bruchteil der Abläufe begriffen.
Ade, Homo oeconomicus!
Die Neuroökonomie trägt dazu bei, dass das Modell des Homo oeconomicus, also des sowohl vollständig rationalen als auch vollständig informierten Marktteilnehmers, der Realität angepasst werden muss. Dazu hat die neue Wissenschaft das Konzept der eingeschränkten Rationalität entworfen, das nicht mehr von der Suche nach der perfekten, sondern lediglich von derjenigen nach einer zufriedenstellenden Lösung ausgeht und das Modell des Homo oeconomicus um irrationale Komponenten erweitert. So geraten Phänomene ins Blickfeld, die finanzielle Entscheidungen auf emotionaler Ebene beeinflussen. Den Abschluss eines riskanten Aktiengeschäfts z. B. können Sie durchaus aus einem Motiv heraus tätigen, das mit der Fahrt in einer Geisterbahn oder dem Anschauen eines Horrorfilms vergleichbar ist: Die so genannte Angstlust sorgt für befriedigenden Kitzel.
Der Mensch denkt, aber das Unbewusste lenkt
Bei finanziellen Entscheidungen spielen vier Systeme des Gehirns eine Rolle: die Systeme der Belohnung, der Emotion, der Entscheidung und des Gedächtnisses. Mehr als 99 % Ihrer Entscheidungen treffen Sie unbewusst. Das heißt, dass Ihnen auch die meisten Ihrer Emotionen nicht bewusst sind. Das Lernen findet seinen Niederschlag im Hirn, indem neue Verbindungen (Synapsen) und sogar neue Nervenzellen gebildet werden – auch bei Erwachsenen. Am besten funktioniert dieses Lernen, wenn es mit Erfolgen, folglich mit Belohnungen verbunden ist. Allerdings gilt für finanzielle Entscheidungen eine wichtige Einschränkung: Geldangelegenheiten wie Kaufen oder Verkaufen lösen im Gehirn sehr komplexe Prozesse aus, die nicht mit anderen vergleichbar sind. Der Umgang mit Geld lässt sich daher schwieriger erlernen als beispielsweise das Lösen einer handwerklichen Aufgabe.
Onlinehandel ändert die Verhaltensanreize
Es macht einen großen Unterschied, ob ein Fondsmanager durch einen Klick am PC Tausende Arbeitsplätze vernichtet oder ob er dies dadurch erreicht, dass er persönlich in der Fabrik ein Feuer legt. Das zugespitzt formulierte Beispiel soll den Einfluss von persönlichem Engagement und Gefühlen demonstrieren. Der Siegeszug der Onlinekommunikation und des Onlinehandels hat durch den Mangel an persönlichen Beziehungen zwischen Finanzmarktteilnehmern einige psychologische Schranken gelöst, die vorher vor allzu riskanten und falschen Entscheidungen zumindest gebremst haben. Ebenso haben sich die Gewissensbisse bei Fehlentscheidungen durch die fehlende persönliche Einbindung verringert. Eine solche Kluft lässt sich auch im Vergleich zwischen Einkäufen mit Kreditkarte und jenen mit Bargeld beobachten: Wer mit der Unterschrift bezahlt, greift stärker zu als jemand, der eine Rechnung in bar begleicht oder den Gegenwert an Ort und Stelle abarbeiten muss.
Ignorant, bis es zu spät ist
Bei Geldfragen wirken sich bestimmte Arbeitsweisen des Gehirns, die sonst gute Dienste leisten, negativ aus. Das Hirn arbeitet permanent mit Erwartungen, die es auf Basis von Erfahrungen und Vorabinformationen gebildet hat. Beim Vergleich dieser Erwartungen mit den tatsächlichen Ereignissen gibt es Differenzen, z. B. wegen zufälliger Ereignisse oder besonders drastischer Abweichungen wie der derzeitigen Finanzkrise. Die Entscheidungsregeln, die dann angewandt werden, können eine sinnvolle Reaktion verzögern. So wollten es viele Zeitgenossen angesichts der Eskalation der Finanzkrise schlicht nicht wahrhaben, dass ihre Bank auch pleitegehen könnte. Sie überbrückten die Abweichung der tatsächlichen Ereignisse von der persönlichen Erwartung so lange mit Ignoranz, bis es zu spät war. Ebenso schwer fällt es im Krisenfall vermeintlichen Profis wie Fondsmanagern, sich von althergebrachten Denkmustern zu lösen.
Die herausragende Bedeutung des Geldes
Eine Untersuchung mithilfe der funktionellen Magnetresonanztomografie hat gezeigt, welch herausragende Rolle Geld für unser Gehirn spielt. Der Teil des limbischen Systems, der für Belohnungen zuständig ist, der so genannte Nucleus accumbens, reagiert weder auf sexuelle Reize noch auf Gewaltmotive so stark wie auf Bargeld. Geld wird offenbar vom Gehirn nicht als Möglichkeit zur Bedürfnisbefriedigung angesehen, sondern als Bedürfnisbefriedigung an sich. Mit Geld verbinden wir nicht nur ökonomische Funktionen, sondern auch soziale. Als Beleg genügt schon allein das Stichwort „Neid“. Für den Einzelnen ist die soziale Vergleichsmöglichkeit, die Geld bietet, aber selbst dann keine reine Freude, wenn man genug Geld hat – es sei denn, man ist vor Verlustängsten gefeit. Beim Vergleich von Preisen rechnen die Menschen nicht wirklich, sondern tappen in psychologische Fallen. Viele davon stellen sie sich selbst, z. B. wenn sie beim Verkauf ihrer Immobilie deren ökonomischen Wert mit dem emotionalen verwechseln. Klar, dass Ihnen in dem Fall die Preisangebote der Käufer unverständlich niedrig vorkommen – sie wollen nicht für Familienerinnerungen bezahlen.
„Wahrscheinlich werden wir alle damit leben müssen, dass wir immer wieder die falschen Geldentscheidungen treffen.“
Viele Menschen stehen Finanzthemen mit Unkenntnis, Misstrauen und Abwehr gegenüber, darunter nicht wenige Jüngere. Deren Umgang mit Geld gilt als problematisch. Gleichwohl überschätzen viele von ihnen ihre Finanzkompetenz, überbewerten Bekanntes gegenüber Unbekanntem und hegen eine Abneigung gegen Veränderungen und Verluste. Außerdem können sie nicht zwischen Entscheidungen unter Risiko und solchen unter Ungewissheit unterscheiden. Bei Letzteren sind die Eintrittswahrscheinlichkeiten nicht bekannt. Gewiefte Anlageberater werden Ihnen darum lieber etwas von „Anlagerisiken“ erzählen, statt korrekterweise auf die Ungewissheit der Wertentwicklung hinzuweisen.
Die Tricks der Finanzberater
Die Finanzberatung in Deutschland ist schlecht. 50–80 % der langfristigen Geldanlagen werden vor ihrer Ablauffrist und mit Verlust beendet. Warum ist das so? Zu einem großen Teil liegt es an neuroökonomischen Mechanismen in der Branche. Während z. B. viele Anleger eine kurzfristige Belohnung einer langfristigen vorziehen, bevorzugen Berater den raschen Geschäftsabschluss gegenüber einer langfristig vertrauenswürdigen Geschäftsbeziehung. Das Provisionssystem unterstützt dieses Verhalten. Nicht ohne Grund suchen Versicherungsvertreter Kunden gerne zu Hause auf: Sie nutzen damit deren Gefühl der Vertrautheit mit der Umgebung für ihre Zwecke aus. Zudem erhöhen Banken und Versicherungen den Informationsbedarf für den Anleger durch verschachtelte Produkte oft so weit, dass dieser den Überblick verliert.
Sechs Regeln für die Geldanlage
Viele Börsenregeln setzen ein zu rationales, weltfremdes Menschenbild voraus. Es ist aber gar nicht möglich, die eigenen Emotionen und Erfahrungen auszublenden. Machen Sie sich diese Unmöglichkeit bewusst und versuchen Sie, die Funktionsweise des Gehirns bei der Geldanlage zu berücksichtigen, indem Sie typische Fehler vermeiden und Fallen umgehen.
- Sie sollten Prognosen und Gerüchte weder ignorieren noch eins zu eins befolgen: Es handelt sich zwar um unvollständige Informationen, aber deswegen nicht automatisch um falsche. Wer immer mit der Herde läuft, darf keine besonderen Gewinnerwartungen hegen. Hören Sie daher auch auf Ideen aus Ihrem Unbewussten.
- Führen Sie ein Gefühlsregister: In einer Art Tagebuch notieren Sie die Gefühle, die Sie bei bestimmten finanziellen Entscheidungen empfunden haben, z. B. beim Aktienerwerb oder bei Alltagseinkäufen. Das hilft Ihnen, sich über Ihre unbewussten Emotionen klar zu werden, und erleichtert ähnliche zukünftige Entscheidungen. Der Investor George Soros bekam immer Rückenschmerzen, wenn er seine Spekulationsposition an der Börse veränderte. Als er sich dessen bewusst wurde, betrachtete er das Symptom als berufliches Alarmsignal zum Handeln.
- Beziehen Sie Ihre Glücksgefühle nicht ausschließlich aus Ihrer Geldanlage – deren Erfolg lässt sich nicht erzwingen. Lernen Sie, mit Verlusten zu leben.
- Befassen Sie sich mit finanziellen Angelegenheiten dann, wenn Sie sich positives Denken angeeignet haben. Sie werden aufmerksamer an Geldfragen herangehen und bessere Lösungen finden, wenn Sie Ihre Finanzentscheidungen nicht als Last empfinden, sondern Freude daran haben.
- Nutzen Sie Erfolgserlebnisse, um zu lernen. Belohntes Lernen ist besonders effektiv.
- Erwarten Sie Überraschungen: Der Zufall wird Ihren Prognosen immer wieder in die Quere kommen. Rechnen Sie damit und akzeptieren Sie es.
Prof. Dr. Christian E. Elger ist Direktor der Klinik für Epileptologie der Universität Bonn. Zudem ist er Wissenschaftlicher Geschäftsführer der Life & Brain GmbH und Autor des Buchs Neuroleadership. Friedhelm Schwarz ist Wirtschaftsjournalist und beschäftigt sich mit den Themen Börse, Wirtschaft und Gesellschaft. Er ist Autor der Bücher Wirtschaftsimperium Kirche, Die Deutsche Bank, Das Multigenerationen-Unternehmen sowie Und jetzt ... die Wirtschaftsaussichten.