Was sind Hidden Needs?
Viele Produkte floppen nach der Markteinführung. Wissenschaftliche Studien haben ergeben, dass der Hauptgrund dafür die zu große Ähnlichkeit mit bestehenden Angeboten ist. Wieso kommen solche Produkte überhaupt auf den Markt? Unter anderem weil die Unternehmen die wirklichen Bedürfnisse ihrer Kunden nicht kennen, denn diese sind oft versteckt (so genannte Hidden Needs) und lassen sich nur schwer in Worte fassen. Traditionelle Marktforschungsmethoden wie Kundenumfragen und Fokusgruppen legen die Hidden Needs selten offen. Ihnen gegenüber haben neuere Methoden deutliche Vorteile: Die ethnografische Marktforschung, die Repertory-Grid-Technik, die Einbindung der Anwender und die Conjoint-Analyse sind effektive Techniken, die den Verbrauchern ihre Hidden Needs entlocken. Viele weltbekannte, aber auch kleinere Unternehmen haben diese Techniken in den letzten Jahren in der Marktforschung erfolgreich angewandt. Vier Grundsätze bestimmen die Hidden-Needs-Philosophie:
- Die traditionelle Marktforschung führt selten zu wirklich innovativen Produkten und Dienstleistungen.
- Die traditionellen Methoden sollten um die neuen Verfahren ergänzt werden.
- Es geht darum, Markterkenntnisse als Kundenproblem, als Thema oder als kulturellen Aspekt zu formulieren. Dafür sind dann innovative Lösungen zu entwickeln.
- Grundvoraussetzung dafür, bahnbrechende Produkte und Dienstleistungen zu erschaffen, ist eine ihnen förderliche Organisationskultur.
Traditionelle Marktforschung: Umfragen
Umfragen sind in der Marktforschung allgegenwärtig. Eine gute Umfrage sollte gründlich reflektiert und vorbereitet sein. Sie gliedert sich in drei Abschnitte: Vorbereitung, Durchführung und Auswertung. Die Vorbereitung umfasst die folgenden Punkte: Klärung der Ziele, Auswahl der passenden Methode für die Datensammlung (persönlich, telefonisch, postalisch, online), Entscheidung über den Inhalt und Formulierung der Fragen (offen, halb offen, geschlossen), Entwurf des Layouts sowie Festlegung der Stichprobe (Größe, Auswahlverfahren, Zielgruppe). Der Durchführung der Interviews geht idealerweise eine Pilotstudie voraus; Dauer und Kosten der Studie sollten Sie unbedingt im Auge behalten. Bei der Auswertung sind qualitative und quantitative Methoden zu unterscheiden. Erstere kommen vor allem bei offenen Fragen zur Anwendung, letztere bei geschlossenen. Umfragen haben einige Nachteile. Dazu gehören etwa ein Überdruss der Befragten und eine begrenzte Fähigkeit, Meinungen und Gefühle auszudrücken. In vielen Fällen ist auch nicht ersichtlich, wer den Fragebogen ausgefüllt hat, und es ist schwierig, unehrliche Aussagen auszusortieren. Darum bringen Umfragen Hidden Needs nur schlecht an den Tag.
Traditionelle Marktforschung: Fokusgruppen
Auch Fokusgruppen sind in der Marktforschung sehr beliebt. Dabei diskutiert eine Gruppe ausgewählter Personen unter der Leitung eines Moderators über ein Produkt, eine Dienstleistung oder ein Thema. Der Spielehersteller Ravensburger hat die Methode beispielsweise verwendet, um herauszufinden, welche TV-Werbung für welches Land optimal ist. Eine Fokusgruppe erfordert die eingehende Schulung des Moderators. Er muss die richtigen Fragen stellen, um den Teilnehmern relevante Aussagen zu entlocken. Im Vergleich zur Umfrage hat die Fokusgruppe einige Vorteile: Sie ist günstig, die Leute sind leicht zu rekrutieren, weil die Teilnahme als angenehm empfunden wird, und sie ist interaktiv. Dem steht aber auch eine Reihe von Nachteilen gegenüber: Die Datenanalyse ist schwierig, die Stichprobe ist oft nicht repräsentativ, mehr als 80 % der neuen Produkte aus Fokusgruppen sind Flops, es herrscht Gruppendruck, der die freie Meinungsäußerung verhindert, kreative Ideen werden in Fokusgruppen leicht unterdrückt und die Antworten von Meinungsführern werden oft kopiert. Trotz ihrer scheinbaren Einfachheit erfordern Fokusgruppen ebenso wie Umfragen eine sorgfältige Planung (passender Raum, Auswahl relevanter Teilnehmer, Moderatorenschulung usw.).
Ethnografische Marktforschung
Eine geeignete Methode zur Aufdeckung von Hidden Needs ist die ethnografische Marktforschung. Sie entstand in der klassischen Anthropologie bei der Beobachtung fremder Völker und in der Soziologie bei der Erforschung von Subkulturen, z. B. Jugendgangs in Chicago. Grundlegender Bestandteil der ethnografischen Marktforschung ist die systematische Beobachtung von Konsumenten in ihrem natürlichen Umfeld, also zu Hause, im Supermarkt oder im Fachgeschäft. Häufig kombinieren die Forscher die Beobachtung mit Kontextinterviews. Darin befragen sie die Kunden zu ihrer Person (Merkmale, Einstellungen, Verhalten) und zu ihrem Umfeld. Pharmaunternehmen z. B. wenden die Technik an, um herauszufinden, wie Patienten ihre Medikamente im Alltag nutzen. Konkret geht es etwa um die Frage, wieso sie die Medikamente nicht in der richtigen Dosierung und zur richtigen Zeit einnehmen. Die ethnografische Marktforschung eignet sich für Konsumgüter, aber auch für B2B-Güter und Dienstleistungen. Sie kommt eher für grundlegende als für inkrementelle Innovationen infrage. Da Sie es mit großen Datenmengen, oft aus verschiedenen Quellen (Videomaterial, Notizen, Tonbandaufnahmen, Tagebücher usw.), zu tun haben, empfiehlt es sich, bei der Analyse systematisch vorzugehen.
„Hidden Needs sind Bedürfnisse, die bisher noch nicht identifiziert wurden, weder von der Marktforschung noch von den Kunden selbst.“
Ein wichtiger Punkt bei der ethnografischen Marktforschung ist die ethische Komponente: Sie müssen die Probanden über Ihr Tun informieren und sie respektvoll behandeln.
Repertory-Grid
Die Repertory-Grid-Technik ist ein Verfahren, das die Wahrnehmung von Produkten analytisch in verschiedene Dimensionen einteilt und versteckte Bewertungskriterien findet. Die Technik beruht auf der „Theorie der Personal Constructs“, die behauptet, dass Individuen Ereignisse mithilfe vorgefertigter und aus Erfahrung entstandener Schablonen – die Constructs – erklären.
„Viele neue Produkte und Dienstleistungen versagen, weil der Kunde sie nicht unterscheiden kann.“
Das Anwendungsspektrum der Methode ist breit: Versicherer, Luftfrachtdienstleister sowie Hersteller von medizinischen Geräten oder Hautpflegeprodukten verwenden sie. Mindestens drei, besser aber sechs oder mehr Vergleichselemente, d. h. Konkurrenzdienstleistungen oder -produkte, sind für ein Repertory-Grid notwendig.
„Die meisten Marktforschungsinterviews verlassen sich auf die Antworten der Befragten. Gleichzeitig wird jedoch behauptet, dass zwei Drittel der sozial relevanten Informationen nonverbal ausgetauscht werden.“
Der Proband bekommt jeweils drei Elemente auf einmal gezeigt und man stellt ihm die folgende Frage: „Inwiefern sind zwei dieser Elemente gleich, unterscheiden sich aber vom dritten?“ Darauf muss er mit einem Construct antworten, z. B. dass sich Element A und B im unteren Preissegment bewegen, C aber in die Luxuskategorie gehört. Das Construct ist in diesem Fall die Preisklasse. Anschließend mischt der Versuchsleiter die Elemente neu und präsentiert eine weitere Dreierkombination. Er stellt die gleiche Frage, erwartet aber ein neues Construct. Bei jeder Fragestellung bewerten die Probanden die drei Elemente auf einer Skala von eins bis fünf; wenn es etwa um das Construct Preis geht, kann das billigste Element A eine Fünf, das mittlere B eine Vier und das teure C eine Eins bekommen. Mit den gewonnenen Daten können Sie Ihr Produkt mit jenen der Konkurrenz vergleichen. Außerdem merken Sie, wie die Constructs untereinander korrelieren. Auch die gezielte Visualisierung der Resultate ist möglich. Für die Repertory-Grid-Technik ist eine Software fast unentbehrlich: Sie hilft bei der Kombination der Elemente und bei der Auswertung der Daten.
Lead-User und User-Communitys
Die Idee, Einzelkonsumenten und Nutzergemeinschaften in die Produktentwicklung einzubeziehen, ist alt: Bereits 1776, am Beginn der industriellen Revolution, stellte Adam Smith fest, dass viele Maschinen von gewöhnlichen Arbeitern erfunden wurden. In der Auto- und Mountainbike-Entwicklung waren es oft die Benutzer selbst, die mit Anpassungen und Basteleien entscheidende Innovationsideen lieferten. Anwender können auf zwei verschiedene Arten in die Produktentwicklung eingebunden werden: als einzelne Lead-User und als User-Communitys.
„Meistens sind Produkte schwer zu differenzieren, weil die Bedürfnisse der Kunden mehr schlecht als recht verstanden werden.“
Bei Lead-Usern handelt es sich nicht um Durchschnittskonsumenten, sondern um Experten, Innovatoren, Tüftler oder Fans. Der Werkzeughersteller Hilti rekrutiert regelmäßig Lead-User von Universitäten und Instituten. Die Anwendung der Lead-User-Technik erfordert genaue Planung und basiert auf vier Schritten: Identifikation relevanter Trends, Rekrutierung der User, Durchführung von Workshops und Entwicklung von Produktkonzepten.
„Lead-User und Teilnehmer von virtuellen Communitys sind nicht immer mit der normalen Kundenstruktur vergleichbar. Deshalb dürfen Firmen sich nicht zu sehr auf die stark vertretene Meinung einer Minderheit verlassen.“
User-Communitys werden mit der steigenden Vernetzung und der Verlagerung vieler Geschäftsbereiche ins Internet immer wichtiger. Dank Social Media, Blogs und Foren haben Firmen einen direkten Draht zu ihren Kunden. Der Schokoladenhersteller Alfred Ritter bat auf der Homepage um Geschmacksvorschläge für eine limitierte Sommeredition, und beim amerikanischen Bekleidungshersteller Threadless stimmt die Internet-Community sogar jede Woche über T-Shirt-Designs der User ab. Die Firma produziert das Gewinner-Shirt und verkauft es dann über die Homepage.
„Da sich die Hidden-Needs-Analyse noch in der Entwicklung befindet, gibt es keine generell akzeptierte Liste der ‚neuen‘ Techniken in der Marktforschung.“
Bei der Einbindung von Online-Communitys wie auch bei der Lead-User-Technik ist die sorgfältige Auswahl und Betreuung der Teilnehmer das A und O. Die Qualität der Inputs und Diskussionen kann durch gezielte Schulung der verantwortlichen Marketingspezialisten stark gesteigert werden. Die Einbindung von Kunden in die Produktentwicklung durch Lead-User und Online-Communitys bietet viele Vorteile: Sie ist relativ günstig und bringt eine hohe Kundenakzeptanz mit sich. Demgegenüber stehen Nachteile wie der Zeitaufwand und die oftmals fehlende Erfahrung für die Rekrutierung der User, die Nichtrepräsentativität der Anwender (denn es sind ja in erster Linie Innovatoren und Online-Affine) und die Risiken des Wettbewerbs sowie des Urheberrechts.
Conjoint-Analyse
Wieso entscheiden sich Konsumenten für bestimme Produkte? Wie wägen sie zwischen relevanten Merkmalen ab? Welches Produkt am Markt bietet den größten Kundennutzen und wieso? Solche Fragen versucht die Conjoint-Analyse zu beantworten. Sie ist ein statistisches Analyseverfahren, das den Gesamt- und Teilnutzen von Produkten erfasst. Die zentrale Idee ist, den Interviewten eine begrenzte Anzahl von Alternativen vorzustellen, von denen jede andere Attribute aufweist.
„Effektive Marktforschung kombiniert traditionelle Umfragen und Fokusgruppen mit Techniken wie Beobachtung, Repertory-Grid und Lead-Usern.“
Die Methode besteht aus drei Schritten: Vorbereitung, Anwendung und Analyse. Im ersten Schritt muss der Marktforscher die relevanten Produkt- und Dienstleistungsattribute finden. Bei einem Waschmaschinenhersteller z. B. sind dies vielleicht „Sauberkeit der Wäsche“, „Lebensdauer“, „Umweltfreundlichkeit“ usw. Wenn man weitere und versteckte Attribute (Hidden Needs) finden will, eignen sich die ethnografische Marktforschung und die Repertory-Grid-Analyse. Dadurch bemerken Sie womöglich, dass manche Kunden auch Wert auf das Sortieren der Wäsche nach empfohlener Waschtemperatur legen oder darauf, die Wäsche nicht mehr in den Trockner umladen zu müssen. Haben Sie die relevanten Attribute gesammelt, geht es ans Zusammenstellen der Vergleichsprodukte. Sie kombinieren die Attribute so, dass unterschiedliche realistische Muster entstehen.
„Es gibt drei Bereiche, in die verhaltenswissenschaftliche Techniken besonderen Mehrwert zur Produktentwicklung einbringen können: Identifikation der versteckten Kundenbedürfnisse, menschliche Faktoren beim Design des Produktservice und Verständnis des Kaufverhaltens.“
Im zweiten Schritt präsentieren Sie die Produkte den Befragten und bitten sie um ihre Bewertung, sei es mit einer Rangliste oder im Punktsystem. Zuletzt verwenden Sie die gewonnenen Bewertungsdaten, um die Teilwerte der einzelnen Attribute zu berechnen und den Gesamtnutzen jedes Produkts abzuleiten. Zur Berechnung lohnt es sich, Spezialsoftware zu verwenden, die Ihnen das Mathematische abnimmt. Am Schluss wissen Sie nicht nur, welche Attribute für die Entscheidung besonders wichtig sind, sondern haben auch ein realistisches Bild der Kaufentscheidung.