Das Ideal des ehrbaren Kaufmanns – und die Realität
Die Wirtschaftswelt steht unter dem Eindruck der gerade eben noch so abgewendeten Weltwirtschaftskrise. Nicht nur die Aufräumarbeiten bei den Folgen der Krise dauern an, auch diejenigen bei den Auslösern, in erster Linie den Banken. Wirtschaft, Politik und Gesellschaft sind gleichermaßen betroffen vom um sich greifenden Vertrauensverlust. Und das nicht erst seit Kurzem: Die jüngste Krise war nur die bislang letzte innerhalb nur eines Jahrzehnts.
„Die Zeit ist reif für die Renaissance des ehrbaren Kaufmanns. Die Anhäufung der immer gleichen Fehler innerhalb eines Jahrzehnts sollte dazu Anlass genug sein.“
Kann das Zufall sein? In der Öffentlichkeit entstand der Eindruck, das gesamte Wirtschaftssystem sei nur noch von entweder inkompetenten oder unehrenhaften, raffgierigen Managern durchdrungen. Jedoch zählen 99 % der ca. 3,3 Millionen deutschen Unternehmen zum so genannten Mittelstand, die Mehrzahl sind reine Familienunternehmen. Natürlich haben diese praktisch gar nichts zur Entstehung der Wirtschaftskrise beigetragen, im Gegenteil: Sie sind ihre Opfer. Eine Unterscheidung zwischen der unbescholtenen Mehrheit und spektakulären Betrugsfällen oder Megainsolvenzen wie bei Enron, General Motors, Arcandor (Karstadt) oder Holzmann tut dringend not.
„Besonders gerne redet man über Werte, wenn sie abhanden gekommen sind.“
Dabei wäre ehrbares Handeln so einfach – auch ohne gesetzliche Vorschriften, die ohnehin ihre Wirkung verfehlen. Die vier Kardinaltugenden Klugheit, Gerechtigkeit, Tapferkeit und Maßhalten sind in der abendländischen Kultur seit über 2000 Jahren verankert und der Begriff des ehrbaren Kaufmanns ist seit rund 500 Jahren bekannt. Dieses historische Fundament sollte auch in Zeiten der Globalisierung weiter gelten.
Profite und Prinzipien
„Erst kommt das Fressen, dann kommt die Moral“, heißt es in der Dreigroschenoper von Brecht. Aber stimmt es wirklich, dass moralische Prinzipien und Profite einander ausschließen? Verschiedene Interessen lassen sich generell auf drei Arten ausgleichen: bürokratisch, solidarisch oder marktwirtschaftlich. Das bürokratische Verteilungssystem ist Kennzeichen vieler Regierungsapparate. Das solidarische System ließ sich vier Jahrzehnte in der DDR beobachten, bevor es in sich zusammenbrach. Das marktwirtschaftliche System ist gerecht und baut auf freie Entscheidungen: Man kann nicht dauerhaft zulasten Dritter wirtschaften, ohne dafür vom Markt abgestraft zu werden. Hier setzt das Bild des ehrbaren Kaufmanns an.
Unternehmer vs. Manager
Mittelständische Unternehmen gelten zu Recht als Rückgrat der deutschen Wirtschaft. Die Einheit von Eigentum und Haftung erhebt die Verantwortung zur Handlungsmaxime des Unternehmers. Gerade sie ist es, die den mittelständischen Kaufmann vom angestellten Manager auf Zeit unterscheidet. Seine berufliche und meistens auch private Existenz ist direkt mit der Existenz seines Unternehmens verknüpft, häufig ist sogar die gesamte Familie in den Betrieb einbezogen.
„Es gilt die Erkenntnis, dass immer dann, wenn sich der Staat in marktwirtschaftliche Prozesse einmischt, der finanzielle Erfolg für alle Beteiligten ausbleibt.“
Dies alles führt zu einem besonderen Anforderungsprofil an die Führungskraft: Sie muss entscheidungsfreudig und -sicher sein und sie muss ihre Mitarbeiter überzeugen und führen können. Außerdem darf ein gesundes Maß an Risikobereitschaft nicht durch die Sorge um die eigene Existenz oder die der Familie überlagert werden. Dies steht in krassem Gegensatz zu den Fehltritten von Managern einiger namhafter deutscher Großunternehmen in der jüngeren Vergangenheit.
Zahnlose Papiertiger
Möglicherweise fehlt ein allgemeingültiges Wertesystem, das den Verantwortlichen einen Rahmen für ihr Handeln setzen würde. Versucht wurde es zwar mit dem Corporate-Governance-Kodex, einem Leitfaden für gute Unternehmensführung. Der Öffentlichkeit wird vorgegaukelt, dass mit diesem Kodex umfangreiche und verbindliche Regelungen für eine gute und ordnungsgemäße Unternehmensführung und -kontrolle installiert wären.
„Die Grundidee des Modells des ,ehrbaren Kaufmanns‘, das in Hamburg seit 1517 erfolgreich besteht, ist eine an Werten orientierte Unternehmerschaft.“
Doch leider hat sich die Selbstverpflichtung der deutschen Wirtschaft als zahnloser Papiertiger erwiesen. Nicht nur, dass lediglich ein winziger Prozentbruchteil der Unternehmen darunter fällt – nämlich die börsennotierten –, auch sind die meisten Vorgaben reine Empfehlungen. Und die lassen sich missachten. Auch Porsche und Volkswagen hatten sich zum Corporate-Governance-Kodex bekannt – was sie nicht davon abhielt, sich in einer wahren Übernahmeschlacht bis aufs Messer zu bekämpfen.
„Das, was unsere abendländische Kultur so lange zusammenhält, kann auch für die heutige Unternehmenspraxis so schlecht nicht sein.“
Genauso zahm wirkt der Selbstbehalt bei Haftpflichtversicherungen für Manager, der bislang kaum angewendet wird. Eine persönliche Haftung des angestellten Managers könnte sicherlich ihren Teil dazu beitragen, die Rolle des ehrbaren Kaufmanns aufzuwerten. Ganz im Gegensatz dazu stehen Bestrebungen, auch Aufsichtsratsmitglieder erfolgsabhängig zu entlohnen.
„Jedem das Seine bedeutet nicht: Jedem das Gleiche!“
Diese neuerliche Überbetonung des so genannten Shareholder-Value-Gedankens (dessen Ziel die Maximierung des Unternehmenswerts ist) würde das Kontrollorgan in ein Boot mit dem Management setzen und damit einer kurzfristigen Gewinnorientierung weiteren Vorschub leisten – dabei ist es das Gegenteil dessen, was angestrebt werden sollte. Die Komplexität des Kodex steigt von Jahr zu Jahr, u. a. schon deshalb, weil er mit unternehmerischen Selbstverständlichkeiten überladen ist.
Aus der Krise in die Krise
Genau diese einfachsten kaufmännischen Grundregeln hätte es um die Jahrtausendwende gebraucht: Da bildete sich am Neuen Markt, dem Börseneinstiegssegment für wachstumsorientierte Unternehmen, eine bis dahin nicht für möglich gehaltene Spekulationsblase.
„Im Zeitalter des Eindrucksmanagements, in dem eine Brustvergrößerung oder eine Serie von Botoxspritzen als Weihnachtsgeschenk dienen, ist Eitelkeit nur noch dann eine Sünde, wenn die Selbstinszenierung misslingt.“
Unternehmen, Banken, Journalisten, Anwälte und Wirtschaftsprüfer waren gleichermaßen vom Wunsch beseelt, am großen Rad zu drehen. Dass die meisten Neuer-Markt-Unternehmen mit ihren tollen Storys bis dahin außer horrenden Verlusten nicht viel zu bieten hatten, interessierte nicht. Alle lebten wie in einem Rausch. Die Deutsche Börse beerdigte ihr Einstiegssegment 2003, als sich herausstellte, dass die vermeintlich wachstumsorientierten Firmen lediglich wachsende Verluste vorzuweisen hatten. Viele Unternehmen waren 2003 bereits wieder untergegangen.
„Wird ein Gerücht dementiert, kann es brenzlig werden. In der Regel muss die komplette Geschichte noch einmal aufgerollt und erneut in Umlauf gebracht werden.“
Nachdem die Dotcom-Blase schon ungehindert entstehen konnte, mag es kaum noch verwundern, dass mit der Subprime-Blase (minderwertig besicherte Hypothekenkredite) bereits wenige Jahre später die nächste Krise historischen Ausmaßes ihren Lauf nahm. Die allermeisten Kunden, denen in den USA das eigene Haus regelrecht aufgeschwatzt wurde, hätten in Deutschland – absolut zu Recht – niemals einen Immobilienkredit bekommen. Ein ehrbarer Kaufmann hätte von einem solchen zwar kurzfristig lukrativen, langfristig jedoch desaströsen Geschäftsgebaren Abstand genommen. Ebenso wenig ehrbar handelten allerdings die Käufer, die sich offenbar nie die Frage gestellt hatten, ob sie sich eine kreditfinanzierte Immobilie überhaupt leisten konnten. Diese immer wieder entstehenden Spekulationsblasen zeigen deutlich, dass Ehrbarkeit in der Wirtschaft nur dann Aussicht auf Akzeptanz hat, wenn alle Beteiligten auf Basis gemeinsamer und allgemein akzeptierter Werte handeln.
Der dreifache Führungsstil
Was unsere abendländische Kultur über Jahrtausende zusammengehalten hat, kann auch in der modernen Unternehmenspraxis nicht falsch sein. Begriffe wie „Tugenden“ und „Laster“ klingen zwar etwas altbacken, aber sie lassen sich in die heutige Terminologie kleiden. Das gilt auch für den dreifachen Führungsstil, wie er von Mönchsvater Benedikt von Nursia etwa 500 n. Chr. definiert wurde:
- Der Führende als Diener: Er erwartet von seinen Mitarbeitern nichts, was er nicht selbst zu leisten imstande wäre.
- Der Führende als Vater: Er stärkt seinen Mitarbeitern den Rücken und fördert sie darin, selbst etwas zu wagen.
- Der Führende als Pilger: Er übernimmt Verantwortung und ist sich über seine Kompetenzen im Klaren, muss aber auch mit sich selbst verantwortungsvoll umgehen.
Die vier Kardinaltugenden im heutigen Gewand
Eine Wirtschaftsgesellschaft ohne Bindung durch gemeinsame Werte besitzt keinen inneren Halt. Als ethische Grundorientierung sind die alten Kardinaltugenden Klugheit, Gerechtigkeit, Tapferkeit und Maßhalten immer noch eine gute Ausgangsbasis. Sie sind die Dreh- und Angelpunkte moralischen Handelns. Tugenden sind keineswegs angeboren. Stattdessen entstehen sie, indem Menschen eine Handlung der anderen vorziehen. Tugenden müssen im Unternehmen von Vorbildern und Persönlichkeiten gelebt werden, nur dann haben sie eine Chance, in die „Corporate Identity“ einzugehen. Die Überführung der zwei Jahrtausende alten Tugenden in heutige Begrifflichkeiten könnte folgendermaßen aussehen:
- Klugheit ist die Fähigkeit, in einer Situation das Richtige zu erkennen und zu tun. Eine Führungskraft, die klug handelt, ist vorausschauend, sie erkennt die Zeichen der Zeit. Nicht zu verwechseln ist Klugheit mit Cleverness und Gerissenheit.
- Gerechtigkeit aus Sicht des Unternehmens ist der Ausgleich zwischen den Interessen der unterschiedlichen Anspruchsgruppen, beispielsweise der Anteilseigner, Kunden, Lieferanten, Banken oder der Öffentlichkeit.
- Tapferkeit ist die Fähigkeit und Entschlossenheit, ein als richtig erkanntes Vorhaben auch gegen Widerstände durchzusetzen. Tapferkeit ordnet sich ein zwischen den beiden Extremen Angst und Tollkühnheit. In gewissem Sinn gehört zur Tapferkeit auch der Gründerwille oder Unternehmergeist.
- Maßhalten bedeutet persönliche Bescheidenheit. Diese allein auf den Handelnden bezogen, nicht wie andere Tugenden. Dem richtigen Maß entsprechen Angemessenheit, Behutsamkeit und Kompromissbereitschaft in den unternehmerischen Entscheidungen.
Große und kleine Laster
Es stellt sich die Frage, ob das Gegenteil der Kardinaltugenden – die so genannten Laster wie Hochmut, Habgier und Faulheit – unternehmerischen Erfolg verhindern. Ein Blick auf die Börsengewinner des Jahres 2007 (Fastfoodketten, Waffenproduzenten, Luxusautohersteller oder Betreiber von Spielcasinos) zeigt, dass dies offenbar nicht der Fall ist. Generell gilt: Die Dosis macht das Gift, sowohl bei den Tugenden als auch bei den Lastern. So kann ein Zuviel an Gerechtigkeit zu Sturheit führen, ein Zuviel an Tapferkeit zu riskanten Unternehmensentscheidungen, ein Zuviel an Wahrhaftigkeit zu Beleidigungen. Dagegen kann ein gewisses Maß an Neid anspornend wirken, oder ein Hang zum Geiz kann als vorübergehender Sparwille zum Ausdruck kommen, der spätere Anschaffungen überhaupt erst ermöglicht. Nicht zuletzt steht hin und wieder „Fünfe gerade sein lassen“ für Lebensfreude, ohne gleich Schaden zu hinterlassen.
Der ehrbare Kaufmann braucht Kommunikation
Leitbild, Unternehmensethik, Sozialbilanz – schöne und gute Begriffe, doch wollen sie auch kommuniziert sein. Sowohl die verbale als auch die nonverbale Kommunikation in den Medien entscheiden heute über Existenzen. Aufstieg und Fall liegen nahe beieinander. Kommunikation ist Realität, die Medien erzeugen diese. Daher ist für den ehrbaren Kaufmann als Unternehmenslenker der bewusste und verantwortungsvolle Umgang mit seiner Funktion als Informationsgeber, als Vermittler und als Informationsempfänger enorm wichtig – und zwar nicht erst, wenn es in der Öffentlichkeit zu Fehlinterpretationen gekommen ist.
Prof. Dr. Jürgen Wegmann ist Vorstand der KWU Gesellschaft für Mittelstandsberatung. Dieter Zeibig ist Geschäftsführer der Smart Cologne Werbeagentur. Dr. Hubertus Zilkens ist Mitbegründer und Partner der Valores Strategieberatung.