Totalausfall
Die zurückliegende Finanzkrise hat jeden Erdbewohner im Schnitt umgerechnet ca. 1500 $ gekostet – in der Summe 10,5 Billionen. Dieser gigantische Betrag ergibt sich aus den direkten Abschreibungen und Insolvenzen bei Banken (1,6 Billionen), den Wertverlusten bei Immobilien in den USA und Großbritannien (4,6 Billionen) sowie schließlich den Folgen für die Weltwirtschaft, die zum ersten Mal seit sechs Jahrzehnten geschrumpft ist. Mit wenigen Hundert Milliarden direkten und indirekten Kosten kam Deutschland noch vergleichsweise glimpflich davon. Unseriöse Kreditvergabe, Unterschätzung von Risiken durch die Finanzmarktteilnehmer und natürlich die berüchtigte Gier in den Chefetagen der Finanzindustrie – das waren die Gründe, so meint man, für die hausgemachte Krise. Doch liefert diese Sichtweise keine Erklärung dafür, weshalb intelligente Menschen in Landesbanken und Privatinstituten in ramschige US-Hypothekenverbriefungen investierten. Schließlich basiert das Geschäftsmodell von Banken und Versicherungen auf einem professionellen Management von Risiken und Chancen. Es gilt also, in Bezug auf das Finanzmarktmanagement einige Lehren aus der Krise zu ziehen.
Was tut eigentlich eine Bank?
Das Einmaleins der Volkswirtschaftslehre besagt, dass verhängnisvolle Fehler beim Kreditmanagement in einer Wirtschaftskrise münden: Auf erste panikartige Verkäufe, die den Beginn einer Kreditkrise einläuten, folgen typischerweise ein Liquiditätsschock (d. h. die Banken beginnen Geld zu horten) und dann zahlreiche Kreditverluste. Dies wiederum hat makroökonomische Auswirkungen, weil die betroffenen Banken weniger Kredite an die Unternehmen vergeben und diesen dann schlimmstenfalls die Insolvenz droht. Das war auch in der jüngsten Krise zu beobachten. Hintergrund der rasch um sich greifenden Liquiditätsprobleme im Finanzsystem ist, dass Banken als eine Art Vermittler von Zahlungsströmen fungieren: Sowohl Unternehmen als auch Privatpersonen nehmen einerseits Kredite in Anspruch, bringen andererseits aber auch Einlagen auf die Bank. Eine weitere Aufgabe der Finanzindustrie, die in der jüngsten Wirtschaftskrise von den Banken bei der Kreditvergabe vernachlässigt wurde, war die Risikoselektion. Das bedeutet, dass Banken darüber entscheiden müssen, was förderungswürdig ist und was nicht. Dies ist elementarer Bestandteil einer Marktwirtschaft. Falsch investiertes (oder gar vernichtetes) Kapital fehlt dann an anderer Stelle und schlägt für die Realwirtschaft doppelt negativ zu Buche.
Aufarbeitung: aus den Augen, aus der Bilanz
Um das Zustandekommen der historischen Finanzmarktkrise und ihrer Auswirkungen zu verstehen, muss man sie in ihre Einzelteile zerlegen. So zeigt sich rasch: Ein verhängnisvoller Schritt folgte dem nächsten, die Krise war nicht von heute auf morgen da, sondern näherte sich in Zeitlupe. Ein Meilenstein auf dem Weg in die Krise war, dass Finanzinstitute die Eigenkapitalanforderungen der Basel-Richtlinien zu umgehen suchten, indem sie Kreditforderungen verbrieften. Eine Verbriefung ist vereinfacht ausgedrückt eine Bündelung von Krediten in ein forderungsbesichertes Wertpapier. Dieses kann an Dritte verkauft oder auch ausgelagert werden. Dafür erfanden die Finanzinstitute Zweckgesellschaften. Der Effekt: Das neue Wertpapier fiel nicht mehr unter die strengen Anforderungen an die Eigenkapitalmittel der Bank (wonach eine Bank nicht beliebig viele Kredite ausreichen kann, sondern immer nur eine Anzahl, die sich proportional zur Eigenkapitalbasis verhält), generierte aber trotzdem Erträge – das moderne Füllhorn war erfunden.
Die Erfindung der guten Tat
Die später zu unrühmlicher Ehre gekommene IKB Deutsche Industriebank wies schon Mitte 2005 im Rahmen einer internen Studie darauf hin, dass sich am US-Markt eine Immobilienpreisblase entwickle, aus der auch Risiken für das Institut erwüchsen. Für die Chefetage des Finanzinstituts offenbar nicht Alarmsignal genug: Die IKB-Zweckgesellschaft Rhineland Funding beabsichtigte unbeirrt, ihr Investitionsvolumen innerhalb von drei Jahren auf 20 Milliarden Euro fast zu verdoppeln. Später sollte die IKB als eines der ersten Finanzinstitute in die sich auftuenden Kreditabgründe stürzen, mehrere staatliche Rettungspakete folgten. In Deutschland, den USA und praktisch überall sonst auf der ganzen Welt brachen Finanzinstitute mit Beginn des Jahres 2008 unter den Schuldenlasten zusammen, die nunmehr auf sie zurückfielen. Offensichtlich war die Idee, Kredite zu verbriefen, zu verkaufen und auszulagern, doch nicht so brillant gewesen: Die Kreditnehmer bzw. Garanten für die komplexen Wertpapierverbriefungen begannen überall gleichzeitig auszufallen.
„Aktienmarktkrisen sind zwar unerfreulich für die jeweiligen Investoren, sie haben aber meistens keine größeren gesamtwirtschaftlichen Auswirkungen. Bei Kreditkrisen ist das anders. Die münden fast zwangsläufig in einer Wirtschaftskrise.“
Kein Finanzinstitut fand mehr Deckung. Der 15. September 2008 ging als „Schwarzer Montag“ in die Annalen ein: Die 1850 von zwei Geschwistern aus Würzburg gegründete US-Investmentbank Lehman Brothers wurde wider Erwarten nicht vom Staat gerettet, sondern lief geradewegs in eine unkontrollierte Insolvenz. Chaos breitete sich an den Finanzmärkten aus. Wer würde der Nächste sein? Den historischen Fehler einsehend, gaben Regierungen dies- und jenseits des Atlantiks umgehend Komplettgarantien für Spareinlagen und damit de facto für das gesamte Banken- und Versicherungswesen ab. Lehman Brothers blieb so die einzige Großbank, die in die Knie ging. Mit Island und anderen Ländern gerieten dann noch ganze Staaten in eine finanzielle Schieflage, doch sprangen auch hier letztinstanzliche Kreditgeber in Form von IWF und Notenbanken ein. Den letzten Akt der weltweiten Rettungspakete bildeten die „Bail-outs“ schlingernder Industrieunternehmen wie General Motors.
Schönwettermodelle
Eine direkte Lehre aus der Krise: Die Risikomodelle, die in den vergangenen Jahren Einzug in die Finanzinstitute gehalten haben, waren offenbar geeignet, den gesunden Menschenverstand über weite Strecken auszuschalten. Fehler in den Ziel- und Anreizsystemen sowie unsinnige Annahmen des Risikomanagements führten zum Desaster. Schon beim Börsencrash im Oktober 1987, der ein Ausmaß erreichte, das eigentlich nur alle 1087 Jahre einmal hätte auftreten dürfen, erwiesen sich die bestehenden Risikomodelle als anfällig. Empirisch gewonnene Erkenntnisse, dass derartige Zusammenbrüche wesentlich häufiger vorkommen als bislang angenommen, hielten sich offenbar nur kurz im Gedächtnis der Banker. Schlimmer noch: Bei einer Überprüfung der Risikomodelle stellte sich heraus, dass Banken extremen Marktbedingungen, wie sie beispielsweise schon im September 2001 vorzufinden waren, mangels Modellierungsmöglichkeiten einfach eine Eintrittswahrscheinlichkeit von null zugeordnet hatten. Vermeintliches Wissen erzeugte eine Scheingenauigkeit der Systeme, die umso trügerischer war, als Extremsituationen von vornherein ausgeklammert wurden. So lautet eine Aufgabenstellung für die Zukunft, dass die Risikobewältigung speziell auf die Abwendung zerstörerischer Extremereignisse gelenkt werden soll. Zudem ist das Modell vom perfekten Markt nicht länger haltbar: An seine Stelle treten sich selbst verstärkende Effekte wie Herdentrieb oder Extremabweichungen von Fundamentaldaten. Kurzum: Die wesentlichen Großrisiken müssen adressiert werden, statt Details zu modellieren.
Kettenreaktionen vermeiden
Um das Kreditcontrolling zu verbessern, lassen sich aus mathematischer Sicht vor allem drei Lektionen lernen:
- Sämtliche Prognosen müssen künftig konservativer angesetzt werden, wenn ein entsprechender Risikopuffer gebildet werden soll. Damit würden auch die so genannten Fat-Tail-Ereignisse (Ereignisse, die deutlich von der Annahme einer Normalverteilung abweichen) besser berücksichtigt.
- Die Marktteilnehmer sollten auch die Grenzen der Vorhersagekraft zur Kenntnis nehmen: Dem kritischen Sachverstand muss, allen neuronalen Netzen, genetischen Algorithmen und quadratischen Effekten zum Trotz, mehr als bisher ein eigener Platz eingeräumt werden.
- Es muss sichergestellt werden, dass die Risikokontrollmodelle robust sind, d. h. dass nicht schon eine vergleichsweise geringe Verschiebung (z. B. eine geringfügige Erhöhung der Kreditausfallrate) dazu führt, dass der Kreditvergabeprozess in einer Kettenreaktion zum Erliegen kommt. Es darf nicht gleich das gesamte Geschäftsmodell „Kreditvergabe“ infrage gestellt werden, wenn sich Unerwartetes ereignet.
Weniger Stress durch Stresstests
Fairerweise muss man zugeben, dass die Banken in den vergangenen Jahren kein einfach zu bearbeitendes Geschäftsfeld vorfanden, vor allem aufgrund des Trends rückläufiger Zinsspannen (Differenz aus Kredit- und Einlagenzinsen). Weil alle versuchen, noch profitabler zu arbeiten und alle Skaleneffekte auszunutzen, liegt auf der gesamten Branche ein hoher Innovationsdruck und es kommt immer häufiger zu Fusionen. Um die Verwundbarkeit einer bestimmten Bank durch Marktrisiken zu beurteilen, werden Risikomodelle so genannten Stresstests unterzogen. Dabei geht es um extreme Veränderungen folgender Parameter:
- Risikotragfähigkeit, z. B. durch Verluste im Kreditgeschäft,
- Zinsstrukturkurve (z. B. durch Niedrig- oder Hochzinspolitik der Notenbanken),
- Marktliquidität in wichtigen Marktsegmenten,
- Bonitätsrating einer Bank,
- zentrale Annahmen in den Risikomodellen, z. B. Korrelationen (Zusammenhänge zwischen verschiedenen Anlageklassen wie Anleihen oder Aktien) oder Eigenmittelverfügbarkeit/-mobilisierung,
- Abziehen von Interbankeneinlagen oder von Spareinlagen,
- Inanspruchnahme von Kreditlinien, Kreditzusagen oder Bürgschaften,
- Reputation des Finanzinstituts, z. B. durch Gerüchte.
„In der Praxis findet das Management von Reputationsrisiken allenfalls dann statt, wenn eine Krise bereits eingetreten ist.“
Zu empfehlen sind Steuerungsgrößen wie Liquidity at Risk (LaR), die die Liquiditätsbelastung mit vorgegebener Wahrscheinlichkeit und bestimmter Zeitdauer misst, oder Liquidity Value at Risk (LVaR), die den Vermögensverlust aufgrund hoher Refinanzierungskosten zu beziffern versucht. Entscheidend ist es, immer eine gesamtbankbezogene Sichtweise einzunehmen, nie die einer einzelnen Abteilung.
Keine Patzer beim guten Namen
Während der Auf- bzw. Ausbau einer Reputation nur über einen langen Zeitraum möglich ist, kann man sie u. U. über Nacht verlieren. Der Anteil des Markennamens am Firmenwert liegt bei den 15 weltweit bedeutendsten Finanzinstituten zwischen knapp 10 % (Chase) und 61 % (American Express). Darum müssen auch Reputationsrisiken, Risiken in der Außenwahrnehmung, als eigene Risikokategorie Eingang in Krisenszenarien finden. Zudem können Reputationsrisiken die Folge anderer Risiken sein, hervorgerufen durch unethische Praktiken etwa, schlechte finanzielle Performance, eine feindliche Übernahme – oder nicht zuletzt durch einen Fehlauftritt des Managements. Weil keine verlässlichen Berechnungen des Reputationsrisikos möglich sind, fordern staatliche Regulatoren auch keine Eigenkapitalunterlegung. Lassen sich Reputationsrisiken also erst managen, wenn die Krise schon eingetreten ist? Reputationsrisiken können sowohl auf einen Schlag als auch zeitverzögert sichtbar werden. Obwohl keine Patentrezepte zu ihrer Quantifizierung existieren, können Sie einige Punkte berücksichtigen: Reputationsrisiken sollten regelmäßiger Tagesordnungspunkt bei Vorstandssitzungen sein. Idealerweise ist dieser wichtige Aufgabenbereich auch direkt beim Vorstand angesiedelt, denn der gute Name des Unternehmens ist zu wichtig, um die Verantwortung dafür auf untergeordnete Ebenen abzuwälzen.