Phönix aus der Asche
Noch vor rund 30 Jahren war China ein Entwicklungsland, so arm wie Malawi. Heute ist es nach den USA und Japan die drittgrößte Wirtschaftsmacht der Welt. Deng Xiaoping, der Nachfolger von Mao Zedong, hat China ab 1978 in die Moderne geführt. Mao Zedong hatte China mit seiner Kulturrevolution (1966–1976) vom Rest der Welt isoliert. Er schickte Wissenschaftler und Gelehrte auf den Acker oder in den Bergbau, um sie zu Arbeitern und Bauern umzuerziehen. Die Partei kontrollierte und unterdrückte die Menschen. Es gab keinerlei Privatbesitz, und die Staatsbetriebe arbeiteten unproduktiv. Über eine Milliarde Menschen waren arm, hungrig, unwissend und hoffnungslos. Nichtsdestotrotz hat es China in Rekordzeit zu Wohlstand, Wissen und Selbstbewusstsein gebracht. Sein Erfolg fußt auf acht Säulen:
1. Säule: Emanzipiertes Denken
Deng Xiaoping wollte weniger Ideologie, dafür mehr Wirtschaftswachstum. Damit die Chinesen wieder anfingen, selbstständig zu denken und zu handeln, lockerte er die staatlichen Kontrollen. Er privatisierte viele Staatsbetriebe und erlaubte es ausländischen Unternehmen, sich an Staatsbanken und inländischen Firmen zu beteiligen. Bis 1985 wurden zwölf Millionen Unternehmen gegründet. Deng machte das Studieren wieder attraktiv. Im Jahr 1978 hatten 165 000 Chinesen ein Hochschuldiplom in der Tasche, 2007 waren es bereits 4,5 Millionen.
2. Säule: Vertikale Demokratie
Konfuzius war davon überzeugt, dass die soziale Ordnung die Menschen befreit, weil sie definiert, was erlaubt ist und was nicht. Seine Lehre prägt die Chinesen bis heute. Sie brauchen Harmonie und soziale Ordnung. Chinesen glauben, dass alle Menschen von Geburt an miteinander verbunden sind und jeder Teil eines Ganzen ist. In der Politik heißt das: Die Kommunistische Partei Chinas (KPCh) steckt den gesellschaftlichen Handlungsrahmen so ab, dass der Einzelne sowohl genug Ordnung als auch Freiraum hat, um das gemeinsame Ziel zu erreichen: Chinas Wirtschaftswachstum anzukurbeln. Diese vertikale Demokratie ist neu und von unternehmerischem Denken geprägt. Die Partei führt die Menschen wie der Chef seine Mitarbeiter, wobei diese immer mehr auch die Regierung beeinflussen. Das System widerspricht westlichen Vorstellungen von Demokratie: In einem horizontalen System hat jeder Bürger die gleichen Rechte und darf regelmäßig Parteien oder Personen wählen. Wer die meisten Stimmen bekommt, regiert. Die KPCh hingegen leitet ihren alleinigen Führungsanspruch nicht aus Wahlerfolgen ab, sondern aus ihrer erfolgreichen Arbeit. Der entscheidende Vorteil der vertikalen gegenüber der horizontalen Demokratie ist, dass Politiker langfristig denken und planen dürfen. Sie müssen keine Angst vor einer Abwahl wegen unbeliebter Entscheidungen beim nächsten Urnengang haben. Das Modell könnte durchaus ein Vorbild für Entwicklungsländer sein.
3. Säule: Freiheit für die Wirtschaft
Die Regierung passt sich wirtschaftlichen, sozialen und politischen Veränderungen laufend an. So arrangierte das Ministerium für Maschinenindustrie schon 1978 ein „Joint Venture“ mit namhaften westlichen und japanischen Autoherstellern. Chinesische Ingenieure schauten sich ganz nebenbei das Fachwissen der ausländischen Kollegen ab. Von entscheidender Bedeutung sind die fünf ausgewiesenen Sonderwirtschaftszonen: Dort dürfen Unternehmer und Wissenschaftler seit 1980 besonders frei arbeiten und von ausländischen Investitionen profitieren. Regeln, die sich dort bewähren, werden auf den Rest des Landes ausgeweitet. 1999 hat der Parteikongress den privaten Sektor zu einem wichtigen Bestandteil der sozialistischen Marktwirtschaft erklärt. Beamte sind bei der Auslegung von Vorschriften großzügig gegenüber Unternehmern. Das heißt dann: „Ein Auge offen, eines zu.“ 2007 forderte der 17. Nationale Volkskongress nicht nur weiteres Wirtschaftswachstum, sondern auch eine Verbesserung der Lebensqualität sowie die Erholung der Umwelt. China will nicht länger nur eine überdimensionale Fertigungshalle des Westens sein, sondern eigene Ideen und Produkte entwickeln. Im Jahr 2008 hat es 6 % des Bruttoinlandsproduktes in Forschung und Entwicklung investiert.
4. Säule: Versuch und Irrtum
Die chinesische Regierung nutzt Pilotprojekte, um herauszufinden, was praktikabel ist und was nicht. Egal ob es um neue Konzepte für Schulen, Theater, Versicherungen, Ämter oder Investitionen geht – immer werden sie zuerst im Kleinen ausprobiert, bewertet und dann umgesetzt oder gestrichen. So tastet sich China in die Zukunft. Auf der momentanen Arbeitsliste stehen: Umwelterhaltung, Einführung des Rechtsstaats, medizinische und soziale Grundversorgung, Ausbau des Sozialversicherungssystems sowie mehr Bildung im ländlichen Raum.
5. Säule: Inspiration durch Kunst und Bildung
Der Staat erlaubt es chinesischen Künstlern, kreativ zu sein. Sie toben sich in Musik, Malerei, Literatur, Kunst, Mode, Medien oder Filmen aus und schaffen so ein Klima, das viele Exilchinesen zur Heimkehr veranlasst hat. Nicht nur der Starpianist Lang Lang verbessert Chinas Image im Ausland, sondern auch die 500 Konfuzius-Institute weltweit. Die Regierung will das Bildungsangebot weiter verbessern. Die seit 2003 entstandenen Privatschulen zeigen, dass hier längst ein Wettbewerb stattfindet. Ende 2007 wurde an 95 000 Privatschulen 26 Millionen Kinder und Erwachsene unterrichtet.
6. Säule: Weltpolitische Bedeutung
China hat den Anschluss an den Rest der Welt geschafft. Sein Bruttoinlandsprodukt (BIP) ist mit vier bis fünf Billionen US-Dollar so hoch wie das Japans. Als Wirtschaftsmacht hat China Deutschland damit überholt. Zwar liegen die USA mit einem BIP von 14 Billionen noch vorne. Langfristig aber werden sie sich ihre Rolle als Supermacht mit China teilen müssen – nicht als Gegner, sondern als wirtschaftlich abhängiger Partner. Im Lauf des 21. Jahrhunderts kann China sogar die Nummer eins werden. Längst beansprucht das Land eine seinem wirtschaftlichen Erfolg angemessene Rolle. Für den Fortschritt stehen folgende Beispiele:
- Terminal drei des internationalen Flughafens in Peking ist das größte der Welt, wurde in Rekordzeit gebaut und ist ein architektonisches Glanzstück.
- Die Logistikindustrie wächst: 2006 setzte sie 500 Milliarden Dollar um.
- Chinas Fluglinien sind die sichersten der Welt.
- China ist der größte Warenlieferant der Welt mit einem großen Hunger nach Rohstoffen.
- Das Land will eine Versöhnung mit dem einstigen Erzfeind Japan.
- Es schmiedet neue wirtschaftliche Verbindungen zu Lateinamerika und weitet die zu Afrika aus, das 2010 Chinas größter Handelspartner sein wird.
7. Säule: Verbessertes Sozialsystem
Trotz allem ist der Großteil der chinesischen Bevölkerung nicht wohlhabend und zu wenig sozial abgesichert. Hier hinkt China anderen Ländern noch hinterher. Es gibt kein Rentensystem und keine Arbeitslosenversicherung. Die Regierung arbeitet aber daran, diese Missstände zu beheben. So sollen Wanderarbeiter und ihre Kinder mehr Rechte bekommen, das Schulsystem soll kontinuierlich verbessert, Fernunterricht und Weiterbildung sollen gefördert werden. Eine bessere Bildung für die Chinesen ist der Schlüssel zum Erfolg Chinas. Je mehr Chinesen sich bilden können, desto freier und fairer die Gesellschaft. Eine weitere Offensive soll dafür sorgen, dass bis zum Jahr 2010 jeder Ort zumindest ein medizinisches Zentrum hat. Schon heute nutzen Ärzte die westliche Medizin für die Diagnose und die traditionelle chinesische zur Behandlung.
8. Säule: Innovation statt Imitation
China ist noch keine Innovationsgesellschaft. Immer noch hinkt es hinter dem Westen her, was Wissenschaft und Technik betrifft. Obwohl neue Forschungszentren gegründet wurden, steckt die Grundlagenforschung in Kinderschuhen. Es werden z. B. viel weniger Patente angemeldet als in den übrigen Industrienationen. Das wird sich ändern, wenn die Regierung folgende Bereiche verbessert:
- China braucht mehr Universitäten auf internationalem Niveau. Die Professoren sollen die Studenten zu selbstständigem, kreativem Denken ermuntern. Wer nur auswendig lernt, wird keine Ideen entwickeln. Die Universitäten sollten nicht nur Lösungen für die Praxis anbieten, sondern Grundlagenforschung betreiben.
- Der Wettbewerb muss gefördert werden, er treibt Universitäten und Unternehmer zu Spitzenleistungen und Ideen an. Der Staat sollte noch weniger in den Markt eingreifen, Urheberrechte besser schützen sowie das Kartellrecht modernisieren.
- Um Unternehmer zu motivieren, mehr in Forschung und Entwicklung zu investieren, darf die Regierung hier nicht länger Vorschriften machen. Die mittelständische Industrie muss gestärkt werden.
- Chinas Bankwirtschaft ist ein Monopol. Viele große unrentable Staatsbetriebe bekommen Kredite, die den kleinen und mittleren Unternehmen fehlen. Neue Firmen mit neuen Ideen müssen gefördert werden.
Die drei verbotenen T: Tibet, Taiwan, Tian’anmen
Westliche Journalisten und Politiker kritisieren China vor allem wegen dessen Tibet- und Taiwan-Politik sowie wegen der Verletzung der Menschenrechte, wofür die Niederschlagung der Volksproteste auf dem Tian’anmen-Platz 1989 als krassestes Beispiel herangezogen wird.
„China im Jahr 2009: Der einst marode Betrieb ist in ein profitables Unternehmen verwandelt worden, das drittgrößte seiner Art weltweit.“
Es gibt verschiedene Ansichten zu Tibets Geschichte. Die chinesische ist folgende: Bevor die Chinesen in Tibet einmarschiert sind, haben dort Feudalherren die Bevölkerung ausgebeutet. Erst die Chinesen schafften die Sklaverei ab, eröffneten weltliche Schulen und sorgten für fließendes Wasser in der Hauptstadt Lhasa. Die Chinesen sehen sich als Retter, die deshalb regieren dürfen. Zudem genießen Tibeter in China viele Privilegien. Studienbewerber müssen z. B. nur die Hälfte der Punkte erreichen wie Chinesen. Im Chinesischen Volkskongress sind ihnen Sitze garantiert. Die Lage wird sich erst entspannen, wenn die Bildung in Tibet steigt. Das wird allerdings schwierig, solange der Dalai Lama die Tibeter davor warnt, die Sprache Mandarin zu lernen. China und Taiwan sind derzeit daran, eine politische Eiszeit zu beenden. Mittlerweile ist Taiwan Chinas wichtigster Handelspartner. Viele Taiwanesen arbeiten in China. Seit 2008 dürfen Chinesen direkt nach Taiwan reisen und seit 2009 sind Investitionen auf der Insel erlaubt.
„In der Beurteilung Chinas beginnen wenige von einem neutralen Standpunkt aus, und ist eine Meinung erst einmal gebildet, entwickelt sie meist ein Eigenleben.“
Alle Länder haben ihre eigene Geschichte. Deshalb haben sie auch unterschiedliche Vorstellungen von Demokratie und Menschenrechten. Philosophen wie John Locke oder Jean-Jacques Rousseau haben das westliche Verständnis geprägt, wonach das freie Individuum im Zentrum steht. Konfuzianismus, Taoismus und Buddhismus lehren die Chinesen dagegen, sich als Teil eines großen Ganzen zu sehen. Der Westen greift China an, weil das Land in seinen Augen gegen Menschenrechte verstößt und zu wenig zivile und politische Rechte kenne. Aus chinesischer Sicht aber verstößt Amerika gegen Menschenrechte, weil viele Menschen obdachlos oder nicht krankenversichert sind und ungleiche Bildungschancen haben.