Gratis ist nicht umsonst
Als in den USA um 1900 der Wackelpudding erfunden wurde, verstaubte das bunte Pulver jahrelang in den Regalen. Dann brachten Firmenvertreter kostenlose Rezeptbücher unters Volk – und die Nachfrage explodierte. Der wichtigste Werbetrick des 20. Jahrhunderts war erfunden: Verschenke etwas und schaffe so den Bedarf an etwas anderem. Natürlich ist gratis meistens nicht kostenlos. Bei den klassischen Quersubventionen wird Geld zwischen Produkten hin- und hergeschoben, mit den folgenden zwei Spielarten:
- Direkte Quersubvention: Ein Produkt wird kostenlos oder stark reduziert angeboten, damit die Kunden für etwas anderes mehr zahlen.
- Drei-Parteien-Markt: Um an dem kostenlosen Tauschhandel zweier Parteien teilzunehmen, bezahlt ein Dritter. Nach diesem Schema funktionieren z. B. werbefinanzierte Medien: Dem Mediennutzer erscheint der Service kostenlos. Tatsächlich werden die Werbekosten aber auf die von ihm gekauften Produkte umgelegt.
Ein Versprechen wird wahr
Ganz anders ist es mit den Quersubventionen in der Onlineökonomie: Hier ist gratis für die einen wirklich kostenlos, weil die anderen mit ihrem Geld oder ihrer Arbeitszeit bezahlen. Es gibt zwei Möglichkeiten:
- Freemium: Ein Basisangebot wird kostenlos, die Premiumversion aber kostenpflichtig angeboten. Beispiele sind Xing oder Skype.
- Nichtmonetäre Märkte: Jemand verschenkt etwas, ohne eine finanzielle Gegenleistung zu erwarten. Beispiele sind Wikipedia oder das Verschenknetzwerk Freecycle. Die Anreize sind nichtmonetär: Imagegewinn, Spaß oder einfach das Gefühl, Gutes zu tun.
„,Free‘ ist ein Markt, und ein Preis – ganz gleich in welcher Höhe – ist ein anderer Markt. In vielen Fällen ist es der Unterschied zwischen einem großen Markt und gar keinem.“
In der digitalen Ökonomie ist „Free“ kein Trick mehr, um Kunden das Geld aus der Tasche zu ziehen. Die Kosten für viele über das Internet angebotene Waren und Dienstleistungen gehen tatsächlich gegen null. In der Ökonomie der Atome, d. h. nahezu aller Alltagsprodukte, steigen die Preise zwangsläufig. In der Ökonomie der Bits ist es umgekehrt, denn der wichtigste Rohstoff für die Erfindung und Verbesserung von Hightechprodukten sind Ideen. Und die breiten sich aus, ohne Kosten zu verursachen.
Informationen wollen kostenlos sein
Der Autor Stewart Brand prägte 1984 einen Satz, der bis heute oft missverstanden wird: „Informationen wollen kostenlos sein.“ Brand formulierte die Aussage als Teil eines Paradoxes: Einerseits seien seltene Informationen sehr wertvoll; sie zu veröffentlichen werde jedoch immer billiger. In der IT-Welt halten sich beide Ansätze gegenseitig am Leben. Bill Gates etwa verdammte die ersten Raubkopierer in Grund und Boden. Doch er verstand schnell, dass sie Microsoft den roten Teppich ausrollten: Ohne sie wären nie so viele Anwender von Windows abhängig geworden. Auch gegen die Open-Source-Bewegung rund um Linux kämpfte das Unternehmen zunächst erbittert an. Heute hat es sein eigenes Open-Source-Labor und Software, die mit Open Source kompatibel ist. Für sämtliche Varianten auf dem Softwaremarkt gibt es eine Nachfrage: alles umsonst, Gratissoftware mit bezahltem Support oder beides gegen Geld.
Wie Gratis die Kassen klingeln lässt
Google hat zur Geschäftsstrategie gemacht, wovon andere nicht einmal zu träumen wagten: Im Googleplex, der Hochburg von „Free“, hecken Technikfreaks Ideen und Angebote aus, ohne dass irgendjemand die Frage nach dem Einkommensmodell stellt. Google verschenkt vieles und verdient Geld mit wenigen, aber äußerst lukrativen Angeboten – vor allem Werbung. Das Unternehmen revolutioniert die Arbeit mit Computern, indem es lokale Festplatten zunehmend überflüssig macht. Man kann ein ganzes Buch über seinen Webbrowser schreiben und es in Googles „Rechnerwolke“ speichern, einem der vielen Datenzentren des Unternehmens. Deren Leistungsstärke verdoppelt sich alle 18 Monate, und somit sinken die Kosten dafür. Je geringer die Grenzkosten, desto größer sind die Vorteile eines maximalen Marktvolumens. Dies ist die „Max-Strategie“. Mithilfe von Komplementärprodukten wie Google Maps sammelt das Unternehmen wertvolle Informationen über Nutzer, auf deren Basis es später neue Produkte entwickelt und das Werbegeschäft ankurbelt.
„Faule Tricks und Bauernfängereien sind nicht länger ein wesentlicher Bestandteil von ,Free‘.“
Aber haben wir es im Fall der Gratisökonomie nicht mit einer gigantischen Wertvernichtung zu tun, wie viele meinen? Nicht unbedingt. Oft werden Werte nur umverteilt. Beispiel Kleinanzeigen: US-Zeitungsverlage machen den Online-Kleinanzeigendienst Craigslist für Milliardenverluste im Zeitungsgeschäft verantwortlich. Für die Nutzer ist der Service jedoch günstiger und ungleich besser geworden, sodass sie ihre Zeit und ihr Geld in andere Wirtschaftszweige investieren. Und dabei macht das Unternehmen Craigslist nur einen Bruchteil der Gewinne, die den konkurrierenden Zeitungen verloren gegangen sind. Auf Craigslist funktioniert der Markt besser, weil mehr Menschen daran teilnehmen. Ökonomen nennen das Liquidität.
Marktplatz der Ideen
„Free“ ist dabei, die traditionellen Märkte umzuwälzen. Mit Sicherheit wird es einige Verlierer geben. Der Erfolg vieler Gratismodelle beweist aber, dass man mit kreativen und mutigen Ideen sehr gut verdienen kann:
- Werbung: Die traditionelle Werbung funktioniert nach dem Gießkannenprinzip. Alle werden begossen, um einige wenige zu erreichen. Bei der Google-Werbung ist es umgekehrt: Über das Programm AdSense verbindet Google redaktionelle Inhalte mit Werbung. Bei Suchanfragen verweisen Werbeanzeigen auf entsprechende Anbieter, die nur dann zahlen, wenn ihr Link angeklickt wird. Google verkauft also keine Werbeplätze, sondern Verbraucherinteresse. Amazon geht mit seinem Partnerprogramm noch weiter: Hier wird nur gezahlt, wenn der Interessent tatsächlich etwas kauft.
- Videospiele: Die Zeiten, in denen Computerspiele im Laden gekauft oder kopiert wurden, sind vorbei. Heute sind alle großen Online-Mehrspieler-Games wie World of Warcraft (WoW) gratis. Als Spieler können Sie entweder viel Zeit investieren, um voranzukommen, oder sich gegen echtes Geld einen Vorsprung erkaufen. Im Idealfall (für den Hersteller) werden Sie zu einem loyalen Kunden, der jahrelang für Umsatz sorgt. In der virtuellen Welt Second Life haben Sie die Möglichkeit, gegen eine monatliche Pacht, zahlbar in echter Währung, ein eigenes Grundstück zu erwerben. Andere Spiele können Sie in der Basisversion gratis spielen oder mithilfe eines monatlichen Abonnements aufwerten. Manche Spiele werden auch durch Werbung finanziert: von virtuellen Plakatwänden bis hin zum Product-Placement. Und warum nicht einfach die Ökonomien des 20. und 21. Jahrhunderts elegant miteinander verbinden? Der Stofftierhersteller Webkinz verkauft Plüschtiere mit einem Code, der Zugang zu einem virtuellen Spiel im Internet bietet.
- Musik: Den großen Plattenfirmen mag es wegen „Free“ schlecht gehen – der Mehrheit der Musiker aber nicht. Denn die Schlauen unter ihnen nutzen das Internet längst als Werbeplattform. Sie stellen ihre Musik kostenlos zum Download bereit und verdienen ihr Geld mit Konzerten und Merchandising-Artikeln.
- Bücher: Können Sie sich vorstellen, Bücher nur noch auf dem Computerbildschirm zu lesen? Wohl kaum. Möglicherweise wecken kostenlos ins Netz gestellte Inhalte aber Ihr Interesse an einem Autor. Wenn Sie mögen, was er schreibt, kaufen Sie als Nächstes seine Bücher oder Hörbücher. Wenn er Sachbuchautor ist, buchen Sie ihn vielleicht für Vorträge, Seminare oder Beratungsgespräche.
„Jeder hat die Chance, ein Geschäftsmodell um ,Free‘ herum aufzubauen, doch nur die Nummer eins verdient sich damit eine goldene Nase.“
Wie sieht es mit der Kostenkalkulation aus? Rechnen Sie bei einem Freemium-Modell so, dass 5 % zahlende Kunden zur Deckung Ihrer Kosten ausreichen. 10 % wären ideal, und alles, was darüberliegt, ist zu viel. Denn das würde bedeuten, dass die Basisversion nicht attraktiv genug ist, um einen echten Massenmarkt zu erreichen.
Ein Plädoyer für die Verschwendung
Weshalb verwenden wir so viel wertvolle Zeit darauf, im Überfluss Vorhandenes wie ein knappes Gut zu behandeln? Beispiel Speicherplatz: Nach wie vor traktieren IT-Abteilungen ihre Mitarbeiter mit der Bitte, nicht benötigte Dateien zu löschen. Und das in einer Zeit, in der die Kosten für Speichervolumen gegen null gehen – ganz im Gegensatz zur Arbeitszeit. Ein anderes Beispiel: YouTube wird oft als gigantischer, verschwenderischer Marktplatz für Videoschrott gebrandmarkt. Umso besser: Nur wenn genug Platz ist, wird ein Samen auf fruchtbaren Boden fallen, und etwas Neues kann daraus entstehen. Wer hätte z. B. gedacht, dass von Neunjährigen gedrehte Filme, in denen Star Wars mit Legosteinen nachgestellt wird, ein Riesenhit würden? Die Moral für Unternehmer und Manager: Wenn Sie Überfluss verwalten, lassen Sie die Zügel locker und der Kreativität Ihrer Mitarbeiter freien Lauf.
Geld regiert nicht die Welt
Im Internet sind Aufmerksamkeit und Image zu einer eigenen Währung geworden, die sich ziemlich genau messen lässt. Bei Google heißt diese Währung PageRank: Sie zählt und bewertet die Links, die auf eine Website verweisen. Bei Facebook und MySpace ist es die Anzahl von Freunden, die man hat, bei eBay die Bewertung von Käufern und Verkäufern usw. Natürlich bieten auch Profis im Netz ihre Dienste an und verdienen z. B. mit dem Verfassen von Artikeln Geld.
„Sie müssen sich etwas einfallen lassen und kreativ darin sein, wie sich ein guter Ruf und die Aufmerksamkeit, die man Ihnen wegen ,Free‘ schenkt, in klingende Münze umwandeln lässt.“
Doch die Armee der Menschen, die in Blogs, in Hilfsnetzwerken oder auf Wikipedia ihre Zeit unentgeltlich zur Verfügung stellen, ist riesig. Warum? Weil es uns glücklich macht, etwas Sinnvolles zu tun und kreativ zu sein. Das war schon immer so, aber das Internet hat dazu geführt, dass wir dieses Potenzial voll entfalten können.
„,Free‘ mag zwar der beste Preis sein, darf aber nicht der einzige bleiben.“
Die Entwicklung, die das Internet mit seiner Gratisökonomie ausgelöst hat, ist unumkehrbar. Sie müssen also umdenken. Hier die neuen Regeln:
- Alles Digitale wird früher oder später kostenlos sein. Die Grenzkosten für Bits gehen gegen null. Sie haben keine andere Wahl als mitzumachen.
- Auch physische Produkte möchten kostenlos sein. Verschenken Sie Ihr Kernprodukt und verdienen Sie Geld mit etwas anderem.
- „Free“ ist eine Tendenz, die sich nicht aufhalten lässt. Verkaufen Sie lieber Upgrades, als mit allen Mitteln gegen Piraten anzukämpfen.
- Mit „Free“ können Sie Geld verdienen. Nutzen Sie es als Türöffner und verlassen Sie sich darauf, dass Kunden zahlen, wenn Sie ihnen einen Mehrwert bieten.
- Suchen Sie sich einen neuen Markt. Erfinden Sie neue Geschäftsmodelle rund um die etablierten Anbieter.
- Runden Sie die Preise ab. Wer als Erster bei „Free“ ankommt, gewinnt.
- Verschwendung ist ein Grund zur Freude. Wenn etwas so billig wird, dass es sich nicht mehr lohnt, es zu messen und einen Preis dafür zu berechnen, hören Sie damit auf.
- Durch „Free“ erhöht sich der Wert anderer Dinge. Wenn es irgendwo ein Überangebot gibt, wird anderswo etwas knapp. Schöpfen Sie den Wert genau dort ab.
- Passen Sie Ihren Führungsstil dem Überfluss an. Lassen Sie Ihre Mitarbeiter Fehler machen, solange diese kostenlos sind.