Innovationen und Politikdefizite
Seit einigen Jahren erfreut sich ein Begriff absoluter Hochkonjunktur. Politiker, Unternehmer Verbandsvertreter - alle sprechen nur von einem: Innovation. Angesichts der wirtschaftlichen Strukturkrise und des Einbruchs am Arbeitsmarkt sind Innovationen die Rettung. Eine Vielzahl von Bündnissen, runden Tischen und deren Sonderbeauftragten sollen sie institutionalisieren. Ein regelrechter Förderaktionismus ist ausgebrochen: Aufwändige Analysen, technokratisches Innovationsmanagement, umfangreiche betriebliche Neuorganisationen sollen Innovationen programmartig konfektionieren, um so die wirtschaftliche Entwicklung voranzutreiben. Das ist jedoch ein Missverständnis: Ein Herumbasteln an den Symptomen (es sei die Aktion "Green Card" erwähnt) bringt nichts, Sanierung ist keine Lösung. Zwar muss die Politik innovationsfördernde Rahmenbedingungen schaffen, z. B. in Forschung und Entwicklung. Doch wichtiger für die rasche Verbreitung von Neuerungen ist die Kompetenz der Führungskräfte und Mitarbeiter, ohne die jegliche Innovationsbemühung unfruchtbar bleibt. Werden einseitig nur die neuen Techniken gefördert, müssen Innovationen an unangepassten Betriebs- und Personalstrukturen scheitern. Umdenken ist gefragt: Die Beibehaltung der bisherigen Förderstrategien entzieht der Gesellschaft nämlich zudem bedeutende finanzielle und personelle Ressourcen.
Das Schwinden der personellen Basis
Alarmierend kommt hinzu, dass gerade in den Studiengängen der innovativsten Bereiche die Zahl der Studienanfänger erschreckend niedrig ist. Für das Fach Informatik sind zwischen 1990 und 1997 die Zahlen sogar um 10 % zurückgegangen, erst 1998 nahmen sie wieder deutlich zu. Bis jedoch nach einer Abbruchquote von ca. 70 % die entsprechenden Absolventen auf den Arbeitsmarkt gespült werden, sind abermals einige kostbare Jahre verstrichen und frühestens gegen 2004/2005 wird das heutige Niveau überschritten werden. In den Feldern der Biotechnologie/Biochemie sind Zuwächse lediglich als Randerscheinung zu verzeichnen, hinzu kommen - teilweise promotionsbedingt - sehr lange Studienzeiten.
„Innovation setzt neben der Bereitschaft vor allem die Befähigung voraus, neue Ideen mit der Realwelt in Übereinstimmung zu bringen.“
Haben Mitte der neunziger Jahre die neu aufkommenden Märkte von einem Überhang an akademischen Kapazitäten profitieren können, so ist jetzt schon ein Schliessen dieses "Windows of Competence" abzusehen. Aufgrund des Fachkräftemangels ist die ursprüngliche Dynamik der Gründungsaktivitäten im Core-Biotech-Bereich seit 1997 rückläufig, der Boom mit seinen charakteristischen Hockey-Stick-Wachstumskurven (flache Anlaufphase, dann Umsatz- und Beschäftigungswachstum teilweise exponentiell) wird gebremst. Früher mangelte es an Risikokapital, kompetente Fachkräfte waren da, heute hat die Situation sich umgekehrt: Die Venture-Capitalists streiten sich um erfolgsversprechende Unternehmensbeteiligungen.
Das Window of Competence
Die verlockende Aussicht, in einem der grossen Unternehmen eine sichere Karriere machen zu können, hat ein Heer von jungen Menschen in den achtziger Jahren dazu veranlasst, naturwissenschaftliche bzw. technische Ausbildungen zu absolvieren. Doch mit dem neu entstandenen Überangebot an Arbeitskräften, das noch durch Rationalisierungswellen in den Unternehmen verstärkt wurde, standen plötzlich sehr viele hoch qualifizierte Fachkräfte vor der Frage, wo sie ihre Fähigkeiten einsetzen könnten. Dies führte zu einer Umorientierung in Richtung kleine und mittlere Unternehmen oder auch hin zur Selbstständigkeit. Mitte der neunziger Jahre stand das quantitativ grösste naturwissenschaftlich-technische Intelligenzpotenzial auf dem Sprung in das Erwerbsleben, das es in Deutschland je gab. Doch die Absolventenzahlen sind rückläufig und spätestens 2002 schliesst sich das Window of Competence wieder. Ein kläglicher Versuch, von der Stagnation abzulenken, liegt darin, sich auf so genannte Kernkompetenzen zu spezialisieren bzw. zurückzuziehen, statt Kompetenzen auf- und auszubauen. So wird nicht mehr erreicht als ein Zustand höchster Innovationsinkompetenz.
Die Diskrepanz am Arbeitsmarkt
Heute ist selbst ein zügig und mit guten Noten absolviertes Studium keine Garantie mehr für einen erfolgreichen Eintritt in die Berufswelt. Hinzu kommt die immer kürzer werdende Halbwertszeit des Wissens. Das Niveau der Erstausbildung eines Ingenieurs reicht heute bei weitem nicht mehr für eine ganze Karriere! Eine grosse Anzahl qualifizierter Kräfte fällt somit aus dem Arbeitssystem bzw. gelangt erst gar nicht in dieses hinein. Gewerbliche Ausbildungsgänge haben an Prestige und Beliebtheit eingebüsst und gleichzeitig wachsen die zu besetzenden Stellenkontingente im Innovationsbereich. Die berufliche Erstausbildung in Deutschland dauert länger als in anderen Ländern, sie ist realitätsfern und lässt den Arbeitsalltag zu stark aussen vor.
„Erst die Verbindung von Bereitschaft, aktuellem Wissen und praktischer Erfahrung ergibt Innovatorische Kompetenz.“
Die gewerbliche, duale Ausbildung formierte Facharbeiter und Meister, für höhere Aufgaben griff man auf akademische Kräfte zurück, was die wertvolle Praxiserfahrung der ersten Gruppe unterbewertet. Das ganze System bevorzugt die Akademiker. Sie erhalten während ihrer Ausbildung fast überall ermässigte Eintrittspreise und teilweise hohe staatliche Subventionen. Auch die höheren Laufbahnen im öffentlichen Dienst und in Grossbetrieben bleiben fast ausschliesslich den Studierten vorbehalten. Klar, dass die Attraktivität der beruflichen Ausbildung sinkt. Diese Tendenz bewirkte einen krassen Überschuss von Akademikern. In den neunziger Jahren waren allein ca. 90 000 Ingenieure und Naturwissenschaftler arbeitslos. Es mangelte nicht an fachlichem Wissen. Das Problem lag in ihrer Handlungsunfähigkeit aufgrund fehlender Praxiserfahrung. Umfragen zeigten, dass Hochschulabsolventen 6 bis 18 Monate im Unternehmen brauchten, um tatsächlich "fit" zu sein. Ihre Employability (Einsatzfähigkeit) ausserhalb der klassischen Tätigkeitsbereiche war völlig unzureichend.
Schwimmen lernt man nur im Wasser, nicht auf der Schulbank
Die theoretische, auf Wissensvermittlung konzentrierte Hochschulausbildung ist deswegen nicht falsch oder wertlos, sondern als Jobausbildung ungenügend. Das explizite, also das erlernte, theoretische Wissen deckt nur 20 % der notwendigen Kompetenzentwicklung ab. Die übrigen 80 % sind implizites Wissen, also die individuelle Praxiserfahrung, die im bisherigen Bildungssystem der Hochschulen keinen Platz hat. Noch nie wurden junge Leute so lange von der Praxis fern gehalten wie heute. Zaghafte Modelle, die beide Aspekte zu kombinieren versuchen, so z. B. die Berufsakademien, werden bislang von der Politik nur unzulänglich gefördert. Natürlich müssen weiterhin beide Ausbildungswege, der berufliche sowie der akademische, weiterbestehen. Für jeweils 25 % eines Jahrgangs sind beide Pole ideal. Viele junge Menschen haben auch in Eigeninitiative bereits auf hohem Niveau ihre Kompetenzentwicklung selbst in die Hand genommen: Viele Abiturienten lassen sich vor dem Studium traditionell ausbilden und immer mehr Jugendliche besuchen nach der Lehre ein Abendgymnasium. Diese Gruppe ist klüger als die meisten Politiker. Der Praktiker weiss: Was er im Alltag braucht, hat er nicht auf der Schulbank erworben, sondern eben in der Praxis.
„Während forschungsintensive Positionen von den Absolventen zu grossen Teilen gut erschlossen werden, verlaufen berufliche Übergangsprozesse in marktorientierte Tätigkeitsfelder mit wachsender Kundennähe zunehmend defizitär.“
Es gibt in Deutschland einige Ansätze in die richtige Richtung, z. B. die "Kooperative Ingenieursausbildung" oder die nach amerikanischem Vorbild gestaltete "Teaching Factory". Schon 1994 waren in Studienführern 45 duale Studiengänge in 29 Hochschulen in Deutschland erfasst, wobei die Mehrzahl davon dem betriebswirtschaftlichen Feld zuzurechnen sind. Die dualen Studiengänge sind bei den Absolventen in der Regel ausserordentlich beliebt und ergeben für die Studierenden drei wichtige Vorteile:
- Theorie und Praxis werden verzahnt, die berufliche Handlungsfähigkeit und somit die beruflichen Aussichten werden erhöht.
- Ein erheblicher Zeitvorteil ergibt sich durch die Gleichzeitigkeit von Berufsabschluss und Studium.
- Der Arbeitsplatz muss für ein Studium nicht aufgegeben werden.
„Man kann sich in Deutschland eine derartige Vernachlässigung, Verschwendung und Entwertung personeller Innovationspotenziale im Bereich technischer Kompetenzfelder nicht länger leisten.“
Auf Seiten der beteiligten Unternehmen liegen ebenfalls die Vorteile klar auf der Hand:
- Durch Einbindung in den Betrieb wird eine gezielte Personalauswahl und Entwicklung möglich, qualifiziertes Nachwuchspotenzial kann voll ausgeschöpft werden, Fluktuationen werden vermieden.
- Ein Kompetenztransfer aus dem Bereich der (Fach-)Hochschulkräfte findet statt.
- Weiterhin sind geringere Abbrecherquoten, die Einhaltung von Regelstudienzeiten und eine insgesamt höhere Qualität der Ausbildung zu nennen.
Das Kompetenzprofil
Wer ist in der Lage, innovativ zu handeln? Wie muss eine Persönlichkeit beschaffen sein, um Innovationen zu initiieren bzw. offensiv an ihnen zu partizipieren? Es sind immer nur die Ausnahmen unter den wenigen Wagemutigen, die aus Gewohntem herausbrechen, sich über Eingefahrenes hinwegsetzen, Veränderungen suchen und Risiken eingehen. In einer Gesellschaft des zunehmenden Wohlstands werden unbequeme Wege nur ungern beschritten, die Gruppe der handlungsfähigen, kompetenten Persönlichkeiten wird immer geringer.
„Der eigentliche Kompetenzmangel besteht in den Erfahrungs- und Professionalisierungsdefiziten, aktuelles Wissen schnell in innovative Produkte und Dienstleistungen zu überführen.“
Handlungskompetenz erfordert zunächst Handlungsfähigkeit. Sie setzt sich aus drei Bestandteilen zusammen. Das explizite, erlernbare theoretische Wissen bildet die Grundlage (im Zeitalter des Internet, wo Informationen rund um die Uhr abrufbar sind, verliert dieses Wissen natürlich sehr schnell an Wert!). Hinzu kommt das implizite Wissen, das nicht so leicht vermittelbar ist: Es handelt sich um das auf Erfahrung basierende Wissen. Entsprechend ist es an persönliches Engagement des Einzelnen gebunden, denn es resultiert aus eigenen Handlungen und Beobachtungen. Das dritte Element setzt sich aus den Fertigkeiten zusammen: Das ist die Summe des Könnens - aus Routine entstandene, eng umgrenzte und inhaltlich konkret definierbare Verhaltensweisen. Die Handlungsfähigkeit ist jedoch keine statische Grösse. Vielmehr ist sie das Ergebnis eines komplexen Entwicklungsprozesses, der in jedem Individuum durch unterschiedliche Persönlichkeitsentwicklungen anders abläuft. Vergleicht man zwei Menschen mit derselben Qualifikation und demselben Praxishintergrund, wird man dennoch erhebliche Unterschiede feststellen können! Schliesslich reicht die Handlungsfähigkeit allein nicht aus. Es muss auch der Wille zur Handlung vorliegen, die Handlungsbereitschaft, die erst durch entsprechende Anreize geweckt wird.
Kompetenzentwicklung statt Reparaturbildung
Um eine wirksame Innovationsförderung zu betreiben, darf nicht länger von "erkannten Engpässen" aus gedacht werden. Der Aufbau, die Vermittlung und die Weiterentwicklung von Kompetenzen müssen in den Vordergrund gestellt werden. Die potenziellen Innovatoren, also die Personen, die Innovationen tragen sollen, müssen konsequent dazu befähigt werden, aus der Kenntnis von naturwissenschaftlichen und technischen Zusammenhängen heraus neue Produkte und Dienstleistungen sowie Verfahren zu entwickeln. Nur so können wirtschaftliche Erfolge erzielt und langfristig neue Arbeitsplätze geschaffen werden! Ein "Fit", eine Übereinstimmung der von den Unternehmen geforderten technischen Kompetenzprofile mit den Profilen, die den Hochschulen entspringen, ist unbedingt erforderlich. Der Aufbau von Formalqualifikationen reicht hierbei bei weitem nicht aus! Ein innovatives Konzept muss erst herausgebildet werden, um die Kompetenzentwicklung nachhaltig zu sichern. Und auch hier darf wie bei jedem innovativen Prozess die Fragestellung nicht sein, wie so etwas schon woanders erfolgreich realisiert wurde. Neuland muss betreten werden, ein Ausbruch aus tradierten und festgefahrenen Strukturen unternommen werden, um dynamische Umbrüche erfolgreich zu managen.