Blindflug in die Zukunft
Stellen Sie sich vor, Sie betreten während eines Atlantikfluges das Cockpit des Flugzeugs. Dabei machen Sie eine erschreckende Entdeckung: Der Pilot verfügt nur über ein einziges Steuerinstrument, und zwar für die Geschwindigkeit. Auf Ihr Nachfragen hin antwortet er wie selbstverständlich: „Heute konzentriere ich mich nur auf die Geschwindigkeit. Der Höhenmesser war letzte Woche dran.“ Das kommt einem Blindflug gleich. Ganz ehrlich: Würden Sie jemals wieder mit dieser Fluggesellschaft fliegen?
„Die Balanced Scorecard füllt die Lücke, die in den meisten Managementsystemen klafft: der Mangel an systematischen Prozessen zur Durchführung und Rückkopplung der Unternehmensstrategie.“
Ähnlich geht es in vielen Unternehmen zu: Man konzentriert sich auf einzelne, meist aus dem Rechnungswesen hergeleitete Kennzahlen und meint, damit sicher durch alle Turbulenzen des Wettbewerbs zu steuern. Doch in Wirklichkeit brauchen Manager einen ganzen Satz von genau auf das jeweilige Unternehmen und seine Umwelt ausbalancierten Werkzeugen, die sie wie Leuchttürme ans sichere Ufer geleiten. Das traditionelle Rechnungswesen baut zum grossen Teil auf den klassischen Produktionsfaktoren Kapital, Boden und Arbeit auf. Kennzahlen wie die Kapitalrendite konnten im Industriezeitalter wertvolle Informationen darüber geben und gleichzeitig als Masszahl für die effiziente Steigerung des Unternehmenswertes herangezogen werden. Doch im Informationszeitalter spielt das physische Vermögen nicht mehr die gleiche Rolle. Immaterielle Vermögenswerte sind erheblich wichtiger geworden: Know-how, Flexibilität, Kundenbeziehungen, schnelle Innovationszyklen und motivierte Mitarbeiter sind entscheidende Faktoren für den Sieg in einem inzwischen globalen Wettbewerb.
Was die Balanced Scorecard ist ...
Finanzielle Kennzahlen, und dazu gehören Gewinne, sind immer nur vergangenheitsbezogen und helfen isoliert wenig, um den zukünftigen Planungsprozess zu unterstützen. Die Synthese zwischen wichtigen finanziellen Kennzahlen und den treibenden Faktoren zukünftiger Leistungen bildet die Balanced Scorecard. Die „Balance“ ist v. a. darin zu suchen, dass ein Ausgleich zwischen internen Messgrössen (z. B. Prozessoptimierung) und externen Einflüssen (z. B. Kundenzufriedenheit) anzustreben ist. Ausserdem halten sich vergangenheitsbezogene (z. B. Finanzkennzahlen) und zukunftsgerichtete Masszahlen (z. B. Lernpotenzial) die Waage, wie auch quantifizierbare und subjektive Leistungstreiber.
... und was sie Ihrem Unternehmen bringt
Bereits Anfang der neunziger Jahre von Kaplan und Norton in Zusammenarbeit mit mehreren Unternehmen entwickelt, wurde aus dem vernetzten Kennzahlensystem ein vollwertiges Managementsystem, das im Umfeld der strategischen Planung angesiedelt ist. Die einzelnen Ziele werden auf der Scorecard notiert und unmittelbar an die Unternehmensvision oder -strategie gekoppelt. So wird aus den einzelnen Massgrössen in ihrer Gesamtheit ein komplexes Managementsystem, das Ihrem Unternehmen hilft,
- sich über Strategien klar zu werden und diese als Ziele zu formulieren,
- die strategischen Ziele im gesamten Unternehmen zu kommunizieren,
- den Prozess der Planung durchzuführen, z. B. indem langfristige Ziele quantifizierbar gemacht werden und Meilensteine auf dem Weg zur Zielerfüllung festgelegt werden,
- mit verbessertem Feedback zu lernen: Wenn sich während der Ausführung der Strategie plötzlich Prämissen der Planung ändern, muss das Steuer herumgerissen werden.
Die vier Bereiche der Balanced Scorecard
Für den Aufbau einer Balanced Scorecard werden durchschnittlich 25 Kennzahlen aus insgesamt vier Bereichen eingesetzt. Diese Vorgaben sind Praxiswerte und kein Korsett!
1. Erträge steigern: Die finanzwirtschaftliche Perspektive
Finanzwirtschaftliche Kennzahlen spielen auch für die Balanced Scorecard eine grosse Rolle: Sie zeigen an, ob sich die Durchführung der Unternehmensstrategie auch auszahlt. Das Unternehmen kann noch so gute Produkte herstellen und noch so treue Kunden haben: Wenn die Gewinne nicht stimmen oder die Shareholder immer wieder vertröstet werden müssen, wurde das Unternehmensziel verfehlt. Finanzwirtschaftliche Ziele müssen strategisch formuliert werden und sich aus den anderen drei Perspektiven herleiten lassen: So sollte sich an eine Verbesserung der Produktqualität langfristig eine Gewinnsteigerung anschliessen.
„Finanzielle Berichterstattung bleibt in einem Rechnungswesen verankert, das vor Jahrhunderten für kleine Transaktionen zwischen unabhängigen Organisationen entwickelt wurde.“
Darüber hinaus gibt es drei finanzwirtschaftliche Aufgaben, die jeder Geschäftsstrategie zugrunde liegen: 1) Ertragswachstum und -mix: Das Unternehmen muss neue Produkte entwickeln, um veränderten Kundenwünschen Rechnung zu tragen, und vermehrt Produkte herstellen, die einen grossen Anteil an der gesamten Wertschöpfung haben. 2) Kostensenkung und Produktivitätsverbesserung: Steigerung der Erträge pro Mitarbeiter oder Standardisierung von Prozessen tragen zur Kostensenkung bei. 3) Nutzung von Vermögenswerten: Es kann für Unternehmen ein wichtiges Ziel sein, z. B. das Nettoumlaufvermögen wirkungsvoll zu managen. Der Cash-to-Cash-Zyklus ist die Periode, in der Auszahlungen aus Lieferantenrechnungen bereits stattgefunden haben, jedoch der Kunde noch keine Einzahlungen geleistet hat. Es gilt, diesen Zyklus möglichst klein zu halten, damit nicht zu viele Mittel in diesem Prozess gebunden werden.
2. König Kunde: Die Kundenperspektive
Eine wichtige externe Steuergrösse sind Kennzahlen aus der Kundenperspektive. Zu den Kernkennzahlen aus diesem Bereich zählen Marktanteil, Kundentreue, Kundenakquisition, Kundenzufriedenheit und Kundenrentabilität (misst den Nettogewinn durch einen Kunden oder ein Kundensegment unter Abzug der entstandenen Ausgaben). Ausserdem gibt es Wertangebote, die besonders dazu geeignet sind, die Treue und die Zufriedenheit des Kunden zu steigern. Sie sind daher die Leistungstreiber, die auf die Kernkennzahlen einen grossen Einfluss haben können. Dazu gehören:
- Produkt- und Serviceeigenschaften. Funktionalität, Preis und Qualität sind die entscheidenden Faktoren, die das Produkt und die Dienstleistung ausmachen. Wichtig: Unterschiedliche Kunden wollen unterschiedlich bedient werden.
- Image. Was uns Werbung und PR verkaufen wollen: Image ist sehr wohl eine mächtige Einflussgrösse, um Kunden zu gewinnen. Nicht umsonst ist Coca-Cola die teuerste Marke der Welt. In der strategischen Planung sollte berücksichtigt werden, welches Image ein Unternehmen oder Produkt vermitteln will.
- Kundenbeziehungen. Service, Erreichbarkeit, Kompetenz und Reaktionsgeschwindigkeit sind Faktoren, die in die Waagschale geworfen werden, wenn die Qualität der Kundenbeziehungen ermittelt wird.
3. Hort der Wertschöpfung: Die interne Prozessperspektive
Vom Eingang der Bestellung über das Call-Center bis zur Auslieferung: Alle Faktoren, die bei der Herstellung von Produkten eine Rolle spielen, sind Bestandteile des internen Prozesses. Managementsysteme, die auf herkömmlichen Kennzahlen beruhen, konzentrieren sich lediglich auf die Verbesserung und Überwachung bereits existierender Prozesse.
„Finanzielle Kennzahlen zeigen eine, aber nicht alle Seiten vergangener Aktionen und sagen nichts darüber aus, was jetzt oder in der Zukunft für die finanzielle Wertschöpfung getan werden muss.“
Anders die Balanced Scorecard: Der Innovationsprozess ist noch wesentlich wichtiger, weil auf diese Weise die bestehenden Anforderungen übererfüllt werden und durch neue und bessere Produkte auch zukünftige Kunden zufrieden gestellt werden können. Der eigentliche Betriebsprozess ist in den letzten Jahren infolge der Total-Quality-Management(TQM)-Welle besonders in den Vordergrund gerückt worden. Neben Maschinen- und Arbeitseffizienz sind zunehmend Kennzahlen getreten, die dabei helfen, die Qualität der Produkte zu beurteilen. Dazu gehören Fehlerquoten, Nacharbeit, Rücksendungen oder bei Dienstleistungen lange Wartezeiten, ungenaue Informationen oder ineffektive Kommunikation. Die letzte Stufe der internen Wertschöpfungskette ist der Kundendienst.
4. Von nichts kommt nichts: Die Lern- und Entwicklungsperspektive
Die vierte Perspektive schafft die Voraussetzungen für eine lernende und wachsende Organisation. Die Durchsetzung dieser Ziele schafft eine Infrastruktur, mit deren Hilfe die Ziele der anderen drei Perspektiven überhaupt erst angegangen werden können. Nur durch Investitionen in diesem Bereich - und zwar in Mitarbeiterpotenziale, Informationssysteme und Motivation - lassen sich strategische Pläne umsetzen. Heute müssen Mitarbeiter vielfältige Aufgaben im Unternehmen erfüllen: Sich ständig wiederholende Arbeiten sind passé - Mitdenken und eigene Ideen einbringen sind unverzichtbare Eigenschaften, die das Unternehmen fördern muss, will es nicht bald ganz alleine dastehen.
„Die Balanced Scorecard ergänzt finanzielle Kennzahlen vergangener Leistungen um die treibenden Faktoren zukünftiger Leistungen.“
Die Mitarbeiterzufriedenheit ist der treibende Faktor für Produktivität und Personaltreue. Zufriedenheit lässt sich messen: Führen Sie mindestens einmal im Jahr, besser öfters, Umfragen in Ihrem Unternehmen durch, bei denen sich die Mitarbeiter zu Fragen wie Mitbestimmung, Informationszugriff und Betriebsklima äussern können. Daraus lässt sich ein Index erstellen, der auf der Balanced Scorecard festgehalten und mit Kennzahlen wie Produktivität und Treue in Verbindung gesetzt wird. Regelmässige Weiterbildungsmassnahmen sind ein Muss - sonst verlieren Ihre Mitarbeiter den Kampf gegen die ständig ansteigende Informationsflut. Sorgen Sie dafür, dass Mitarbeiter Zugriff auf alle relevanten Informationen haben: Vernetzte Computersysteme helfen dabei, Aufgaben sinnvoll zu verteilen und die Ergebnisse und Ziele allen Mitarbeitern bewusst zu machen.
„Eine Strategie ist definiert als ein Bündel von Hypothesen über Ursachen und Wirkungen.“
In den drei anderen Perspektiven existieren bereits vielfältige bewährte Kennzahlensysteme, während sich für die Lern- und Entwicklungsperspektive nur schwerlich quantifizierbare Grössen finden lassen. Der Grund dafür: Die meisten Unternehmen haben sich bisher überhaupt noch keine Gedanken darüber gemacht, wie sich strategische Ziele mit Mitarbeiterweiterbildung oder Informationsversorgung koppeln lassen. Ein schwerwiegender Fehler, weil die Balanced Scorecard gerade diesen Bereich als den Haupttreiber für die anderen Perspektiven identifiziert.
So geht’s: Die Perspektiven vernetzen und die Scorecard erstellen
Es ist sehr wichtig, dass die eingesetzten Kennzahlen in Ursache-Wirkungs-Beziehungen stehen. Denn: Eine Strategie ist definiert als ein Bündel von Hypothesen über Ursachen und Wirkungen. Einzelne Kennzahlen, die untereinander nicht verknüpft sind, bringen nichts. Nur mit Hilfe von Kausalbeziehungen kann die Scorecard als strategisches Instrument verwendet werden. Wird z. B. die Kapitalrendite als finanzwirtschaftliche Massgrösse herangezogen, so kann ein wiederholter Verkauf von Produkten an Stammkunden darauf einen positiven Einfluss haben (Kundenperspektive). Eine Analyse der Kundenwünsche führt zu der Erkenntnis, dass v. a. die pünktliche Lieferung wichtig für die Zufriedenheit der Kunden ist. Pünktliche Lieferungen werden also als messbare und damit quantifizierbare Grössen genauso wie die subjektive Kundenzufriedenheit in die Scorecard aufgenommen.
„Der Innovationsprozess als langfristiger Aspekt der Wertschöpfung ist für viele Unternehmen für zukünftige finanzielle Leistungen wirkungsvoller als der kurzfristige Handlungszyklus.“
Wenn der Fokus auf die internen Prozesse kommt, muss sich das Unternehmen die Frage stellen, welche Prozesse verbessert werden müssen, um immer pünktlich liefern zu können. Dabei könnte sich herausstellen, dass für eine pünktliche Lieferung v. a. kürzere Durchlaufzeiten wichtig sind. Eine Massgrösse wie „Effektivität des Fertigungszyklus“ liesse sich nahtlos in die Kausalbeziehung integrieren.
„Letztendlich hängt die Fähigkeit, ehrgeizige Vorgaben für finanzielle, interne und Kundenziele zu erfüllen, von dem Innovationspotenzial des Unternehmens ab.“
Doch wie kann diese Effektivität gesteigert und somit bessere Durchlaufzeit erreicht werden? Das ist durch die Weiterbildung der Mitarbeiter möglich, deren Fachwissen einen unmittelbaren Einfluss auf die Fertigungseffektivität hat (Lern- und Entwicklungsperspektive). Die Kausalbeziehungen über alle vier Ebenen der Balanced Scorecard liessen sich also auf die Kurzformel bringen: „Fachwissen der Mitarbeiter“ beschleunigt „Prozessdurchlaufzeit“ ermöglicht „Pünktliche Lieferung“ erhöht „Kundentreue“ steigert „Kapitalrendite“.