Kapitalismus: Religion ohne Dogma
Der Kapitalismus ist eine Religion ohne Dogma. Das macht ihn wandelbar und anpassungsfähig. Dachten Sie bisher, der Kern der kapitalistischen Idee bestehe in der Dreieinigkeit von Deregulierung, Zurückdrängung der Staatsmacht und egoistischem Denken? Falls der Kapitalismus einst so gewesen sein sollte, so hat spätestens die weltweite Finanz- und Wirtschaftskrise ab 2007 diese Inhalte über den Haufen geworfen: Jetzt rufen Unternehmer nach dem Staat, Banken fordern Regulierung und die Versager scheiden nicht aus dem Markt aus, sondern werden gerettet. Die Antwort auf die Krise besteht bislang darin, die überbordende Verschuldung durch noch höhere Verschuldung zu lindern. Nicht wenige hoffen, dass es so weitergehen kann wie vorher. Um künftig das Ausufern von Krisen zu verhindern, wird am Kapitalismus ein bisschen herumgebastelt. Das ist einerseits sinnvoll, denn ein Systemwechsel hin zum Sozialismus – der anderen atheistischen Ersatzreligion – kommt nicht infrage. Andererseits genügen ein paar Reformen am Finanzmarkt nicht. Nötig ist vielmehr eine grundlegende Erneuerung des Kapitalismus – eine Reformation, wie sie Luther und Calvin einst am damals ebenfalls alternativlosen Christentum vollzogen haben.
Die ultraliberale Ideologie
In den vergangenen drei Jahrzehnten herrschte im kapitalistischen System eine Ideologie der Gier und des übersteigerten Egoismus. Diese mentale Haltung war eine der Ursachen für die Börsen- und Immobilienpreisexzesse. Eine andere Ursache war die Bereitschaft von Exportnationen wie China, Deutschland, Japan und der Schweiz, die amerikanische Schuldenorgie zu finanzieren. Die Abschaffung der Hürden für grenzüberschreitende Kapitalströme führte zu einem sprunghaften Anstieg der Spekulation, auch wenn Schwellenländer wie China dadurch Kapital für ihr Wachstum erhielten. Die Regierungen förderten den Kapitalverkehr nicht allein durch Deregulierung, sondern auch durch eine immer geringere Besteuerung des mobil gewordenen Produktionsfaktors Kapital. Ultraliberale Ideologen rechtfertigten diese Steuersenkungen mit dem Argument, der Staat sei ohnehin ein Geldverschwender. Dass die dank Steuererleichterung verfügbaren Gelder in Spekulationen flossen, deren Folgen nun mit Steuergeld geheilt werden müssen, ist eine Erkenntnis aus der Finanzkrise. Die ultraliberale Ideologie ist falsch: Die Staaten benötigen nicht weniger, sondern immer mehr Geld, um ihre Aufgaben wahrzunehmen. Die Länder müssen ihre Bildungs-, Gesundheits-, Sozial- und Verkehrsinfrastruktur modernisieren, während die USA ihre weltweiten militärischen Ambitionen zu stemmen haben. Sollen nicht allein die Arbeitnehmer diese Zeche zahlen, müssen die Steuern auf Kapital wieder steigen.
„Trotz gewaltiger Wirtschafts- und Wertekrise ist bislang kein Anbeter des Kapitalismus vom Glauben abgefallen: weil es keinen anderen Glauben gibt.“
Zehn Schwächen des Marktes
- Märkte vernachlässigen nichtökonomische Werte.
- Märkte tendieren dazu, die Mentalität der Gesellschaft zu prägen.
- Märkte selektieren zwischen erfolgreichen und erfolglosen Menschen.
- Märkte spiegeln nicht immer die Interessen vieler wider, sondern die einzelner Marktmächtiger.
- Politische Macht bedeutet wirtschaftliche Macht. Beispiel: Die USA können sich im Ausland ohne Wechselkursrisiken verschulden, weil ihr Dollar die Leitwährung ist.
- Wirtschaftliche Macht kauft sich politische Macht – siehe Parteispenden.
- Nicht allein die Konkurrenz auf dem Markt sorgt für Innovationen, sondern auch die staatliche Kooperation (z. B. in der Raumfahrt).
- Rund um die eigentlichen Produkte hat sich eine Marktbürokratie (Kleingedrucktes, Meilensammeln, Hotlinegespräche etc.) entwickelt, die den Verbraucher überfordert.
- Marktwirtschaft schont die Ressourcen nicht.
- Märkte sind krisenanfällig.
Mischwirtschaft statt Markt kontra Staat
Es ist überholt, dem Staat Unfähigkeit und dem Markt Allwissenheit zuzuschreiben. Allerdings können natürlich auch staatliche Akteure irren. Heute muss es schlicht darum gehen, dass Staat und Markt besser als bisher zusammenarbeiten. Weite Teile unserer Wirtschaft sind ohne staatliche Einflüsse undenkbar. Rund 50 % der Volkswirtschaft westlicher Industrieländer werden staatlich gesteuert – so hoch ist der staatliche Anteil am Volkseinkommen. Öffentliche Verkehrsinfrastruktur, Bildungsangebote und Forschungsförderung ermöglichen privates Wirtschaften; staatliche Rüstungsaufträge ernähren Hightechunternehmen; Subventionen stützen Unternehmen von der Landwirtschaft bis hin zur Kernkraft. So wie der Staat durch seine Tätigkeit marktähnliche Züge angenommen hat, tragen Konzerne Merkmale der Planwirtschaft. Sie stellen Pläne auf, setzen sich Ziele. Ihre innere Struktur ist totalitär angelegt. Den Markt zu beherrschen und zu beeinflussen, kommt Managern viel eher in den Sinn, als sich ihm zu unterwerfen.
Demokratie soll die Märkte dominieren, nicht umgekehrt
Der Staat muss wieder unabhängiger von der privaten Wirtschaft werden. Die amerikanische Bank Goldman Sachs ist ein extremes Beispiel für die Macht, die Lobbyisten in kapitalistischen Staaten mittlerweile in den Händen halten. Die Bank stellte gerade erst zwei US-Finanzminister und den Stabschef des Präsidenten – und nun sogar den Verwalter des Rettungsfonds. Banker riefen in den 1980er Jahren den internationalen Standort- und Steuerwettbewerb aus und spannten ihre Regierungen dafür ein. Sie hatten leichtes Spiel. Staatsdiener werden oft so schlecht bezahlt, dass fähige Nachwuchskräfte fehlen. Statt der Behörden schreiben Kanzleien Gesetze. Lobbyisten bleiben nicht mehr in der Lobby, sondern nehmen in den Ministerien Platz. In einer Demokratie darf aber nicht nur das Recht der Starken gelten. Die Privatisierungen der vergangenen Jahre haben die Demokratie geschwächt. Der Einfluss des Staates, der Spielraum der Politik, der Bürgersinn fürs Gemeinwohl – all dies ist kleiner geworden. Eine neue Politik muss die Institutionen des Staates stärken und das Primat der Wirtschaftsvertreter brechen.
Das „Diktat der kurzen Frist“
Das protestantische Arbeitsethos war mitverantwortlich für den Aufstieg der westlichen Industriestaaten. Dieses Arbeitsethos ist erodiert. An die Stelle des Ideals der langfristig orientierten, soliden und harten Arbeit ist die Gier nach schnellem Geld, nach günstigen Quartalsabschlüssen, nach Megaanreizen wie Millionenboni getreten. Das hektische Kommen und Gehen der Firmenlenker spiegelt die neue Doktrin wider: das Diktat der kurzen Frist. Die Hektik verdrängt die Ruhe, der Reflex die Reflexion – und das erstaunlicherweise ausgerechnet in einer Zeit, in der „Nachhaltigkeit“ ganz oben auf der Wunschliste steht. Finanzmärkte, die sich im Hochgeschwindigkeitsrausch befinden, bieten keine geeigneten Lösungen für die Verunsicherung der Menschen, die sich der Globalisierung, dem Strukturwandel, dem Terrorismus und neuen Technologien gegenübersehen. Statt sich am Treiben auf den Finanzmärkten ein Beispiel zu nehmen, sollten Bürger und Politiker den Spieß umdrehen: Schädliche Spekulationsformen sollten verboten werden, Bonussysteme sind auf die lange Frist auszurichten. Das dient der Nachhaltigkeit des Wirtschaftens.
Umgestalten, nicht neu erfinden
Der Kapitalismus braucht einen neuen Rahmen, denn der alte hat zu grobe Macken. Die Arbeitsteilung, wonach der Markt agiert und der Staat lediglich die Schäden repariert, trägt nicht länger. Der neue Kapitalismus nutzt den Eigennutz der Menschen, begrenzt diesen aber auch. Er akzeptiert das Streben, Gewinne zu erzielen, stellt dieses Ziel aber auf eine Stufe mit ökologischen und sozialen Zielen. Er wird etwas weniger Wachstum und Dynamik entfalten, dafür aber weniger Krisen kennen. Dahinter steckt kein Masterplan, kein komplett neues Gesellschaftsmodell. Wer einen neuen Kapitalismus wünscht, will das bestehende System weiterentwickeln, nicht am Reißbrett ein neues konstruieren. Man sollte sich nicht von Ultraliberalen einreden lassen, jeder Versuch, das kapitalistische System bewusst umzugestalten, sei Ausdruck von Selbstüberschätzung und zum Scheitern verurteilt. Die Marktwirtschaft lebt von Eigeninitiative. Warum nicht auch von Initiativen, den Kapitalismus ökosozial zu gestalten?
Elemente eines neuen Kapitalismus
„Eigentum“ ist ein zentraler Begriff des Kapitalismus. Dass Eigentum verpflichtet, steht im deutschen Grundgesetz. Diese Verpflichtung ist künftig zu verstärken. Wer hat, soll mehr geben als bisher. Ein Pharmakonzern, der ein Aids-Medikament entwickelt hat, soll dieses beispielsweise in Afrika zum Selbstkostenpreis anbieten. Derart solidarisches Marktverhalten entlastet den Staat – er ist nicht länger der Reparaturbetrieb der Märkte.
„Nirgends herrscht mehr Vertrauen, nirgends fühlen wir uns so aufgehoben wie in den Freiräumen, in denen die Gesetze der Ökonomie nicht gelten.“
Die allzu üppige Versorgung der Wirtschaft mit Geld wird von vielen als ein Grund für die Finanzkrise betrachtet. Theoretisch mögliche Alternativen zur derzeitigen Geldversorgung wären das so genannte Schwundgeld oder das Vollgeld. Beim Schwundgeld wird alles Geld, das nicht produktiv angelegt ist, mit einer Nutzungsgebühr versehen. Spekulation wäre dann unattraktiver als heute. Beim Vollgeldmodell dürften die Banken nur noch so viel Geld als Kredit an ihre Kunden ausleihen, wie ihnen die Zentralbank zur Verfügung gestellt hat. Die Banken könnten also keine Geldschöpfung mehr betreiben.
Diese Regulierungen sind angebracht
Diejenigen Länder mit der stärksten Bankenregulierung haben die gesündesten Bankensysteme. Eine staatliche Regulierung in der Krise könnte so aussehen: Bevor Firmen Steuergelder erhalten, müssen die Aktionäre bluten. Sie werden enteignet. Künftige Privatisierungsgewinne gehören dem Staat. Systemrelevante Firmen – die zu groß sind, um fallen gelassen zu werden – müssen für die staatliche Bestandsgarantie eine Art Versicherungsgebühr bezahlen oder aufgeteilt werden. Banker und Manager müssen stärker als bisher in Haftung genommen werden. Die Eigenbeteiligung von Finanzinstituten bei riskanten Geschäften ist zu erhöhen. Quartalsberichte von Unternehmen sind von Staats wegen zu verbieten und Managergehälter zu begrenzen. Internationale Devisengeschäfte sind zu besteuern. Tarifabschlüsse sollen die Kaufkraft der Arbeitnehmer stärken. Das schmälert zwar z. B. die deutsche Exportkraft, stärkt aber die deutsche Nachfrage nach aus- und inländischen Produkten – und hilft damit, die Weltwirtschaft zu stabilisieren.
Ein neuer alter Name für die Wirtschaftswissenschaft
Die klassische Ökonomie und die ultraliberale Ideologie orientieren sich einseitig am Menschenbild des Homo oeconomicus, des superrationalen Eigennutzenmaximierers. Dabei hat in der Evolution nicht nur die Konkurrenz den Menschen vorangebracht, sondern auch die Solidarität. Ökonomen haben in den vergangenen Jahrzehnten regelrecht demütig darauf verzichtet, über Systemfragen nachzudenken. Sie halfen mit, das Räderwerk des Kapitalismus in Schwung zu halten, erkannten aber nicht dessen Konstruktionsfehler. Der indische Ökonom Amartya Sen blieb in dieser Hinsicht unter den Wirtschaftsnobelpreisträgern die Ausnahme. Ihm schwebt eine Wirtschaft vor, die nicht nur dem Besitz- und Gewinnstreben dient. Sein „Human Development Index“ bezieht, anders als der omnipräsente Index des Bruttosozialprodukts, auch Kategorien wie Lebenserwartung und Alphabetisierungsgrad mit ein. Welche Ziele als Fortschrittsindikatoren und damit als erstrebenswert in einen Wachstumsmaßstab aufgenommen werden sollen, ist letztlich eine politische Entscheidung. Darum wäre es an der Zeit, dass sich die Wirtschaftswissenschaft – so wie früher – wieder als „Politische Ökonomie“ bezeichnet.