Nach der Krise

Buch Nach der Krise

Gibt es einen anderen Kapitalismus?

Nagel & Kimche,


Rezension

Der Kap­i­tal­is­mus ist tot, es lebe der Kap­i­tal­is­mus! Die weltweite Finanz- und Wirtschaft­skrise gibt Anlass zur Sys­temkri­tik, doch einen Sys­temwech­sel fordert kaum einer – auch nicht Roger de Weck. Allerdings stellt der ehemalige Chefredak­teur der Zeit und des Tages-Anzeigers die Schwächen des Kap­i­tal­is­mus ins Zentrum. So treffsicher seine Analyse ist, so kleinteilig fällt das Ergebnis aus. Das skizzierte ökosoziale Re­form­pro­jekt besteht aus lauter zarten Pflanzen, in deren Ansammlung nicht jeder Leser einen her­anwach­senden Wald erkennen wird. De Weck, der das Hektische am Kap­i­tal­is­mus anprangert, eilt selbst von rechts nach links und von groß zu klein. Das ist un­ter­halt­sam, aber der Streifzug lässt jene ratlos zurück, die auf manche Fragen eine handfeste Antwort haben wollen – darunter so gewichtige wie jene nach der Zukunft der Zen­tral­banken oder der Ak­tienge­sellschaften. Trotzdem ist das Buch sehr lesenswert, und BooksInShort empfiehlt es allen, die mit dem feingeisti­gen Roger de Weck über Optionen nach der Krise nachdenken wollen.

Take-aways

  • Kap­i­tal­is­mus ist eine Religion ohne Dogma – das macht ihn anpassungsfähig.
  • Die Ideologen der letzten 30 Jahre glaubten an Markt und Dereg­ulierung.
  • Diese ul­tra­l­ib­eralen Ideen haben in der weltweiten Finanzkrise Schiffbruch erlitten.
  • Die Schwächung des Staates hat letztlich auch der Wirtschaft geschadet.
  • Sozialismus ist keine Alternative.
  • Der Kap­i­tal­is­mus benötigt einen neuen, glob­al­isierungstauglichen Rahmen.
  • Es gibt zu viele Lobbyisten in den politischen Gremien.
  • Die Steuern auf Kapitalerträge, die immer weiter gesunken sind, müssen wieder steigen.
  • Die Un­ternehmenstätigkeit muss nach­haltiger werden, z. B. durch das Verbot von Quar­tals­berichten.
  • Schädliche Speku­la­tions­for­men sollten verboten werden, Bonussys­teme sind auf die lange Frist auszurichten.
 

Zusammenfassung

Kap­i­tal­is­mus: Religion ohne Dogma

Der Kap­i­tal­is­mus ist eine Religion ohne Dogma. Das macht ihn wandelbar und anpassungsfähig. Dachten Sie bisher, der Kern der kap­i­tal­is­tis­chen Idee bestehe in der Dreieinigkeit von Dereg­ulierung, Zurückdrängung der Staatsmacht und ego­is­tis­chem Denken? Falls der Kap­i­tal­is­mus einst so gewesen sein sollte, so hat spätestens die weltweite Finanz- und Wirtschaft­skrise ab 2007 diese Inhalte über den Haufen geworfen: Jetzt rufen Unternehmer nach dem Staat, Banken fordern Regulierung und die Versager scheiden nicht aus dem Markt aus, sondern werden gerettet. Die Antwort auf die Krise besteht bislang darin, die überbordende Ver­schul­dung durch noch höhere Ver­schul­dung zu lindern. Nicht wenige hoffen, dass es so weitergehen kann wie vorher. Um künftig das Ausufern von Krisen zu verhindern, wird am Kap­i­tal­is­mus ein bisschen herumge­bastelt. Das ist einerseits sinnvoll, denn ein Sys­temwech­sel hin zum Sozialismus – der anderen athe­is­tis­chen Er­satzre­li­gion – kommt nicht infrage. An­der­er­seits genügen ein paar Reformen am Finanzmarkt nicht. Nötig ist vielmehr eine grundle­gende Erneuerung des Kap­i­tal­is­mus – eine Reformation, wie sie Luther und Calvin einst am damals ebenfalls al­ter­na­tivlosen Christentum vollzogen haben.

Die ul­tra­l­ib­erale Ideologie

In den vergangenen drei Jahrzehnten herrschte im kap­i­tal­is­tis­chen System eine Ideologie der Gier und des übersteigerten Egoismus. Diese mentale Haltung war eine der Ursachen für die Börsen- und Im­mo­bilien­prei­sexzesse. Eine andere Ursache war die Bere­itschaft von Ex­port­na­tio­nen wie China, Deutschland, Japan und der Schweiz, die amerikanis­che Schulde­norgie zu finanzieren. Die Abschaffung der Hürden für grenzüberschre­i­t­ende Kapitalströme führte zu einem sprung­haften Anstieg der Spekulation, auch wenn Schwellenländer wie China dadurch Kapital für ihr Wachstum erhielten. Die Regierungen förderten den Kap­i­talverkehr nicht allein durch Dereg­ulierung, sondern auch durch eine immer geringere Besteuerung des mobil gewordenen Pro­duk­tions­fak­tors Kapital. Ul­tra­l­ib­erale Ideologen recht­fer­tigten diese Steuersenkun­gen mit dem Argument, der Staat sei ohnehin ein Geld­ver­schwen­der. Dass die dank Steuer­erle­ichterung verfügbaren Gelder in Speku­la­tio­nen flossen, deren Folgen nun mit Steuergeld geheilt werden müssen, ist eine Erkenntnis aus der Finanzkrise. Die ul­tra­l­ib­erale Ideologie ist falsch: Die Staaten benötigen nicht weniger, sondern immer mehr Geld, um ihre Aufgaben wahrzunehmen. Die Länder müssen ihre Bildungs-, Gesund­heits-, Sozial- und Verkehrsin­fra­struk­tur mod­ernisieren, während die USA ihre weltweiten militärischen Ambitionen zu stemmen haben. Sollen nicht allein die Ar­beit­nehmer diese Zeche zahlen, müssen die Steuern auf Kapital wieder steigen.

„Trotz gewaltiger Wirtschafts- und Wertekrise ist bislang kein Anbeter des Kap­i­tal­is­mus vom Glauben abgefallen: weil es keinen anderen Glauben gibt.“

Zehn Schwächen des Marktes

  1. Märkte vernachlässigen nichtökonomische Werte.
  2. Märkte tendieren dazu, die Mentalität der Gesellschaft zu prägen.
  3. Märkte selektieren zwischen er­fol­gre­ichen und erfolglosen Menschen.
  4. Märkte spiegeln nicht immer die Interessen vieler wider, sondern die einzelner Marktmächtiger.
  5. Politische Macht bedeutet wirtschaftliche Macht. Beispiel: Die USA können sich im Ausland ohne Wech­selkursrisiken verschulden, weil ihr Dollar die Leitwährung ist.
  6. Wirtschaftliche Macht kauft sich politische Macht – siehe Parteis­penden.
  7. Nicht allein die Konkurrenz auf dem Markt sorgt für In­no­va­tio­nen, sondern auch die staatliche Kooperation (z. B. in der Raumfahrt).
  8. Rund um die eigentlichen Produkte hat sich eine Marktbürokratie (Kleinge­druck­tes, Meilen­sam­meln, Hot­li­nege­spräche etc.) entwickelt, die den Verbraucher überfordert.
  9. Mark­twirtschaft schont die Ressourcen nicht.
  10. Märkte sind krisenanfällig.

Mis­chwirtschaft statt Markt kontra Staat

Es ist überholt, dem Staat Unfähigkeit und dem Markt All­wis­senheit zuzuschreiben. Allerdings können natürlich auch staatliche Akteure irren. Heute muss es schlicht darum gehen, dass Staat und Markt besser als bisher zusam­me­nar­beiten. Weite Teile unserer Wirtschaft sind ohne staatliche Einflüsse undenkbar. Rund 50 % der Volk­swirtschaft westlicher Industrieländer werden staatlich gesteuert – so hoch ist der staatliche Anteil am Volk­seinkom­men. Öffentliche Verkehrsin­fra­struk­tur, Bil­dungsange­bote und Forschungsförderung ermöglichen privates Wirtschaften; staatliche Rüstungsaufträge ernähren High­techunternehmen; Sub­ven­tio­nen stützen Unternehmen von der Land­wirtschaft bis hin zur Kernkraft. So wie der Staat durch seine Tätigkeit marktähnliche Züge angenommen hat, tragen Konzerne Merkmale der Plan­wirtschaft. Sie stellen Pläne auf, setzen sich Ziele. Ihre innere Struktur ist totalitär angelegt. Den Markt zu beherrschen und zu bee­in­flussen, kommt Managern viel eher in den Sinn, als sich ihm zu unterwerfen.

Demokratie soll die Märkte dominieren, nicht umgekehrt

Der Staat muss wieder unabhängiger von der privaten Wirtschaft werden. Die amerikanis­che Bank Goldman Sachs ist ein extremes Beispiel für die Macht, die Lobbyisten in kap­i­tal­is­tis­chen Staaten mit­tler­weile in den Händen halten. Die Bank stellte gerade erst zwei US-Fi­nanzmin­is­ter und den Stabschef des Präsidenten – und nun sogar den Verwalter des Ret­tungs­fonds. Banker riefen in den 1980er Jahren den in­ter­na­tionalen Standort- und Steuer­wet­tbe­werb aus und spannten ihre Regierungen dafür ein. Sie hatten leichtes Spiel. Staats­di­ener werden oft so schlecht bezahlt, dass fähige Nachwuchskräfte fehlen. Statt der Behörden schreiben Kanzleien Gesetze. Lobbyisten bleiben nicht mehr in der Lobby, sondern nehmen in den Ministerien Platz. In einer Demokratie darf aber nicht nur das Recht der Starken gelten. Die Pri­vatisierun­gen der vergangenen Jahre haben die Demokratie geschwächt. Der Einfluss des Staates, der Spielraum der Politik, der Bürgersinn fürs Gemeinwohl – all dies ist kleiner geworden. Eine neue Politik muss die In­sti­tu­tio­nen des Staates stärken und das Primat der Wirtschaftsvertreter brechen.

Das „Diktat der kurzen Frist“

Das protes­tantis­che Ar­beit­sethos war mitver­ant­wortlich für den Aufstieg der westlichen In­dus­tri­es­taaten. Dieses Ar­beit­sethos ist erodiert. An die Stelle des Ideals der langfristig ori­en­tierten, soliden und harten Arbeit ist die Gier nach schnellem Geld, nach günstigen Quar­talsab­schlüssen, nach Megaan­reizen wie Mil­lio­nen­boni getreten. Das hektische Kommen und Gehen der Fir­men­lenker spiegelt die neue Doktrin wider: das Diktat der kurzen Frist. Die Hektik verdrängt die Ruhe, der Reflex die Reflexion – und das er­staunlicher­weise aus­gerech­net in einer Zeit, in der „Nach­haltigkeit“ ganz oben auf der Wunschliste steht. Finanzmärkte, die sich im Hochgeschwindigkeit­srausch befinden, bieten keine geeigneten Lösungen für die Verun­sicherung der Menschen, die sich der Glob­al­isierung, dem Struk­tur­wan­del, dem Terrorismus und neuen Tech­nolo­gien gegenübersehen. Statt sich am Treiben auf den Finanzmärkten ein Beispiel zu nehmen, sollten Bürger und Politiker den Spieß umdrehen: Schädliche Speku­la­tions­for­men sollten verboten werden, Bonussys­teme sind auf die lange Frist auszurichten. Das dient der Nach­haltigkeit des Wirtschaftens.

Umgestalten, nicht neu erfinden

Der Kap­i­tal­is­mus braucht einen neuen Rahmen, denn der alte hat zu grobe Macken. Die Ar­beit­steilung, wonach der Markt agiert und der Staat lediglich die Schäden repariert, trägt nicht länger. Der neue Kap­i­tal­is­mus nutzt den Eigennutz der Menschen, begrenzt diesen aber auch. Er akzeptiert das Streben, Gewinne zu erzielen, stellt dieses Ziel aber auf eine Stufe mit ökologischen und sozialen Zielen. Er wird etwas weniger Wachstum und Dynamik entfalten, dafür aber weniger Krisen kennen. Dahinter steckt kein Masterplan, kein komplett neues Gesellschaftsmod­ell. Wer einen neuen Kap­i­tal­is­mus wünscht, will das bestehende System weit­er­en­twick­eln, nicht am Reißbrett ein neues kon­stru­ieren. Man sollte sich nicht von Ul­tra­l­ib­eralen einreden lassen, jeder Versuch, das kap­i­tal­is­tis­che System bewusst umzugestal­ten, sei Ausdruck von Selbstüberschätzung und zum Scheitern verurteilt. Die Mark­twirtschaft lebt von Eigenini­tia­tive. Warum nicht auch von Initiativen, den Kap­i­tal­is­mus ökosozial zu gestalten?

Elemente eines neuen Kap­i­tal­is­mus

„Eigentum“ ist ein zentraler Begriff des Kap­i­tal­is­mus. Dass Eigentum verpflichtet, steht im deutschen Grundgesetz. Diese Verpflich­tung ist künftig zu verstärken. Wer hat, soll mehr geben als bisher. Ein Phar­makonz­ern, der ein Aids-Medika­ment entwickelt hat, soll dieses beispiel­sweise in Afrika zum Selb­stkosten­preis anbieten. Derart sol­i­darisches Mark­tver­hal­ten entlastet den Staat – er ist nicht länger der Reparaturbe­trieb der Märkte.

„Nirgends herrscht mehr Vertrauen, nirgends fühlen wir uns so aufgehoben wie in den Freiräumen, in denen die Gesetze der Ökonomie nicht gelten.“

Die allzu üppige Versorgung der Wirtschaft mit Geld wird von vielen als ein Grund für die Finanzkrise betrachtet. Theoretisch mögliche Al­ter­na­tiven zur derzeitigen Geld­ver­sorgung wären das so genannte Schwundgeld oder das Vollgeld. Beim Schwundgeld wird alles Geld, das nicht produktiv angelegt ist, mit einer Nutzungsgebühr versehen. Spekulation wäre dann un­at­trak­tiver als heute. Beim Voll­geld­mod­ell dürften die Banken nur noch so viel Geld als Kredit an ihre Kunden ausleihen, wie ihnen die Zentralbank zur Verfügung gestellt hat. Die Banken könnten also keine Geldschöpfung mehr betreiben.

Diese Reg­ulierun­gen sind angebracht

Diejenigen Länder mit der stärksten Banken­reg­ulierung haben die gesündesten Banken­sys­teme. Eine staatliche Regulierung in der Krise könnte so aussehen: Bevor Firmen Steuergelder erhalten, müssen die Aktionäre bluten. Sie werden enteignet. Künftige Pri­vatisierungs­gewinne gehören dem Staat. Sys­tem­rel­e­vante Firmen – die zu groß sind, um fallen gelassen zu werden – müssen für die staatliche Be­stands­garantie eine Art Ver­sicherungs­gebühr bezahlen oder aufgeteilt werden. Banker und Manager müssen stärker als bisher in Haftung genommen werden. Die Eigen­beteili­gung von Fi­nanzin­sti­tuten bei riskanten Geschäften ist zu erhöhen. Quar­tals­berichte von Unternehmen sind von Staats wegen zu verbieten und Managergehälter zu begrenzen. In­ter­na­tionale De­visen­geschäfte sind zu besteuern. Tarifabschlüsse sollen die Kaufkraft der Ar­beit­nehmer stärken. Das schmälert zwar z. B. die deutsche Exportkraft, stärkt aber die deutsche Nachfrage nach aus- und inländischen Produkten – und hilft damit, die Weltwirtschaft zu sta­bil­isieren.

Ein neuer alter Name für die Wirtschaftswis­senschaft

Die klassische Ökonomie und die ul­tra­l­ib­erale Ideologie orientieren sich einseitig am Men­schen­bild des Homo oeconomicus, des su­per­ra­tionalen Eigen­nutzen­max­imier­ers. Dabei hat in der Evolution nicht nur die Konkurrenz den Menschen vo­r­ange­bracht, sondern auch die Solidarität. Ökonomen haben in den vergangenen Jahrzehnten regelrecht demütig darauf verzichtet, über Sys­tem­fra­gen nachzu­denken. Sie halfen mit, das Räderwerk des Kap­i­tal­is­mus in Schwung zu halten, erkannten aber nicht dessen Kon­struk­tions­fehler. Der indische Ökonom Amartya Sen blieb in dieser Hinsicht unter den Wirtschaft­sno­bel­preisträgern die Ausnahme. Ihm schwebt eine Wirtschaft vor, die nicht nur dem Besitz- und Gewinnstreben dient. Sein „Human Development Index“ bezieht, anders als der omnipräsente Index des Brut­tosozial­pro­dukts, auch Kategorien wie Lebenser­wartung und Al­pha­betisierungs­grad mit ein. Welche Ziele als Fortschrittsindika­toren und damit als er­strebenswert in einen Wachstumsmaßstab aufgenommen werden sollen, ist letztlich eine politische Entschei­dung. Darum wäre es an der Zeit, dass sich die Wirtschaftswis­senschaft – so wie früher – wieder als „Politische Ökonomie“ bezeichnet.

Über den Autor

Roger de Weck war Chefredak­teur der Zeit und des Zürcher Tages-Anzeigers; er ist Herausgeber einer außen­poli­tis­chen Buchreihe und moderiert die TV-Sendung Sternstunde Philosophie. Der studierte Volkswirt ist Präsident des Graduate Institute of In­ter­na­tional and Development Studies in Genf und hat Lehraufträge in Brügge und Warschau.