Ethik ist mehr als Normen und Werte
Der kollektive Schrei danach, die Schuldigen zur Rechenschaft zu ziehen, ertönt ebenso schnell wie zuverlässig, wenn es z. B. zu einer Immobilienkrise wie 2007 in den USA kommt. Und auch wenn man noch so gerne eine einzelne Person identifizieren und die Schuld genau benennen möchte: Solche Krisen sind komplex und müssen genau so betrachtet werden. Je mehr Personen und Fakten in eine Sachlage hineinspielen, desto komplexer ist die Situation – und desto genauer müssen Sie sie auch betrachten, wenn Sie ein ethisches Urteil fällen wollen. Dabei geht es weniger um private ethische Fragen wie die, ob Sie einen Pelzmantel tragen dürfen oder ob Sie Geschenke bei Nichtgefallen weiterschenken dürfen, sondern um solche, die größere gesellschaftliche Einheiten betreffen; z. B. die Frage, ob Kinderarbeit per se verwerflich ist oder ob die lebenslängliche Verwahrung von Sexualstraftätern legitim ist. Die Frage nach der Ethik dreht sich auch nicht einfach nur darum, ob etwas den gesellschaftlichen Werten oder Normen entspricht. Denn schließlich hat auch eine Organisation wie die Mafia Regeln, Werte und Normen. Ethik geht weiter: Sie hinterfragt die geltenden Normen und Werte und reflektiert sie in einem größeren Zusammenhang.
Ist-Analyse
Wenn Sie eine ethische Entscheidung treffen wollen, müssen Sie zuerst den Ist-Zustand analysieren. Beginnen Sie damit, die harten Fakten aufzulisten. Dabei müssen Sie vier Dinge unbedingt beachten:
- Werden Sie skeptisch, wenn die Dinge zu simpel erscheinen. Wird die Lösung für ein ethisches Problem als einfach dargestellt, stimmt häufig etwas nicht. Dinge, die Sie ethisch entscheiden müssen, haben nämlich die Eigenschaft, komplex zu sein. Für ihre Lösung gibt es gewöhnlich nicht eine einzige wahre Sichtweise. Es handelt sich immer um Facetten und unterschiedliche Positionen – sonst müssten Sie die Entscheidung nicht treffen.
- Wir können uns des Wissens nicht sicher sein. Selbst Experten wissen bei einigen Technologien nicht, wie sie sich entwickeln werden und wohin es gehen wird. Beispiel Nanotechnologie: Die Entwicklung dieser Technik steckt noch in den Kinderschuhen, es gibt noch zu wenig verlässliche Forschungsergebnisse. Also sollten Sie vorsichtig sein, wenn jemand bei einem solchen Thema den Eindruck erwecken will, das Wissen darüber sei absolut gesichert.
- Heutzutage gibt es Unmengen von Informationen. Eines unserer größten Probleme ist die Frage, ob die Quellen zuverlässig sind. Gerade bei Internetquellen stellt sich oft die Frage, ob sie verlässlich sind. Hier müssen Sie seriöse Recherchearbeit leisten und genau hinschauen. Indizien dafür, dass Sie einer Information vertrauen können, sind, wenn sie wissenschaftlich überprüfbar ist und Sie sich rational nachvollziehen lässt.
- Beachten Sie auch, wie schwierig es häufig ist, Werturteile zu vermeiden. Wenn z. B. hohe Managerlöhne diskutiert werden, wird immer wieder Gier als Ursache genannt. Gier soll das Verhalten der Manager beschreiben, enthält aber bereits eine Wertung des Verhaltens als schlecht.
Harte Fakten in den Kontext einbinden
Im nächsten Schritt fragen Sie sich nach dem geltenden Recht. Dieses ist zwar nicht unantastbar, es ist aber davon auszugehen, dass es den moralischen Rahmen vorgibt, in dem wir uns bewegen. Deshalb können Sie eine ethische Entscheidung nur vor dem Rechtshintergrund fällen. Als Nächstes identifizieren Sie Stakeholder. Das sind Interessenvertreter oder Anspruchsberechtigte. Es können einzelne Personen oder Personengruppen sein. Ohne diese sich widersprechenden Parteien wären Sie nicht gefordert, eine ethische Entscheidung finden zu müssen. Die zwei zentralen Fragen in diesem Zusammenhang sind: Wer meldet Interessen an bzw. welche Stakeholder gibt es? Und: Welche Interessen haben diese Personen angemeldet? Nehmen wir als Beispiel einen Produzent von Stoffhosen: Er lässt den Grundstoff in einem Schwellenland herstellen, dort wird dieser chemisch behandelt, und das Abwasser wird nicht aufbereitet in einen Fluss geleitet. Außerdem müssen die Arbeitnehmer des Zulieferers zahlreiche Überstunden leisten. Die Stakeholder sind hier: Besitzer, Kapitalgeber und Arbeitnehmer des Unternehmens; Besitzer, Kapitalgeber und Arbeitnehmer des Zulieferers; deren Familienangehörige und die Gemeinden, in denen sie leben; außerdem Flussanrainer, Jeanskäufer, Steuerzahler im Schwellenland und Nichtregierungsorganisationen.
Sensibel Minenfelder umschiffen
In Amerika sind es Debatten über Waffen und Abtreibung, in Deutschland und der Schweiz sind es Auseinandersetzungen über den Bau von Minaretten, Tierversuche oder Managergehälter. Jede Kultur hat ihre eigenen Minenfelder: Diskussionen, die sehr emotional geführt werden und in denen es schwer ist, sachlich und ethisch zu argumentieren. Moralische Probleme, die diese hochsensiblen Bereiche berühren, lassen sich nicht rational durchspielen. Sie müssen sensibel sein und von der Fähigkeit Gebrauch machen, die Interessen und Wünsche aller Betroffenen zu verstehen. Dieses Verständnis sollten Sie aber nicht damit verwechseln, dass Sie alle Ängste und Bedenken berücksichtigen müssen. Vielmehr geht es darum, nicht an den Betroffenen vorbeizuargumentieren. Schauen Sie auf den gesellschaftlichen, kulturellen und auch auf den historischen Kontext. Sie werden so wertvolle Hinweise für Ihr weiteres Vorgehen finden.
Ethische Frage beim Namen nennen
Nach der Ist-Analyse folgt der zweite Schritt der ethischen Entscheidungsfindung: Sie benennen die moralische Frage, indem Sie sie aus der in der Ist-Analyse entwickelten Problemstellung herausfiltern. Streichen Sie zunächst alle Fragen, die gar nicht moralisch sind. In der Debatte um die Managergehälter wären das z. B.: Haben die Manager das Geld nicht verdient bzw. war ihre Leistung nicht entsprechend? Oder sind die Gehälter ungerecht verteilt? Sind die Gehälter erst dann nicht zu rechtfertigen, wenn sie der Steuerzahler tragen muss, weil der Staat die Bank finanziell gerettet hat? Viele dieser Fragen in aufgeheizten Debatten sind gar keine moralischen Fragen und fallen so aus dem Bereich heraus, den Sie ethisch entscheiden müssen. Eine Frage ist dann moralisch, wenn sie in Bezug zu einer Handlung steht und dabei Normen berührt, allgemein verbindlich ist und sich um zentrale Güter und Werte dreht. Konkret heißt das für einen Konfliktfall: Arbeiten Sie schriftlich heraus, was hinter den Argumenten und hinter der Diskussion an moralischen Fragen versteckt ist.
Argumente analysieren
Der dritte Schritt nach der Ist-Analyse und der Benennung der ethischen Fragen ist nun die Sammlung und Analyse der Argumente. Dazu sollten Sie sich vergegenwärtigen, dass es verschiedene Moraltheorien gibt. Von dreien können Sie sich leiten lassen: vom Konsequenzialismus, von der Deontologie und von der Tugendethik. Stünden Sie z. B. vor der Entscheidung, ob man Passagierflugzeuge abschießen darf, um Menschenleben zu retten, könnten Sie nach dem Konsequenzialismus entscheiden, dass das zulässig ist. Sie rücken die Konsequenzen ins Zentrum und entscheiden sich dafür, das Leben der Passagiere zu opfern, um das vieler anderer Menschen zu retten. Die Deontologie geht demgegenüber davon aus, das Gegenüber zu respektieren. Zentral ist nicht, was die Konsequenzen sind, sondern es geht einzig und allein darum, ob es moralisch ist, das Flugzeug abzuschießen und Menschen zu töten. Für Tugendethiker schließlich ist wichtig, wie der Handelnde sein will: Was sagt es über mich als Menschen aus, wenn ich den Befehl zum Abschuss erteile bzw. verweigere? In diesem Sinn kann die obige Frage danach beantwortet werden, was ein tugendhafter Mensch tun würde. Alle Moraltheorien haben ihre Vor- und Nachteile; es ist schwierig, sich für eine von ihnen zu entscheiden. Je nach Fragestellung kann die eine geeigneter sein als die anderen.
Evaluieren und Entscheiden
Im vierten Schritt gehen Sie nun dazu über, die einzelnen Argumente zu evaluieren. Welche überzeugen und welche nicht? So gewinnen Sie Anhaltspunkte für die Rechtfertigung Ihrer Entscheidung. Denn eines muss Ihnen klar sein: Sie werden sich – das erfordert jede moralische Entscheidung vor den Gesprächspartnern bzw. Konfliktparteien rechtfertigen müssen. Um Ihre Entscheidung zu treffen, nehmen Sie den so genannten Standpunkt der Moral ein. Der ist universell und kann sich nicht auf Vorbilder oder Autoritäten berufen. Dieser Standpunkt erfordert von Ihnen, dass Sie sich rigoros vom Geschehen distanzieren und Ihre eigene Betroffenheit ausklammern. Sie müssen überparteilich entscheiden, auch wenn das durchaus als unmenschlich kritisiert wird. Tun Sie das mithilfe einer Pro-und-kontra-Liste, die nach einzelnen Stakeholdern gruppiert ist. So haben Sie alle Argumente auf einen Blick vor sich. Beurteilen Sie sie und streichen Sie ungültige. Achten Sie aber auch darauf, ob Stakeholder wichtige Argumente vergessen haben. Dann gewichten Sie die Argumente und entscheiden, welche schwerer wiegen. Sehen Sie ein Argument immer im Kontext. Es kann in Kombination mit bestimmten Sachverhalten an Stärke zulegen. Dann können Sie Ihre Empfehlung aussprechen. Damit ist es aber noch nicht getan: Wenn Sie sich als Ethiker vor der Umsetzung in die Praxis zurückziehen, ist die Gefahr groß, dass Sie eine Lösung empfehlen, die so gar nicht umgesetzt werden kann. Darum müssen Sie in einem fünften Schritt auch die Implementierung begleiten.
Grenzen der Entscheidung
Sie werden vielleicht zum Schluss kommen, dass sich auch nach der Gewichtung der Argumente keine eindeutige Empfehlung aussprechen lässt. Ihnen bleibt dann noch die Güterabwägung. Hier geht es darum, zu entscheiden, ob positive Folgen einer Handlung ihre negativen Folgen aufheben können. Wenn z. B. ein Tierversuch auf dem Prüfstand steht, der dem Tier Schmerzen zufügt, so kann es sein, dass die Ergebnisse aus dem Test dem Menschen so große Vorteile bieten, dass der Versuch am Tier ethisch zulässig ist. Es kann aber auch das Gegenteil der Fall sein: Die Leiden des Tieres rechtfertigen nicht den Vorteil des Menschen. Es gibt Werte, die viele für unantastbar halten, wie z. B. die Menschenwürde. Sie lässt sich nicht mit der Güterabwägung wegargumentieren.
„Die Ethik fragt danach, was zu tun geboten, verboten oder erlaubt ist.“
Sie können auf Ihrem Entscheidungsweg aber auch dann an eine Grenze stoßen, wenn Ihre Empfehlung zwar schlüssig, aber nach den aktuellen kulturellen Prinzipien, nach der Rechtslage oder nach der Wirtschaftslage nicht umsetzbar ist. Beispielsweise lässt sich Kinderarbeit nicht von einem Tag auf den anderen beseitigen. Die Kinder sorgen für den Lebensunterhalt der Familie, und es hätte dramatische Folgen, ihnen einfach so die Existenzgrundlage zu entziehen. Gefragt sind kreative Lösungen. So stand etwa der Textilhersteller Levi Strauss, dessen Zulieferer Kinder beschäftigte, zunächst vor den scheinbar einzigen Handlungsalternativen „Kinder entlassen“ oder „Geschäftsbeziehung zum Zulieferer abbrechen“. Levi Strauss hat den Fall jedoch so gelöst, dass in der Folge keine Minderjährigen mehr eingestellt wurden, die aktuell beschäftigten Kinder weiter ihren Lohn erhielten, aber auf Kosten des Unternehmens zur Schule gingen. Nach erfolgreichem Schulabschluss wurden sie wieder eingestellt.
Alle beklagen das Elend und bleiben trotzdem untätig
Viele ethische Probleme lassen sich nur von vielen Menschen gemeinsam angehen. Oft fühlt sich aber niemand zuständig. Nehmen wir z. B. die CO2-Reduktion. Unstrittig ist, dass jeder Einzelne zu dem Ziel, den Ausstoß des Gases zu senken, einen Beitrag leisten könnte, indem er ein CO2-armes Auto fährt. Nun sagen viele Verbraucher aber, dass das nur ein minimaler Beitrag ist, zu gering, als dass er wirklich sinnvoll wäre. Die Verantwortung lässt sich in einem solchen Fall nun mal nicht klar zuschreiben. Schlimmer werden solche Problemstellungen noch dadurch, dass an manchen Stellen Verantwortliche ausgemacht werden und sich der Einzelne der moralischen Verpflichtung entzieht. Das ist ein Problem, auf das es nur eine Antwort geben kann: Es gibt eine moralische Pflicht, der sich keiner entziehen kann.