Ethische Entscheidungsfindung

Buch Ethische Entscheidungsfindung

Ein Handbuch für die Praxis

Versus,


Rezension

Wenn Debatten erst mal so richtig aufgeheizt sind, wird es zunehmend schwierig, zwischen den Parteien zu vermitteln. Die Argumente, die dann im Raum stehen, klingen viel öfter nach ethischen Grund­satzfra­gen, als sie es tatsächlich sind, meinen die Autoren dieses Buches. Klarheit ist gefragt, und die gewinnt, wer das Problem streng durch die Ethikbrille betrachtet. Wie man lernt, einen derart neutralen Standpunkt auch in emotional aufge­lade­nen Bereichen einzunehmen, erklärt dieses Buch. Verfasst von zwei Ethik­ex­perten, ermöglicht es profunde Einblicke in philosophis­ches Arbeiten und lädt immer wieder zu spannenden Gedanken­ex­per­i­menten ein. BooksInShort empfiehlt das zwar anspruchsvolle, aber nützliche Buch Menschen, die in pro­fes­sionellen Kontexten ethische Entschei­dun­gen treffen müssen.

Take-aways

  • Ethik beinhaltet mehr als Normen und Werte: Solche hat auch die Mafia.
  • Ethik bezieht das große Ganze mit ein und reflektiert die Normen und Werte methodisch.
  • Der erste Schritt zur ethischen Entschei­dungs­find­ung ist, die Lage zu analysieren und die Fakten aufzulisten.
  • Im zweiten Schritt benennen Sie die moralische Frage und streichen außer­moralis­che Fragen.
  • Geschmack und Stil spielen in der Ethik keine Rolle; es geht immer um Handlungen und Normen.
  • Sensible Themen beherbergen gerne außer­moralis­che Fragen, die zunächst wie ethische Fragen aussehen.
  • Im dritten Schritt analysieren Sie die Argumente.
  • Werden Sie skeptisch, wenn die Ar­gu­men­ta­tion zu simpel erscheint. Sobald Sie eine ethische Entschei­dung treffen müssen, haben Sie komplexe Sachver­halte vor sich.
  • Achten Sie darauf, dass Ihre In­for­ma­tion­squellen verlässlich sind.
  • Als Viertes evaluieren Sie die Argumente. Dann treffen Sie Ihre Entschei­dung und begleiten im fünften Schritt die Umsetzung.
 

Zusammenfassung

Ethik ist mehr als Normen und Werte

Der kollektive Schrei danach, die Schuldigen zur Rechen­schaft zu ziehen, ertönt ebenso schnell wie zuverlässig, wenn es z. B. zu einer Im­mo­bilienkrise wie 2007 in den USA kommt. Und auch wenn man noch so gerne eine einzelne Person iden­ti­fizieren und die Schuld genau benennen möchte: Solche Krisen sind komplex und müssen genau so betrachtet werden. Je mehr Personen und Fakten in eine Sachlage hinein­spie­len, desto komplexer ist die Situation – und desto genauer müssen Sie sie auch betrachten, wenn Sie ein ethisches Urteil fällen wollen. Dabei geht es weniger um private ethische Fragen wie die, ob Sie einen Pelzmantel tragen dürfen oder ob Sie Geschenke bei Nicht­ge­fallen weit­er­schenken dürfen, sondern um solche, die größere gesellschaftliche Einheiten betreffen; z. B. die Frage, ob Kinder­ar­beit per se verwerflich ist oder ob die lebenslängliche Verwahrung von Sex­u­al­straftätern legitim ist. Die Frage nach der Ethik dreht sich auch nicht einfach nur darum, ob etwas den gesellschaftlichen Werten oder Normen entspricht. Denn schließlich hat auch eine Or­gan­i­sa­tion wie die Mafia Regeln, Werte und Normen. Ethik geht weiter: Sie hinterfragt die geltenden Normen und Werte und reflektiert sie in einem größeren Zusam­men­hang.

Ist-Analyse

Wenn Sie eine ethische Entschei­dung treffen wollen, müssen Sie zuerst den Ist-Zustand analysieren. Beginnen Sie damit, die harten Fakten aufzulisten. Dabei müssen Sie vier Dinge unbedingt beachten:

  1. Werden Sie skeptisch, wenn die Dinge zu simpel erscheinen. Wird die Lösung für ein ethisches Problem als einfach dargestellt, stimmt häufig etwas nicht. Dinge, die Sie ethisch entscheiden müssen, haben nämlich die Eigenschaft, komplex zu sein. Für ihre Lösung gibt es gewöhnlich nicht eine einzige wahre Sichtweise. Es handelt sich immer um Facetten und un­ter­schiedliche Positionen – sonst müssten Sie die Entschei­dung nicht treffen.
  2. Wir können uns des Wissens nicht sicher sein. Selbst Experten wissen bei einigen Tech­nolo­gien nicht, wie sie sich entwickeln werden und wohin es gehen wird. Beispiel Nan­otech­nolo­gie: Die Entwicklung dieser Technik steckt noch in den Kinder­schuhen, es gibt noch zu wenig verlässliche Forschungsergeb­nisse. Also sollten Sie vorsichtig sein, wenn jemand bei einem solchen Thema den Eindruck erwecken will, das Wissen darüber sei absolut gesichert.
  3. Heutzutage gibt es Unmengen von In­for­ma­tio­nen. Eines unserer größten Probleme ist die Frage, ob die Quellen zuverlässig sind. Gerade bei In­ter­netquellen stellt sich oft die Frage, ob sie verlässlich sind. Hier müssen Sie seriöse Recherc­hear­beit leisten und genau hinschauen. Indizien dafür, dass Sie einer Information vertrauen können, sind, wenn sie wis­senschaftlich überprüfbar ist und Sie sich rational nachvol­lziehen lässt.
  4. Beachten Sie auch, wie schwierig es häufig ist, Werturteile zu vermeiden. Wenn z. B. hohe Managerlöhne diskutiert werden, wird immer wieder Gier als Ursache genannt. Gier soll das Verhalten der Manager beschreiben, enthält aber bereits eine Wertung des Verhaltens als schlecht.

Harte Fakten in den Kontext einbinden

Im nächsten Schritt fragen Sie sich nach dem geltenden Recht. Dieses ist zwar nicht unantastbar, es ist aber davon auszugehen, dass es den moralischen Rahmen vorgibt, in dem wir uns bewegen. Deshalb können Sie eine ethische Entschei­dung nur vor dem Recht­shin­ter­grund fällen. Als Nächstes iden­ti­fizieren Sie Stakeholder. Das sind In­ter­essen­vertreter oder Anspruchs­berechtigte. Es können einzelne Personen oder Per­so­n­en­grup­pen sein. Ohne diese sich wider­sprechen­den Parteien wären Sie nicht gefordert, eine ethische Entschei­dung finden zu müssen. Die zwei zentralen Fragen in diesem Zusam­men­hang sind: Wer meldet Interessen an bzw. welche Stakeholder gibt es? Und: Welche Interessen haben diese Personen angemeldet? Nehmen wir als Beispiel einen Produzent von Stoffhosen: Er lässt den Grundstoff in einem Schwellen­land herstellen, dort wird dieser chemisch behandelt, und das Abwasser wird nicht aufbereitet in einen Fluss geleitet. Außerdem müssen die Ar­beit­nehmer des Zulieferers zahlreiche Überstunden leisten. Die Stakeholder sind hier: Besitzer, Kap­i­tal­ge­ber und Ar­beit­nehmer des Un­ternehmens; Besitzer, Kap­i­tal­ge­ber und Ar­beit­nehmer des Zulieferers; deren Fam­i­lien­angehörige und die Gemeinden, in denen sie leben; außerdem Flus­san­rainer, Jeanskäufer, Steuerzahler im Schwellen­land und Nichtregierung­sor­gan­i­sa­tio­nen.

Sensibel Minenfelder umschiffen

In Amerika sind es Debatten über Waffen und Abtreibung, in Deutschland und der Schweiz sind es Au­seinan­der­set­zun­gen über den Bau von Minaretten, Tierver­suche oder Managergehälter. Jede Kultur hat ihre eigenen Minenfelder: Diskus­sio­nen, die sehr emotional geführt werden und in denen es schwer ist, sachlich und ethisch zu ar­gu­men­tieren. Moralische Probleme, die diese hochsen­si­blen Bereiche berühren, lassen sich nicht rational durch­spie­len. Sie müssen sensibel sein und von der Fähigkeit Gebrauch machen, die Interessen und Wünsche aller Betroffenen zu verstehen. Dieses Verständnis sollten Sie aber nicht damit verwechseln, dass Sie alle Ängste und Bedenken berücksichtigen müssen. Vielmehr geht es darum, nicht an den Betroffenen vor­beizuar­gu­men­tieren. Schauen Sie auf den gesellschaftlichen, kulturellen und auch auf den his­torischen Kontext. Sie werden so wertvolle Hinweise für Ihr weiteres Vorgehen finden.

Ethische Frage beim Namen nennen

Nach der Ist-Analyse folgt der zweite Schritt der ethischen Entschei­dungs­find­ung: Sie benennen die moralische Frage, indem Sie sie aus der in der Ist-Analyse en­twick­el­ten Prob­lem­stel­lung her­aus­fil­tern. Streichen Sie zunächst alle Fragen, die gar nicht moralisch sind. In der Debatte um die Managergehälter wären das z. B.: Haben die Manager das Geld nicht verdient bzw. war ihre Leistung nicht entsprechend? Oder sind die Gehälter ungerecht verteilt? Sind die Gehälter erst dann nicht zu recht­fer­ti­gen, wenn sie der Steuerzahler tragen muss, weil der Staat die Bank finanziell gerettet hat? Viele dieser Fragen in aufge­heizten Debatten sind gar keine moralischen Fragen und fallen so aus dem Bereich heraus, den Sie ethisch entscheiden müssen. Eine Frage ist dann moralisch, wenn sie in Bezug zu einer Handlung steht und dabei Normen berührt, allgemein verbindlich ist und sich um zentrale Güter und Werte dreht. Konkret heißt das für einen Kon­flik­t­fall: Arbeiten Sie schriftlich heraus, was hinter den Argumenten und hinter der Diskussion an moralischen Fragen versteckt ist.

Argumente analysieren

Der dritte Schritt nach der Ist-Analyse und der Benennung der ethischen Fragen ist nun die Sammlung und Analyse der Argumente. Dazu sollten Sie sich vergegenwärtigen, dass es ver­schiedene Moralthe­o­rien gibt. Von dreien können Sie sich leiten lassen: vom Kon­se­quen­zial­is­mus, von der Deontologie und von der Tugendethik. Stünden Sie z. B. vor der Entschei­dung, ob man Pas­sagier­flugzeuge abschießen darf, um Men­schen­leben zu retten, könnten Sie nach dem Kon­se­quen­zial­is­mus entscheiden, dass das zulässig ist. Sie rücken die Kon­se­quen­zen ins Zentrum und entscheiden sich dafür, das Leben der Passagiere zu opfern, um das vieler anderer Menschen zu retten. Die Deontologie geht demgegenüber davon aus, das Gegenüber zu re­spek­tieren. Zentral ist nicht, was die Kon­se­quen­zen sind, sondern es geht einzig und allein darum, ob es moralisch ist, das Flugzeug abzuschießen und Menschen zu töten. Für Tu­gen­de­thiker schließlich ist wichtig, wie der Handelnde sein will: Was sagt es über mich als Menschen aus, wenn ich den Befehl zum Abschuss erteile bzw. verweigere? In diesem Sinn kann die obige Frage danach beantwortet werden, was ein tu­gend­hafter Mensch tun würde. Alle Moralthe­o­rien haben ihre Vor- und Nachteile; es ist schwierig, sich für eine von ihnen zu entscheiden. Je nach Fragestel­lung kann die eine geeigneter sein als die anderen.

Evaluieren und Entscheiden

Im vierten Schritt gehen Sie nun dazu über, die einzelnen Argumente zu evaluieren. Welche überzeugen und welche nicht? So gewinnen Sie An­halt­spunkte für die Recht­fer­ti­gung Ihrer Entschei­dung. Denn eines muss Ihnen klar sein: Sie werden sich – das erfordert jede moralische Entschei­dung vor den Gesprächspartnern bzw. Kon­flik­t­parteien recht­fer­ti­gen müssen. Um Ihre Entschei­dung zu treffen, nehmen Sie den so genannten Standpunkt der Moral ein. Der ist universell und kann sich nicht auf Vorbilder oder Autoritäten berufen. Dieser Standpunkt erfordert von Ihnen, dass Sie sich rigoros vom Geschehen dis­tanzieren und Ihre eigene Be­trof­fen­heit ausklammern. Sie müssen überparteilich entscheiden, auch wenn das durchaus als un­men­schlich kritisiert wird. Tun Sie das mithilfe einer Pro-und-kon­tra-Liste, die nach einzelnen Stake­hold­ern gruppiert ist. So haben Sie alle Argumente auf einen Blick vor sich. Beurteilen Sie sie und streichen Sie ungültige. Achten Sie aber auch darauf, ob Stakeholder wichtige Argumente vergessen haben. Dann gewichten Sie die Argumente und entscheiden, welche schwerer wiegen. Sehen Sie ein Argument immer im Kontext. Es kann in Kombination mit bestimmten Sachver­hal­ten an Stärke zulegen. Dann können Sie Ihre Empfehlung aussprechen. Damit ist es aber noch nicht getan: Wenn Sie sich als Ethiker vor der Umsetzung in die Praxis zurückziehen, ist die Gefahr groß, dass Sie eine Lösung empfehlen, die so gar nicht umgesetzt werden kann. Darum müssen Sie in einem fünften Schritt auch die Im­ple­men­tierung begleiten.

Grenzen der Entschei­dung

Sie werden vielleicht zum Schluss kommen, dass sich auch nach der Gewichtung der Argumente keine eindeutige Empfehlung aussprechen lässt. Ihnen bleibt dann noch die Güterabwägung. Hier geht es darum, zu entscheiden, ob positive Folgen einer Handlung ihre negativen Folgen aufheben können. Wenn z. B. ein Tierversuch auf dem Prüfstand steht, der dem Tier Schmerzen zufügt, so kann es sein, dass die Ergebnisse aus dem Test dem Menschen so große Vorteile bieten, dass der Versuch am Tier ethisch zulässig ist. Es kann aber auch das Gegenteil der Fall sein: Die Leiden des Tieres recht­fer­ti­gen nicht den Vorteil des Menschen. Es gibt Werte, die viele für unantastbar halten, wie z. B. die Menschenwürde. Sie lässt sich nicht mit der Güterabwägung we­gar­gu­men­tieren.

„Die Ethik fragt danach, was zu tun geboten, verboten oder erlaubt ist.“

Sie können auf Ihrem Entschei­dungsweg aber auch dann an eine Grenze stoßen, wenn Ihre Empfehlung zwar schlüssig, aber nach den aktuellen kulturellen Prinzipien, nach der Rechtslage oder nach der Wirtschaft­slage nicht umsetzbar ist. Beispiel­sweise lässt sich Kinder­ar­beit nicht von einem Tag auf den anderen beseitigen. Die Kinder sorgen für den Leben­sun­ter­halt der Familie, und es hätte dramatische Folgen, ihnen einfach so die Ex­is­ten­z­grund­lage zu entziehen. Gefragt sind kreative Lösungen. So stand etwa der Tex­til­her­steller Levi Strauss, dessen Zulieferer Kinder beschäftigte, zunächst vor den scheinbar einzigen Hand­lungsalter­na­tiven „Kinder entlassen“ oder „Geschäfts­beziehung zum Zulieferer abbrechen“. Levi Strauss hat den Fall jedoch so gelöst, dass in der Folge keine Minderjährigen mehr eingestellt wurden, die aktuell beschäftigten Kinder weiter ihren Lohn erhielten, aber auf Kosten des Un­ternehmens zur Schule gingen. Nach er­fol­gre­ichem Schu­la­b­schluss wurden sie wieder eingestellt.

Alle beklagen das Elend und bleiben trotzdem untätig

Viele ethische Probleme lassen sich nur von vielen Menschen gemeinsam angehen. Oft fühlt sich aber niemand zuständig. Nehmen wir z. B. die CO2-Re­duk­tion. Unstrittig ist, dass jeder Einzelne zu dem Ziel, den Ausstoß des Gases zu senken, einen Beitrag leisten könnte, indem er ein CO2-armes Auto fährt. Nun sagen viele Verbraucher aber, dass das nur ein minimaler Beitrag ist, zu gering, als dass er wirklich sinnvoll wäre. Die Ve­r­ant­wor­tung lässt sich in einem solchen Fall nun mal nicht klar zuschreiben. Schlimmer werden solche Prob­lem­stel­lun­gen noch dadurch, dass an manchen Stellen Ve­r­ant­wortliche ausgemacht werden und sich der Einzelne der moralischen Verpflich­tung entzieht. Das ist ein Problem, auf das es nur eine Antwort geben kann: Es gibt eine moralische Pflicht, der sich keiner entziehen kann.

Über die Autoren

Barbara Bleisch arbeitet am Ethikzen­trum der Universität Zürich. Daneben un­ter­richtet sie Philosophie und moderiert eine Fernsehsendung. Markus Huppenbauer ist Professor für Ethik an der Universität Zürich. Er ist Vor­standsmit­glied des European Business Ethics Network (EBEN) Switzerland und Mitglied des Forums Gen­forschung der Schweiz­erischen Akademie der Natur­wis­senschaften.