Chaos im Kurzzeitgedächtnis
Können Sie sich noch daran erinnern, was Sie vor 20 Minuten an Ihrem Computer gemacht haben? SMS, E-Mail und Twitter, alles Instrumente, die das Leben eigentlich vereinfachen sollen, stürzen die Nutzer oft ins Chaos, weil sie – in Konkurrenz zueinander – um deren Aufmerksamkeit buhlen und andere Tätigkeiten unterbrechen. Nach diesen Unterbrechungen kostet es viel Energie, wieder zur ursprünglichen Aufgabe zurückzukehren. Nur folgerichtig erlebt die Beratungsindustrie derzeit einen Aufschwung, und zahlreiche Ratgeber geben Tipps, wie man sein chaotisches Leben wieder auf die Reihe bringt.
Krisensymptome
Schaffen Sie es noch, ein Buch zu Ende zu lesen? Werden Ihre Konzentrationsspannen immer kürzer? Dies könnte die Folge Ihrer Anpassung an die Computerwelt sein. Weitere mögliche Symptome: Es fällt Ihnen schwer, einem Gespräch zu folgen, Sie kümmern sich weniger um Ihre Kinder oder Sie verlieren die Herrschaft über Ihre Zeit- und Lebensplanung.
„Die Computer nehmen uns so viel ab, dass wir im Laufe der Zeit in unseren Gehirnen die entsprechenden Abteilungen verkleinert, geschlossen und die Nervenzellen in Vorruhestand geschickt haben.“
Kann Ihnen da der Arzt noch helfen? Nein, denn der schaut seine Patienten kaum noch an und stiert wie magisch angezogen selbst auf seinen Bildschirm. Zur Niederschrift Ihrer individuellen Krankengeschichte verwendet er Textbausteine, obwohl es auf Trennschärfe und spezielle Merkmale ankäme. Zudem missverstehen viele Ärzte computergenerierte medizinische Statistiken, ziehen deshalb falsche Rückschlüsse und geben falsche Erklärungen ab.
„Dass Information gratis ist, heißt nicht, dass wir keinen hohen Preis für sie bezahlen. Information kostet Aufmerksamkeit.“
Der Finanzcrash ist ein trauriger Beleg dafür, dass Finanzexperten und Mathematiker die Kontrolle über die Finanzen Computern überlassen haben. Diese registrierten keine Anzeichen für eine Krise und schlugen demzufolge auch nicht Alarm. Schließlich werden sie von Menschen programmiert, die intellektuelle Schwächen und schwarzen Flecken im Bewusstsein haben.
Mythos Multitasking
Multitasking scheint Sie effektiver und produktiver zu machen. Das Gegenteil ist jedoch der Fall, da diese Art zu arbeiten zwar der Fähigkeit von Computern, nicht aber der menschlichen Natur entspricht. Überspitzt formuliert, stehen Sie durch Multitasking unter permanenter Ablenkung, die Sie zu beherrschen bemüht sind. Der Stanford-Forscher Clifford Nass präsentierte 2009 folgende Studienergebnisse:
- Multitasker verlieren immer mehr die Kontrolle über ihr Kurzzeitgedächtnis und werden zerstreut.
- Die Unterscheidung zwischen wichtig und unwichtig geht verloren. Das beeinträchtigt die Fähigkeit, Schlussfolgerungen zu ziehen.
- Multitasker springen häufiger auf falschen Alarm an.
- Mit zunehmender Praxis erledigen sie ihre Aufgaben keineswegs immer effizienter, sondern immer schlechter, beispielsweise langsamer.
- In die Denkleistungen von Multitaskern schleichen sich Fehler ein.
Die Unterwerfung unter den Computer
Die Science-Fiction-Literatur kreist oft um die Horrorvision, dass intelligente Maschinen sich die Menschheit untertan machen. Tatsächlich ist es heute bereits so, dass sich der Mensch von sich aus immer maschinenhafter verhält und die Umwelt und seine Mitmenschen durch die Brille eines Computers betrachtet.
„Fünfjährige verstecken Blackberrys oder spülen sie die Toilette hinunter, damit ihre Eltern mit ihnen reden.“
Er begreift die Leistungen, Gefühle und den Lebenslauf von sich und anderen als berechen- und verwertbare Informationen – und das nicht nur in der Arbeitswelt, sondern auch im Privatleben. Immer mehr Menschen streben nach Erlebnissen, die sie digitalisieren und ins Netz stellen können. Auch die Pflege von Freundschaften und Kontakten verlagert sich in den digitalen Raum.
„Multitasking ist der zum Scheitern verurteilte Versuch des Menschen, selbst zum Computer zu werden.“
Die Vernetzung erstreckt sich vom Internet über das Handy bis hin zu den Heizungssensoren in der Wohnung. Mehrere US-Unternehmen werben bereits damit, alle möglichen Daten von Menschen zusammenzuführen, um ein präzises Profil und sogar Zukunftsprognosen zu erstellen – z. B. darüber, wie gut Arbeitnehmer zukünftigen Aufgaben gewachsen sein werden oder wie sich ihre Gesundheit entwickeln wird. Die Prognosen ergeben sich daraus, dass die Daten mit denen unzähliger anderer Menschen hinsichtlich Übereinstimmungen, Abweichungen und Tendenzen verglichen werden. Das Individuelle im Menschen geht dabei verloren.
„Die Vernetzung der digitalen Welt ist sehr viel kontrollierter und bürokratischer, als das selbst politisch sensiblen Zeitgenossen bewusst ist.“
Autos haben dem Menschen das Laufen abgenommen, Filme das Erleben, Rechenmaschinen das Rechnen und das Internet das Denken und Entscheiden. All diese Fähigkeiten geraten immer mehr zum „Zuschauersport“. Auf diese Weise erfassen die Menschen Situationen immer schlechter und greifen auf routinemäßig verankerte Muster, also auf Automatismen, zurück. Neue Wahrnehmungen und Erkenntnisse haben es immer schwerer, sich in uns festzusetzen.
Der digitale Darwinismus
Heute haben nicht die Tüchtigsten, sondern die Bestinformierten die Nase vorn. Die Informationssuche hat aber einen Haken: Zum einen steht uns so viel Wissen wie noch nie in null Komma nichts zur Verfügung, zum anderen ist es zum überwiegenden Teil völlig unnütz. Es kann ziemlich nervenaufreibend sein, nützliche von unnützen und wichtige von unwichtigen Informationen zu unterscheiden.
„Wenn wir im Netz oder am Handy nach Informationen und Antworten suchen, werden Urinstinkte mobilisiert.“
Um sich im Dschungel des Internets zurechtzufinden, halten sich die meisten Benutzer an Suchmaschinenergebnisse. Doch deren Qualität ist durchaus zweifelhaft, da sie dem „Matthäus-Effekt“ unterliegen. Im Matthäus-Evangelium heißt es: „Denn wer da hat, dem wird gegeben werden, dass er Fülle habe; wer aber nicht hat, von dem wird auch noch genommen, was er hat.“ Bei den Google-Ergebnissen etwa rangieren diejenigen Seiten oben, auf die die meisten und populärsten Links verweisen. Infolgedessen surfen noch mehr Benutzer auf diese Seiten, wodurch ihre Popularität immer weiter wächst.
„Suchmaschinen greifen nicht nur auf den Text zu, sondern auch auf die, die nach ihm suchen.“
Wir suchen Informationen nach den gleichen unbewussten Mustern, nach denen die Menschen früher nach Nahrung gejagt haben. Es gibt dafür zwei grundlegende Strategien: Bietet ein Ort reichlich Nahrung, verbleiben die Lebewesen dort. Ist die Nahrung hingegen verstreut, so streunt der Jäger suchend von einem Ort zum anderen. Ein Grundgesetz der Nahrungssuche lautet, nicht mehr Energie zu verbrauchen, als einem durch die Beute zufällt. Analog verhalten sich die meisten Nutzer auch im Internet: Finden sie keinen Ort, der sie zufrieden stellt, so streunen sie suchend umher und sind ständig gefordert, die Informationen zu sortieren.
„Wann immer für ein paar Stunden Datenleitungen oder für ein paar Minuten Google nicht erreichbar sind, melden Blogger Symptome, die an Nahrungsentzug erinnern.“
Mit der Entwicklung immer neuerer Kommunikationstechnologien übertrumpfen die digitalen Informationen die aus der wirklichen Welt. Manche Nutzer erleiden bereits irrationale Panikattacken, wenn sie bestimmte Seiten nicht erreichen können oder gar die Internetverbindung gestört ist. Findet der Nutzer die gesuchte Information, so schüttet das Gehirn das Glückshormon Dopamin aus, was zur Sucht führen kann. Verzettelt er sich jedoch und lässt sich in der virtuellen Welt herumtreiben, so kann dies zu Aufmerksamkeitsdefizitsyndromen oder kognitiven Zwangsstörungen führen. In dieser Lage verliert der Nutzer zusehends die Unterscheidungsfähigkeit zwischen wichtig und unwichtig. Macht aber nichts: Die Internet-Software nimmt ihm zukünftig auch diesen Schritt ab. Sie wird seine Gedanken, Assoziationen und Bedürfnisse vorhersehen und ihn mit den passenden Informationen versorgen.
Der Übergang vom Hirn zum Computer
Die derzeitige Nähe des menschlichen Bewusstseins zu Computer und Internet fördert eine Angleichung beider Systeme: Computer lernen, wenn auch auf mathematischer Basis, Gefühle zu entschlüsseln, und das menschliche Bewusstsein orientiert sich immer mehr am künstlich erzeugten Denken des Computers. Zwar wurde der menschliche Körper schon im Industriezeitalter mit einer Maschine verglichen, nicht aber das Denken selbst. Geistige Prozesse mit denen einer Maschine zu vergleichen, kam bis Mitte des letzten Jahrhunderts einer Schreckensvorstellung und Ketzerei gleich. Heute hingegen wird der Geist immer häufiger mit einem Computerprogramm verglichen und Gott als der große Programmierer gesehen. Unser gesamtes Wissen wird computerisiert und in riesigen Datenbanken gespeichert. Selbst die Wissenschaften ordnen sich der Computerisierung und den Software-Codes unter. In der Psychologie und in den Kognitionswissenschaften werden menschliche Testpersonen teilweise überflüssig. Die bittere Konsequenz: Was es in der Computerwelt nicht gibt, gibt es auch draußen nicht.
„Während wir die Unterscheidungsfähigkeit verlieren, versuchen Softwareingenieure auf der ganzen Welt, sie den Maschinen beizubringen.“
Bei Gegenständen, die Sie zur Hand haben, können Sie ziemlich genau bewerten, ob sie Ihnen nützlich sind. Bei virtuellen Informationen ist das nicht so einfach. Es ist ein Teufelskreis: Je mehr Informationen auf den Nutzer einströmen, desto mehr ermüden sie ihn und desto weniger ist er in der Lage, sie einzuordnen. So steht eine Menge zerstückelter Informationen nebeneinander. Zugleich wird der Nutzer von der Angst getrieben, eine wichtige Information zu versäumen.
Nutzen Sie Ihre menschlichen Anlagen
Die Stärke des Menschen liegt darin, über routinemäßiges Funktionieren hinaus Fantasie zu entwickeln, kreativ zu sein und auf das Unerwartete reagieren zu können. Dies ist gleichzeitig die Schwachstelle des Computers.
„Der Vermenschlichung der Maschinen entspricht die Computerisierung des Menschen.“
Durch den häufigen Umgang mit dem Computer besteht allerdings die Gefahr der Angleichung: So könnte es Ihnen vermehrt um die Kontrolle aller Lebensumstände gehen, anstatt Ihre menschliche Stärke, die Unabwägbarkeiten des Lebens selbstständig und souverän zu meistern, auszubauen. Schon länger werden Arbeiten von Schülern und Studenten computergestützt bewertet. Das führt dazu, dass Inhalte und Leistungen den Möglichkeiten der Computer angepasst werden.
„Was nicht ins Innere des Rechnerhirns wandert, gibt es nicht und schließt sich aus der Gesellschaft aus.“
Auch Internetjournalisten unterwerfen sich den Gesetzen der digitalen Welt: Neue Informationen müssen an den Anfang des Textes, und bestimmte Schlüsselwörter müssen vorkommen, um den Suchmaschinen und dem Programm, das Werbung einblendet, möglichst präzise Daten zu liefern. Durch diese Mechanismen wird die Information von der denkenden Aufmerksamkeit des Menschen abgekoppelt und dem Zweck der raschen Verwertbarkeit unterworfen.
„Reichtum – und zwar materieller wie seelischer Reichtum – in der gegenwärtigen Welt zeigt sich daran, wie viel Geld man investieren kann, um Ablenkungen von sich fernzuhalten.“
Bieten Sie der Gefahr, Ihre Persönlichkeit durch die häufige Computerbenutzung zu reduzieren, Paroli. Betrachten Sie Informationen nicht als absolut, sondern als Möglichkeiten, und gehen Sie flexibel und kreativ mit ihnen um. Haben Sie den Mut, Leistungen und Vorgänge offener zu betrachten als aus der Perspektive des allumfassenden Gottes Computer.
Computer können Informationen viel besser speichern als Sie. Die dadurch frei werdende Energie und Zeit sollten Sie darauf verwenden, die Informationen zu assimilieren, zu überdenken, in Zusammenhänge einzuordnen und mit Ihrem bestehenden Wissen zu verknüpfen. Befreien Sie sich vom Korsett der alten Lernmethoden, Wissen eindimensional von einem Sender zu empfangen und zu horten. Orientieren Sie sich an der Methode des informellen Lernens. Gewinnen Sie die Kontrolle über Ihre Aufmerksamkeit zurück und lernen Sie, die richtigen Fragen zu stellen.