Payback

Buch Payback

Warum wir im Informationszeitalter gezwungen sind zu tun, was wir nicht tun wollen, und wie wir die Kontrolle über unser Denken zurückgewinnen

Blessing,


Rezension

FAZ-Her­aus­ge­ber Frank Schirrma­cher präsentiert eine Be­stand­sauf­nahme der allgegenwärtigen Vernetzung im Com­put­erzeital­ter. Er lädt den Leser ein, an seinen persönlichen Erfahrungen, zahlreichen recher­chierten Fakten sowie wis­senschaftlichen Stu­di­energeb­nis­sen teilzuhaben. Dass er die sich rasant weit­er­en­twick­el­nden Com­put­ertech­nolo­gien nicht grundsätzlich abgeschafft wissen möchte, betont Schirrma­cher ausdrücklich – dennoch könnte man an einigen Stellen diesen Eindruck gewinnen. Er warnt ein­dringlich, wort­ge­waltig und sich gele­gentlich wieder­holend vor den Gefahren der Com­put­er­isierung: Durch die Anpassung an die Com­put­er­welt verändere sich die Persönlichkeit des Menschen – nicht zu seinem Vorteil. Gegen Ende seines Werks ruft der Autor den Leser auf, die Entschei­dungs­frei­heit nicht aus der Hand zu geben und sich dem Geist der Maschine nicht zu unterwerfen. BooksInShort empfiehlt das Buch allen Menschen, die bereit sind, den allzu selbstverständlich gewordenen Umgang mit Computer und Internet kritisch zu hin­ter­fra­gen.

Take-aways

  • Die Ablenkungen durch die Kom­mu­nika­tion­stech­nolo­gien zehren an der Konzen­tra­tionsfähigkeit des Menschen.
  • Die Kontrolle über komplexe Vorgänge Computern zu überlassen, ist ein Fehler.
  • Für den Computer ist Mul­ti­task­ing ein Kinderspiel, für den Menschen ist es eine Last.
  • Die modernen Werkzeuge des Menschen verändern ihn, seine Weltan­schau­ung und die Bewertung seiner Mitmenschen.
  • Viele geistige Fähigkeiten des Menschen verkümmern durch die Com­put­er­be­nutzung.
  • Die Flut an In­for­ma­tio­nen und der Zwang, sie zu bewerten, überfordern uns.
  • Im digitalen Darwinismus überleben nicht die Tüchtigsten, sondern die am besten In­formierten.
  • Mensch und Maschine gleichen sich einander immer mehr an.
  • Die Stärke des Computers liegt in der Routine, die des Menschen in seiner Fantasie, Kreativität und darin, mit Uner­wartetem umgehen zu können.
  • Geben Sie das Ruder nicht aus der Hand: Bleiben Sie selb­st­bes­timmt.
 

Zusammenfassung

Chaos im Kurzzeitgedächtnis

Können Sie sich noch daran erinnern, was Sie vor 20 Minuten an Ihrem Computer gemacht haben? SMS, E-Mail und Twitter, alles Instrumente, die das Leben eigentlich vere­in­fachen sollen, stürzen die Nutzer oft ins Chaos, weil sie – in Konkurrenz zueinander – um deren Aufmerk­samkeit buhlen und andere Tätigkeiten un­ter­brechen. Nach diesen Un­ter­brechun­gen kostet es viel Energie, wieder zur ursprünglichen Aufgabe zurückzukehren. Nur fol­gerichtig erlebt die Be­ratungsin­dus­trie derzeit einen Aufschwung, und zahlreiche Ratgeber geben Tipps, wie man sein chaotisches Leben wieder auf die Reihe bringt.

Krisen­symp­tome

Schaffen Sie es noch, ein Buch zu Ende zu lesen? Werden Ihre Konzen­tra­tionss­pan­nen immer kürzer? Dies könnte die Folge Ihrer Anpassung an die Com­put­er­welt sein. Weitere mögliche Symptome: Es fällt Ihnen schwer, einem Gespräch zu folgen, Sie kümmern sich weniger um Ihre Kinder oder Sie verlieren die Herrschaft über Ihre Zeit- und Leben­s­pla­nung.

„Die Computer nehmen uns so viel ab, dass wir im Laufe der Zeit in unseren Gehirnen die entsprechen­den Abteilungen verkleinert, geschlossen und die Ner­ven­zellen in Vor­ruh­e­s­tand geschickt haben.“

Kann Ihnen da der Arzt noch helfen? Nein, denn der schaut seine Patienten kaum noch an und stiert wie magisch angezogen selbst auf seinen Bildschirm. Zur Nieder­schrift Ihrer in­di­vidu­ellen Krankengeschichte verwendet er Textbausteine, obwohl es auf Trennschärfe und spezielle Merkmale ankäme. Zudem missver­ste­hen viele Ärzte com­put­er­gener­ierte medi­zinis­che Statistiken, ziehen deshalb falsche Rückschlüsse und geben falsche Erklärungen ab.

„Dass Information gratis ist, heißt nicht, dass wir keinen hohen Preis für sie bezahlen. Information kostet Aufmerk­samkeit.“

Der Finanzcrash ist ein trauriger Beleg dafür, dass Fi­nanz­ex­perten und Math­e­matiker die Kontrolle über die Finanzen Computern überlassen haben. Diese reg­istri­erten keine Anzeichen für eine Krise und schlugen demzufolge auch nicht Alarm. Schließlich werden sie von Menschen pro­gram­miert, die in­tellek­tuelle Schwächen und schwarzen Flecken im Bewusstsein haben.

Mythos Mul­ti­task­ing

Mul­ti­task­ing scheint Sie effektiver und produktiver zu machen. Das Gegenteil ist jedoch der Fall, da diese Art zu arbeiten zwar der Fähigkeit von Computern, nicht aber der men­schlichen Natur entspricht. Überspitzt formuliert, stehen Sie durch Mul­ti­task­ing unter permanenter Ablenkung, die Sie zu beherrschen bemüht sind. Der Stan­ford-Forscher Clifford Nass präsentierte 2009 folgende Stu­di­energeb­nisse:

  1. Multitasker verlieren immer mehr die Kontrolle über ihr Kurzzeitgedächtnis und werden zerstreut.
  2. Die Un­ter­schei­dung zwischen wichtig und unwichtig geht verloren. Das beeinträchtigt die Fähigkeit, Schlussfol­gerun­gen zu ziehen.
  3. Multitasker springen häufiger auf falschen Alarm an.
  4. Mit zunehmender Praxis erledigen sie ihre Aufgaben keineswegs immer effizienter, sondern immer schlechter, beispiel­sweise langsamer.
  5. In die Den­kleis­tun­gen von Mul­ti­taskern schleichen sich Fehler ein.

Die Un­ter­w­er­fung unter den Computer

Die Sci­ence-Fic­tion-Lit­er­atur kreist oft um die Hor­rorvi­sion, dass in­tel­li­gente Maschinen sich die Menschheit untertan machen. Tatsächlich ist es heute bereits so, dass sich der Mensch von sich aus immer maschi­nen­hafter verhält und die Umwelt und seine Mitmenschen durch die Brille eines Computers betrachtet.

„Fünfjährige verstecken Blackberrys oder spülen sie die Toilette hinunter, damit ihre Eltern mit ihnen reden.“

Er begreift die Leistungen, Gefühle und den Lebenslauf von sich und anderen als berechen- und verwertbare In­for­ma­tio­nen – und das nicht nur in der Arbeitswelt, sondern auch im Privatleben. Immer mehr Menschen streben nach Erlebnissen, die sie dig­i­tal­isieren und ins Netz stellen können. Auch die Pflege von Fre­und­schaften und Kontakten verlagert sich in den digitalen Raum.

„Mul­ti­task­ing ist der zum Scheitern verurteilte Versuch des Menschen, selbst zum Computer zu werden.“

Die Vernetzung erstreckt sich vom Internet über das Handy bis hin zu den Heizungssen­soren in der Wohnung. Mehrere US-Un­ternehmen werben bereits damit, alle möglichen Daten von Menschen zusammenzuführen, um ein präzises Profil und sogar Zukun­ft­sprog­nosen zu erstellen – z. B. darüber, wie gut Ar­beit­nehmer zukünftigen Aufgaben gewachsen sein werden oder wie sich ihre Gesundheit entwickeln wird. Die Prognosen ergeben sich daraus, dass die Daten mit denen unzähliger anderer Menschen hin­sichtlich Übere­in­stim­mungen, Ab­we­ichun­gen und Tendenzen verglichen werden. Das In­di­vidu­elle im Menschen geht dabei verloren.

„Die Vernetzung der digitalen Welt ist sehr viel kon­trol­lierter und bürokratis­cher, als das selbst politisch sensiblen Zeitgenossen bewusst ist.“

Autos haben dem Menschen das Laufen abgenommen, Filme das Erleben, Rechen­maschi­nen das Rechnen und das Internet das Denken und Entscheiden. All diese Fähigkeiten geraten immer mehr zum „Zuschauer­sport“. Auf diese Weise erfassen die Menschen Situationen immer schlechter und greifen auf routinemäßig verankerte Muster, also auf Au­toma­tis­men, zurück. Neue Wahrnehmungen und Erken­nt­nisse haben es immer schwerer, sich in uns festzuset­zen.

Der digitale Darwinismus

Heute haben nicht die Tüchtigsten, sondern die Bestin­formierten die Nase vorn. Die In­for­ma­tion­ssuche hat aber einen Haken: Zum einen steht uns so viel Wissen wie noch nie in null Komma nichts zur Verfügung, zum anderen ist es zum überwiegen­den Teil völlig unnütz. Es kann ziemlich ner­ve­naufreibend sein, nützliche von unnützen und wichtige von unwichtigen In­for­ma­tio­nen zu un­ter­schei­den.

„Wenn wir im Netz oder am Handy nach In­for­ma­tio­nen und Antworten suchen, werden Urinstinkte mobilisiert.“

Um sich im Dschungel des Internets zurechtzufinden, halten sich die meisten Benutzer an Such­maschinen­ergeb­nisse. Doch deren Qualität ist durchaus zweifelhaft, da sie dem „Matthäus-Effekt“ unterliegen. Im Matthäus-Evan­gelium heißt es: „Denn wer da hat, dem wird gegeben werden, dass er Fülle habe; wer aber nicht hat, von dem wird auch noch genommen, was er hat.“ Bei den Google-Ergeb­nis­sen etwa rangieren diejenigen Seiten oben, auf die die meisten und populärsten Links verweisen. In­folgedessen surfen noch mehr Benutzer auf diese Seiten, wodurch ihre Popularität immer weiter wächst.

„Such­maschi­nen greifen nicht nur auf den Text zu, sondern auch auf die, die nach ihm suchen.“

Wir suchen In­for­ma­tio­nen nach den gleichen unbewussten Mustern, nach denen die Menschen früher nach Nahrung gejagt haben. Es gibt dafür zwei grundle­gende Strategien: Bietet ein Ort reichlich Nahrung, verbleiben die Lebewesen dort. Ist die Nahrung hingegen verstreut, so streunt der Jäger suchend von einem Ort zum anderen. Ein Grundgesetz der Nahrungssuche lautet, nicht mehr Energie zu verbrauchen, als einem durch die Beute zufällt. Analog verhalten sich die meisten Nutzer auch im Internet: Finden sie keinen Ort, der sie zufrieden stellt, so streunen sie suchend umher und sind ständig gefordert, die In­for­ma­tio­nen zu sortieren.

„Wann immer für ein paar Stunden Daten­leitun­gen oder für ein paar Minuten Google nicht erreichbar sind, melden Blogger Symptome, die an Nahrungsentzug erinnern.“

Mit der Entwicklung immer neuerer Kom­mu­nika­tion­stech­nolo­gien übertrumpfen die digitalen In­for­ma­tio­nen die aus der wirklichen Welt. Manche Nutzer erleiden bereits irrationale Panikat­tacken, wenn sie bestimmte Seiten nicht erreichen können oder gar die In­ter­netverbindung gestört ist. Findet der Nutzer die gesuchte Information, so schüttet das Gehirn das Glückshormon Dopamin aus, was zur Sucht führen kann. Verzettelt er sich jedoch und lässt sich in der virtuellen Welt herumtreiben, so kann dies zu Aufmerk­samkeits­de­fiz­it­syn­dromen oder kognitiven Zwangsstörungen führen. In dieser Lage verliert der Nutzer zusehends die Un­ter­schei­dungsfähigkeit zwischen wichtig und unwichtig. Macht aber nichts: Die In­ter­net-Soft­ware nimmt ihm zukünftig auch diesen Schritt ab. Sie wird seine Gedanken, As­sozi­a­tio­nen und Bedürfnisse vorhersehen und ihn mit den passenden In­for­ma­tio­nen versorgen.

Der Übergang vom Hirn zum Computer

Die derzeitige Nähe des men­schlichen Be­wusst­seins zu Computer und Internet fördert eine Angleichung beider Systeme: Computer lernen, wenn auch auf math­e­ma­tis­cher Basis, Gefühle zu entschlüsseln, und das menschliche Bewusstsein orientiert sich immer mehr am künstlich erzeugten Denken des Computers. Zwar wurde der menschliche Körper schon im In­dus­triezeital­ter mit einer Maschine verglichen, nicht aber das Denken selbst. Geistige Prozesse mit denen einer Maschine zu vergleichen, kam bis Mitte des letzten Jahrhun­derts einer Schreck­ensvorstel­lung und Ketzerei gleich. Heute hingegen wird der Geist immer häufiger mit einem Com­put­er­pro­gramm verglichen und Gott als der große Pro­gram­mierer gesehen. Unser gesamtes Wissen wird com­put­er­isiert und in riesigen Datenbanken gespeichert. Selbst die Wis­senschaften ordnen sich der Com­put­er­isierung und den Soft­ware-Codes unter. In der Psychologie und in den Kog­ni­tion­swis­senschaften werden menschliche Test­per­so­nen teilweise überflüssig. Die bittere Konsequenz: Was es in der Com­put­er­welt nicht gibt, gibt es auch draußen nicht.

„Während wir die Un­ter­schei­dungsfähigkeit verlieren, versuchen Soft­warein­ge­nieure auf der ganzen Welt, sie den Maschinen beizubrin­gen.“

Bei Gegenständen, die Sie zur Hand haben, können Sie ziemlich genau bewerten, ob sie Ihnen nützlich sind. Bei virtuellen In­for­ma­tio­nen ist das nicht so einfach. Es ist ein Teufel­skreis: Je mehr In­for­ma­tio­nen auf den Nutzer einströmen, desto mehr ermüden sie ihn und desto weniger ist er in der Lage, sie einzuordnen. So steht eine Menge zerstückelter In­for­ma­tio­nen nebeneinan­der. Zugleich wird der Nutzer von der Angst getrieben, eine wichtige Information zu versäumen.

Nutzen Sie Ihre men­schlichen Anlagen

Die Stärke des Menschen liegt darin, über routinemäßiges Funk­tion­ieren hinaus Fantasie zu entwickeln, kreativ zu sein und auf das Unerwartete reagieren zu können. Dies ist gle­ichzeitig die Schwach­stelle des Computers.

„Der Ver­men­schlichung der Maschinen entspricht die Com­put­er­isierung des Menschen.“

Durch den häufigen Umgang mit dem Computer besteht allerdings die Gefahr der Angleichung: So könnte es Ihnen vermehrt um die Kontrolle aller Lebensumstände gehen, anstatt Ihre menschliche Stärke, die Unabwägbarkeiten des Lebens selbstständig und souverän zu meistern, auszubauen. Schon länger werden Arbeiten von Schülern und Studenten com­put­ergestützt bewertet. Das führt dazu, dass Inhalte und Leistungen den Möglichkeiten der Computer angepasst werden.

„Was nicht ins Innere des Rech­n­er­hirns wandert, gibt es nicht und schließt sich aus der Gesellschaft aus.“

Auch In­ter­netjour­nal­is­ten unterwerfen sich den Gesetzen der digitalen Welt: Neue In­for­ma­tio­nen müssen an den Anfang des Textes, und bestimmte Schlüsselwörter müssen vorkommen, um den Such­maschi­nen und dem Programm, das Werbung einblendet, möglichst präzise Daten zu liefern. Durch diese Mechanismen wird die Information von der denkenden Aufmerk­samkeit des Menschen abgekoppelt und dem Zweck der raschen Ver­w­ert­barkeit unterworfen.

„Reichtum – und zwar materieller wie seelischer Reichtum – in der gegenwärtigen Welt zeigt sich daran, wie viel Geld man investieren kann, um Ablenkungen von sich fernzuhal­ten.“

Bieten Sie der Gefahr, Ihre Persönlichkeit durch die häufige Com­put­er­be­nutzung zu reduzieren, Paroli. Betrachten Sie In­for­ma­tio­nen nicht als absolut, sondern als Möglichkeiten, und gehen Sie flexibel und kreativ mit ihnen um. Haben Sie den Mut, Leistungen und Vorgänge offener zu betrachten als aus der Perspektive des al­lum­fassenden Gottes Computer.

Computer können In­for­ma­tio­nen viel besser speichern als Sie. Die dadurch frei werdende Energie und Zeit sollten Sie darauf verwenden, die In­for­ma­tio­nen zu as­sim­i­lieren, zu überdenken, in Zusammenhänge einzuordnen und mit Ihrem bestehenden Wissen zu verknüpfen. Befreien Sie sich vom Korsett der alten Lern­meth­o­den, Wissen eindi­men­sional von einem Sender zu empfangen und zu horten. Orientieren Sie sich an der Methode des informellen Lernens. Gewinnen Sie die Kontrolle über Ihre Aufmerk­samkeit zurück und lernen Sie, die richtigen Fragen zu stellen.

Über den Autor

Frank Schirrma­cher ist Mither­aus­ge­ber der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Seine Bücher, darunter Das Methusalem-Kom­plott, wurden vielfach aus­geze­ich­net.