Der Einkauf in der Krise
Auch wenn in wirtschaftlichen Krisenzeiten niemand so recht über die Zukunft der Beschaffung und des Einkaufs nachdenken mag, ist gerade dann vorausschauendes Handeln immens wichtig. Alle Krisen der vergangenen Jahrzehnte hielten Lektionen für das Beschaffungsmanagement parat. Die Ölkrise von 1973 beispielsweise führte den Verantwortlichen in Wirtschaft und Politik deutlich vor Augen, wie gefährlich es ist, sich von einem Rohstoff und von wenigen Lieferanten abhängig zu machen. Die Reaktion: Man suchte und fand Alternativen und verschärfte das eigene Risikomanagement. In den vergangenen zehn Jahren gab es so viele Veränderungen in der Weltwirtschaft, dass es nur innovativen und flexiblen Unternehmen gelang, sich anzupassen. Wechselnde Handelsbündnisse, die Vernetzung der Welt, Beschaffung über das Internet, verändertes Verbraucherverhalten, demografischer Wandel und fragmentierte Märkte beeinflussen die Wirtschaft. Der Einkauf muss schnell reagieren, sonst hat das Unternehmen das Nachsehen. Unternehmen brauchen Frühwarnsysteme, die Trends analysieren und rechtzeitig Alarm schlagen, wenn sich tief greifende Veränderungen ankündigen.
The trend is your friend!
Trendforscher sind die modernen Orakel, die uns einen Blick in die Zukunft gestatten und darüber Auskunft geben, wie sich Wirtschaft, Gesellschaft und Politik verändern. Während sich die Zukunftsforschung mit Entwicklungen der fernen Zukunft beschäftigt, spüren die Trendforscher Entwicklungen nach, die sich bereits heute abzeichnen und in der nahen Zukunft Wirklichkeit werden. Besonders wichtig sind hierbei die so genannten Megatrends, die tief greifende und langfristige Umwälzungen in Wirtschaft, Gesellschaft und Technik nach sich ziehen. Dazu zählen etwa die Globalisierung und der demografische Wandel. Trends in unterschiedlichen Lebensbereichen haben verschiedene Auswirkungen auf den Einkauf der Zukunft. Nachfolgend werden einige wichtige Trends und ihre Konsequenzen fürs Beschaffungsmanagement beschrieben.
Gesellschaftliche Trends
Der demografische Wandel wird bereits seit vielen Jahren diskutiert. Der Umstand, dass in den Industriegesellschaften die Menschen immer älter werden, weniger Kinder bekommen und in der Folge die Gesellschaft überaltert, beeinflusst alle Lebensbereiche: Sozial- und Gesundheitssystem, Konsumverhalten, Personalstruktur usw. Die neuen Senioren, von Werbeleuten gerne „Generation 50plus“ oder „Best Ager“ genannt, sind gesünder als ihre Eltern und Großeltern. Sie wollen das Leben im Alter in vollen Zügen genießen und kaufen gerne und mit hohen Ansprüchen an die Qualität. Für den Einkauf bedeutet das: Neue Produkte und Warengruppen erschließen, die das Leben im Alter erleichtern, z. B. indem neue Materialien für Verpackungen verwendet werden, die leichter zu öffnen sind. Komfortmerkmale wie z. B. Rückfahrkameras in Autos spielen für Senioren ebenfalls eine große Rolle. Der Einkauf muss für solche Neuerungen stets eng mit der Entwicklungsabteilung zusammenarbeiten – vermutlich haben Hersteller von Mittelklassewagen bisher kaum Zulieferer aus dem Bereich der Kameratechnik in ihrem Einkaufsportfolio.
„Nur wer heute bereits aktiv über Zukunft nachdenkt, kann seine unternehmerische Zukunft gestalten und sich wertorientiert aufstellen.“
Nischenbildung ist ein weiterer gesellschaftlicher Trend. Die Märkte werden immer diffuser, gleichzeitig legen viele Konsumenten großen Wert auf Individualisierung und Nachhaltigkeit. Der Einkauf muss sich deshalb um nachhaltige Rohstoffe kümmern, kleinere, dafür aufwändigere Verpackungen einkalkulieren, kleinere Chargen, schnellere Produktzyklen und ein komplexeres Warengruppenmanagement unter einen Hut bringen.
„Bis 2020 werden neue geopolitische, gesellschaftliche sowie technische Umbrüche Unternehmen vor neue Aufgaben stellen.“
Wenn die eingekauften Produkte immer differenzierter werden, verlangt das nach einer größeren Anzahl verlässlicher Lieferanten. Globales Sourcing in Billiglohnländern wird entsprechend kostspieliger, zum einen, weil die Lieferanten mit neuen Verträgen ans Unternehmen gebunden werden müssen, und zum anderen, weil Backsourcing, d. h. die Wiedereingliederung bereits ausgelagerter Funktionen, nötig werden kann. Letzteres, da auch im Ausland die Preise anziehen und zusammen mit den höheren Kommunikations- und Logistikkosten die Kosten der heimischen Produktion womöglich übersteigen. Beim Outsourcing wird es zukünftig stärker um die Produktion im Ausland und damit auch um den Rohstoffeinkauf vor Ort gehen. Das bedeutet, dass eine eigene Einkaufsabteilung vor Ort eingerichtet werden muss, mit allem, was dafür notwendig ist: interkulturelles Know-how, einheimische Mitarbeiter usw.
Marktwirtschaftliche und politische Trends
Noch dominieren die westlichen Staaten den Welthandel, aber das kann mittelfristig ganz anders aussehen. Mit der wachsenden wirtschaftlichen Potenz von Russland, China und Indien wachsen in Europa und Amerika die Tendenzen, sich abzuschotten und Protektionismus zu betreiben ebenfalls. Abschottung könnten zukünftig aber auch diejenigen Staaten betreiben, die heute noch als Lieferanten für Rohstoffe dienen. Einkäufer müssen also damit rechnen, dass vermeintlich verlässliche Beschaffungsquellen jederzeit wegbrechen können. Klug ist, wer eine Beschaffungsstrategie mit unterschiedlichen Quellen in verschiedenen Ländern verfolgt. Während der überregionale Protektionismus als Gefahr erkennt werden sollte, bleibt die fortschreitende Liberalisierung innerhalb der Regionen eine große Erleichterung für den Einkauf.
„Megatrends sind globale Veränderungen in Gesellschaft, Wirtschaft und Technik.“
Länderübergreifende Vereinbarungen zwischen vielen Staaten und Regionen weichen immer öfter bilateralen Abkommen. Das macht es dem Einkäufer schwer, die politische und wirtschaftliche Stabilität von Rohstofflieferanten einzuschätzen. Außerdem bedeutet dies, dass Unternehmen sich häufiger in einem rechtlich unsicheren Rahmen bewegen müssen. Fest steht: Globales Sourcing wird immer komplexer, und der Einkäufer muss sich fortlaufend über aktuelle Entwicklungen auf dem Laufenden halten. Die globale Vernetzung wird es im Jahr 2020 ermöglichen, Informationen über Bonität und Liefertreue von weltweiten Partnern viel einfacher als heute abzurufen und entsprechende Transaktionen zu starten. Die Preise werden auf diesem immer transparenter werdenden Markt flexibel auf Angebot und Nachfrage reagieren. Der Preis für Energie wird steigen, denn die Energieträger sind endlich und ballen sich in wenigen Händen. Die Suche nach Alternativen wird den Einkauf immer stärker herausfordern.
Trends in Ökologie und Technik
Starker Temperaturanstieg, Erwärmung der Meere, Nahrungsmittelknappheit, Hungersnöte, Häufung von Naturkatastrophen: Diese Schlagwörter werden mit dem Megatrend Klimawandel verknüpft. Dieser beeinflusst alle Lebensbereiche – und damit natürlich auch den Einkauf. In vielen Unternehmen gibt es so etwas wie „Green Procurement“ noch nicht, was sich aber bis 2020 ändern könnte. Denn die Verwendung von Öko-Rohstoffen wird nicht nur aufgrund von gesetzlichen Regelungen, sondern vor allem auch aufgrund von Kundendruck und von handfesten Kostenvorteilen schon bald zum normalen Geschäft der Einkäufer gehören.
„Der Kampf um Energie und knappe Rohstoffe gewinnt an Fahrt.“
Neue Technologien haben ebenfalls großen Einfluss auf den Einkauf. Ein Beispiel der Logistik: Früher verschwanden Rohstoffe, die den Hafen eines Exportlandes verließen, erstmal in einer Art Blackbox. Man wusste nicht genau, wo sie steckten, ob Stürme das Schiff aufhielten oder Streiks die Auslieferung verhinderten. Heute weiß man viel mehr über den jeweiligen Verbleib der Waren, weil sie mit winzigen Radiofrequenzchips (RFID) ausgestattet werden können, die jederzeit funken, wo sie sich gerade befinden. Die Miniaturisierung macht’s möglich, führt aber auch dazu, dass die Informationsströme immer komplexer werden.
„Global Sourcing – das Beschaffen von Waren und Dienstleistungen auf den internationalen Märkten – ist längst Realität in der deutschen Wirtschaft.“
Der Einkäufer von morgen muss mit den neuen Technologien umgehen, sie bedienen, auswerten und einschätzen können. Viele Produkte – vom PC bis zum Automobil – werden heute individuell nach Kundenwunsch gefertigt. Massenproduktion ist passé. Stattdessen sind individuelle Komponenten und Einzelteile notwendig, deren Lieferlogistik permanent überwacht werden muss. Im Bereich Anbindung, Steuerung und Kostenmanagement von Lieferanten liegen deshalb umfangreiche Aufgaben für den Einkäufer. Das bedeutet, dass die Unternehmen mit entsprechenden Personalstrategien die besten Köpfe finden und an sich binden müssen. In einer Wirtschaftskrise spricht kaum jemand von Mitarbeiterbindung – aber das kann sich nach dem Start des Aufschwungs schnell wieder ändern. Wer dann seine fähigsten Köpfe verloren hat, guckt in die Röhre.
Wie Sie Ihre eigenen Beschaffungsprognosen erstellen
Globale Trends sind das eine, Prognosen für Ihren individuellen Beschaffungsmarkt etwas anderes. Sie sollten darum eine eigene Trendmatrix für Ihren Markt erstellen. Dafür sind mehrere Schritte notwendig:
- Sammeln Sie Daten zu allgemeinen Rahmenbedingungen, zur Lieferanten-, Kunden- und Wettbewerbsstruktur in Ihrem Unternehmen und in Ihrer Branche. Die Quelle hierfür sind Interviews und Fragebögen, die Sie an Ihre Einkäufer und an die Mitarbeiter in Vertrieb, Marketing und Produktion verteilen.
- Nehmen Sie Ihre Einkaufsabteilung genau unter die Lupe und untersuchen Sie, wo die Stärken und Schwächen Ihres Unternehmens liegen, beispielsweise im Bereich Warengruppenmanagement, Lieferanten, Global Sourcing oder Risikomanagement.
- Tragen Sie die Ergebnisse der Analysen in eine Trendmatrix ein, gewichten Sie die Relevanz der einzelnen Trends und stellen Sie Beziehungen zwischen ihnen her.
- Erörtern Sie im Rahmen eines Workshops, wie wichtig diese Entwicklungen für Sie sein könnten und wie Sie angemessen darauf reagieren.
- Schließlich entwickeln Sie mögliche Zukunftsszenarien und leiten Sie daraus Handlungsanweisungen ab.
Vier Megatrends für das Jahr 2020
Die Herausforderungen, mit denen sich die Mitarbeiter im Einkauf bis ins Jahr 2020 konfrontiert sehen, lassen sich zu vier Megatrends verdichten:
- Der Einkauf übernimmt eine neue Steuerungsfunktion im Unternehmen. Es wird nicht mehr nur darum gehen, möglichst günstige Lieferanten für fixe Produkte zu finden, sondern auch darum, Innovationen bei Lieferanten oder sogar innerhalb der gesamten Lieferkette aufzuspüren sowie neuartige Produkte und Werkstoffe zu entdecken. Das führt zu Impulsen für die Produktion und die interne Produktentwicklung. Vielleicht werden sich viele Unternehmen deshalb von einer absatzzentrierten zu einer ressourcenzentrierten Sichtweise umorientieren.
- Die Beschaffung der Zukunft ist nachhaltig. Das bedeutet, dass die sich heute bereits abzeichnenden Trends, ethisch und umweltgerecht zu produzieren, in der Zukunft zu Muss-Kriterien für Beschaffungsvorgänge werden. Einkäufer werden zu Umweltmanagern ihrer Unternehmen und werden ständig auf der Suche nach neuen Öko-(Vor-)Produkten sein.
- Der Kampf um Talente geht in eine neue Runde. Gute Mitarbeiter wachsen nicht auf Bäumen. Sie müssen zukünftig systematisch angeworben und in regelrechten Talentpools entwickelt werden.
- Der Kampf um Energie und Ressourcen verschärft sich. Produktion benötigt Energie und Rohstoffe. Beides wird immer knapper. Einkäufer werden sich zukünftig auch darum kümmern müssen, das Unternehmen mit günstiger Energie, Mineralien oder z. B. Bio-Rohstoffen zu versorgen.